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2.10 Musik und Architektur WDR.doc


Rudolf Frisius

MUSIK UND ARCHITEKTUR

(normale Schriftart Times New Roman: vom Autor gelesener Text

Absätze in Kursiv, Fett oder Kursiv-Fett: andere Sprecher)

ZUSPIELUNG: Musikausschnitt von Xenakis

mit Kommentar Pierre Schaeffer:

C´est la musique d´un architecte.

(Solfège)

"Das ist die Musik eines Architekten":

Mit diesen Worten wird Musik von Iannis Xenakis kommentiert.

Tatsächlich ist der 1922 geborene Grieche Iannis Xenakis ein Künstler,

der in seiner Arbeit sowohl die Musik als auch die Architektur grundlegend verändert hat.

So erklärt es sich, daß er in beiden Bereichen neue Fragen aufgeworfen hat.

Wenn Pierre Schaeffer, der französische Radiopionier, Klangforscher und Komponist,

die Musik von Xenakis als "Musik eines Architekten" bezeichnet,

dann verweist dieses womöglich zweideutige Kompliment auf die Schwierigkeit

neue Beziehungen zwischen Musik und Architektur im 20. Jahrhundert zu begründen.

Man könnte fragen:

Warum hat Schaeffer den Urheber eines Musikausschnittes, den er vorspielt und kommentiert,

nicht als Komponisten apostrophiert, sondern als Architekten?

Wollte Schaeffer anerkennen, daß der Autor dieser Musik

auch in anderen Kunstbereichen seine Fähigkeiten unter Beweis gestellt hat?

Oder wollte er Zweifel daran anmelden,

ob diese Musik wirklich mehr ist als eine in Noten verwandelte Architekturskizze ,

ob die Komposition wirklich aus dem Geiste der Musik erfunden ist?

Ist ein Architekt, der auch Musik zu produzieren vermag,

ein lobenswertes Beispiel eines universellen Künstlers -

oder ist er der Gefahr ausgesetzt,

sein eigenes Metier allzu unreflektiert auf ein ihm eigentlich fremdes Medium zu übertragen?

Musik und Architektur sind Disziplinen,

die sich in ihren Grundstrukturen der ästhetischen Wahrnehmung und der künstlerischen Erfindung

wesentlich voneinander unterscheiden:

Musik als Zeitkunst - Architektur als Raumkunst.

Wenn ein Künstler wie Iannis Xenakis in beiden Bereichen schöpferisch tätig gewesen ist,

dann stellt sich die Frage, ob und inwieweit

er den unterschiedlichen Bedingungen einer Zeitkunst und einer Raumkunst

gerecht zu werden vermag:

Läßt die Musik eines Architekten sich als in einen Zeitverlauf verwandelte Architektur wahrnehmen -

als Architektur, die das räumlich Gleichzeitige gleichsam umklappt

aus der Vertikale des Simultaten in die Horizontale des Sukzessiven?

Läßt sich eine solche, architektonischem Denken verbundene Musik

intepretieren als verflüssigte, in die verfließende Zeit hineingeworfene Architektur?

ZUSPIELUNG: Xenakis, Achorripsis Anfang

Musik als verzeitlichte Architektur - Architektur als verräumlichte Musik:

Beide Aspekte ergänzen einander und verweisen darauf,

wie sich in unserer Wahrnehmung Reales und Fiktives miteinander verbinden können -

und wie wichtig es andererseits ist,

das Werk selbst vom Vorgang seiner Wahrnehmung zu unterscheiden:

Ein konventionelles Bauwerk,

das statisch konzipiert ist und entsprechend wahrgenommen wird,

präsentiert sich - als Ganzes und im Miteinander seiner Teile -

im Idealfall als rein räumliches, der Zeit enthobenes Objekt.

Man denkt nicht daran, daß jeder Beobachter

eine gewisse Zeit braucht, um die Architektur differenziert wahrzunehmen;

denn diese Zeit ist objektiv nicht vorbestimmt, sie kann von Betrachter zu Betrachter verschieden sein.

Man denkt auch nicht daran, daß das an einen Zeitverlauf gebundene Hören von Musik

sich nachträglich in eine quasi-räumliche Empfindung verwandeln kann -

z. B. in statischen Klangbildern, die sich nachträglich in der Erinnerung bilden,

wenn die zuvor gehörten Klänge in wesentlichen Markmalen unveränderlich, unbeweglich bleiben

oder wenn sie in ihren Abfolgen gleichsam ein festes, unveränderbar bleibendes Klangbild abstecken.

Statische Klanggebilde wirken auf den Wahrnehmenden womöglich wie starre Flächen -

oder auch auch wie eine homogene, z. B. rauhe und poröse Wandstruktur.

ZUSPIELUNG: Xenakis, Concret PH.

Beziehungen zwischen Musik und Architektur ergeben sich in vielen verschiedenen Zusammenhängen

und in teilweise höchst unterschiedlichen Erscheinungsformen.

Selbst Iannis Xenakis, der komponierende Architekt und architektonische tätige Komponist,

hat in vielen höchst unterschiedlichen Arbeiten deutlich gemacht,

daß beide Bereiche, Musik und Architektur,

höchst unterschiedlich strukturiert und womöglich aufeinander bezogen werden können -

und dies selbst dann, wenn Xenakis Musik komponiert,

die in ihrer eigentlichen Konzeption über das Hörbare hinausweist:

Musik, die der Komponist eigentlich für multimedials Zwecke bestimmt hat -

zur Verbindung der Klänge mit vom Komponisten selbst konzipierten

visuellen Gestaltungen des Lichtes und der Architektur.

Es gibt wichtige Musikbeispiele von Xenakis, die schon in ihrem Klangbild erkennen lassen,

daß ihre Konzeption eigentlich über die Grenzen der Musik hinausstrebt

in den Bereich eines technisch geprägten interdisziplinären Projektes,

womöglich sogar eines Gesamtkunstwerkes neuer Art.

ZUSPIELUNG: Xenakis, La Légende d´Eer

Iannis Xenakis hat in manchen Werken die Isolierungen einzelner Künste,

z. B. der Musik und der Architektur, aufgebrochen

und verschiedene Wahrnehmungsbereiche, Hörbares und Sichtbares,

nach übergeordneten abstrakten Strukturprinzipien künstlerisch gestaltet.

So wurde er zu einem der wichtigsten interdisziplinär arbeitenden Künstler im 20. Jahrhundert -

insbesondere zu dem wohl wichtigstern Erfinder

neuer Integrationsmöglichkeiten zwischen Musik und Architektur.

Über seine Musik sind wir allerdings in vielen Fällen genauer informiert als über seine Architektur;

denn viele seiner visuellen Arbeiten, vor allem viele seiner architektonischen Werke,

haben sich nicht dauerhaft erhalten und sind nicht mehr oder nur noch fragmentarisch zugänglich

(z. B. in verbalen Beschreibungen, in Skizzen oder Photos, in Film- oder Videoaufzeichnungen).

Wann immer uns Bilder oder Filme solcher interdisziplinären Projekte zugänglich sind,

können wir feststelen, daß Xenakis bei der Komposition von Hörbarem und Sichtbarem

tautologische Verdopplungen stets vermeidet:

Bei ihm kann man weder vom Klangbild der Musik auf deren optische Inszenierung schließen

noch umgekehrt von Lichtstrukturierungen oder architektonischen Formen

auf das klangliche Erscheinungsbild der Musik.

Hörbares und Sichtbares bleiben bei Xenakis weitgehend autonom.

Dies kann so weit gehen, daß dieselbe Musik ganz unterschiedlich präsentiert werden kann -

sei es audiovisuell, in Verbindung mit komponierten Lichtwechseln,

in einer eigens für diese Musik gebauten Architektur zur Projektion von Klang und Licht;

sei es als reines Hörereignis -

z. B. als Musik unsichtbarer Klänge, die aus Lautsprechern kommen.

ZUSPIELUNG: La Légende d´Eer

Neue Musik und neue Architektur können sich artikulieren

als Manifestationen übergeordneter Gestaltungsprinzipien,

die in verschiedenen Wahrnehmungsbereichen unterschiedlich ausgeformt werden.

Dabei können musikalische und visuelle (z. B. architektonische) Gestaltung

sich kontrapunktisch miteinander verbinden.

Dies versucht Iannis Xenakis seit den späten 1960er Jahren

in verschiedenen audiovisuellen Projekten, die er "Polytype" nennt.

Auch in diesen Projekten bleiben Hörbares und Sichtbares so stark selbständig gegeneinander,

daß auch die Musik allein ohne weiteres als autonomes Hörereignis rezipiert werden kann,

gleichsam in (quasi-)konzertanter Reduktion.

ZUSPIELUNG: Polytype de Montréal oder evtl. Persepolis oder evtl. Polytope de Cluny

Beziehungen zwischen Musik und Architektur

haben sich in weiträumigen Traditionszusammenhängen entwickelt.

Selbständige Kopplungen beider Bereiche, wie sie etwa Iannis Xenakis realisiert,

spielen vor allem in avancierter Kunst des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle.

In diesem Jahrhundert gibt es aber auch Beispiele dafür,

daß ältere Traditionen im Miteinander von Musik und Architektur

weiter fortbestehen und sich weiter entwickelt haben.

ZUSPIELUNG: Rihm, Maximum est unum

In dem begin

ho uber sin

ist ie daz wort.

o richer hort,

da ie begin begin gebar!

(o vader brust,

uz der mit lust

das wort ie vloz!

doch hat der schoz

daz wort behalden, daz ist war.)

In dem Beginn

hoch über (alles) Begreifen

ist das Wort.

O reicher Hort,

da stets Beginn Beginn gebar!

(O Vaterbrust,

aus der mit Lust

das Wort stets floß!

Doch hat der Schoß

das Wort behalten, das ist wahrlich so.)

Mit diesen Worten beginnt eine 1996 enstandene Komposition von Wolfgang Rihm -

ein Beispiel für eine enge, aus der Tradition wohlbekannte

Verbindung zwischen Musik und Architektur:

Das Werk war bestimmt zur Uraufführung im Freiburger Münster,

wo es 1996 auf dem 71. Bachfest zum ersten Mal erklungen ist. -

Diese geistliche Musik beginnt mit einem mittelalterlichen mystischen Text.

Der großformale Ablauf ergibt sich aus der mehrfachen Kontrastierung unterschiedlicher Textblöcke:

Mittelhochdeutsche Texte, die dem Altsolo übertragen sind,

wechseln mit lateinischen theologischen Texten, die der Chor singt -

zum Beispiel die drei Wörter des Titels:

Maximum est unum.

Das Größte ist Eins.

ZUSPIELUNG: Maximum est unum

Chor-Abschnitt mit Text "Maximum est unum": 2. Chorabschnitt

Dem alten Kirchenraum entspricht Rihms Musik

nicht nur in der Auswahl und quasi-archaisierenden Vertonung ihrer Texte,

sondern auch in ihrer räumlichen Disposition.

Am deutlichsten wird dies in einigen Anweisungen zur Aufstellung der Interpreten.

Dort heißt es unter anderem:

4 Soprane 4 Flöten und 3 Trompeten befinden sich an separatem Ort,

etwa auf einer Empore (Orgel)

oder auch auf einem Podest über den übrigen Ausführenden,

seitlich, am besten im Rücken der Hörer...

ZUSPIELUNG: Maximum est unum, Ausschnitt mit räumlich separierter Gruppe

(4 Soprane, 4 Flöten, 3 Trompeten)

Wolfgang Rihms Komposition ist ein sinnfälliges Beispiel für ein Musikstück,

in dem eine enge Beziehung zwischen Musik und Architektur

sich als Koordination von Musik und Aufführungsort konkretisiert:

Diese Musik ist für konkrete Aufführungsbedingungen

und für einen konkreten Aufführungsort geschrieben.

Erstaunlich ist allenfalls, daß Rihm unter diesen Bedingungen gleichwohl

verschiedene Alternativen für die Aufstellung zur Wahl stellt.

Dies gilt auch für Aufstellung und sogar Besetzung der beiden Chöre.

Im Vorwort der Partitur heißt es:

Der kleine Chor (mindestens 4-6 Sänger pro Stimme)

sollte vom großen Chor umgeben sein, also aus dessen Mitte singen;

es ist auch möglich, zwei gleichgroße gemischte Chöre einzusetzen (also Chor I und II),

in diesem Fall empfiehlt sich eine getrennt Aufstellung, z. B. gegenüber.

ZUSPIELUNG: Maximum est unum, Anfang 1. Chorpassage: Deus... simplex

Beziehungen zwischen Musik und Architektur können sich

auf durchaus unterschiedlichen Ebenen konkretisieren.

Relativ einfach verifizieren lassen sie sich oft dann,

wenn ein Musiker an die Architektur eines Aufführungsortes denkt.

In diesem Falle erscheint ihm die Architektur

sei es als Mittel zum Zweck einer adäquaten Aufführung,

sei es - wenn er diese Not zur Tugend macht -

als Inspirationsquelle für die musikalische Erfindung,

die sich beispielsweise auf einen großen, halligen Raum

im Wechsel klar konturierter großer Klangblöcke einstellt. -

Musikwerke, die eigens für bestimmte Räumlichkeiten,

z. B. für große Kirchenräume geschrieben werden,

gibt es schon seit vielen Jahrhunderten.

Auch im 20. Jahrhundert finden sich viele Beispiele

für die Weiterentwicklung architekturbezogener Musik.

In diesen Zusammenhang gehört ein 1964 entstandenes Orchesterwerk von Olivier Messiaen,

das am 7. Mai 1965 in der durch ihre farbenreichen Glasfenster berühmten

Pariser Sainte-Chapelle uraufgeführt worden ist.

Die Komposition, die 20 Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkrieges zur Uraufführung kam,

entstand im Auftrag des französischen Staates zur Erinnerung an die Opfer dieses Krieges.

Der Titel des Werkes ist:

Et exspecto resurrectionem mortuorum.

Und ich erwarte die Auferstehung der Toten.

Im Vorwort der Partitur schreibt der Komponist:

Seine Besetzung bestimmt das Werk für große Räume:

Kirchen, Kathedralen und sogar die freie Natur und das Gebirge.

ZUSPIELUNG: Messiaen: Et exspecto resurrectionem mortuorum, 1. Satz 2´52

The Cleveland Orchestra, Pierre Boulez; DG 445 827-2

Messiaens Musik der Erinnerung an die Toten

evoziert Assoziationen, die zurückführen in längst vergangene Jahrhunderte -

und dies nicht nur in der Architektur, sondern auch in der Musik:

In neuartigen Färbungen der Melodielinien, Harmonien und instrumentalenKlangfarben

präsentiert Messiaen eine Musik,

die ursprünglich als einstimmige Gesang in mittelalterlichen Kathedralen erklungen ist -

z. B. ein gregorianisches Alleluja zur Ostermesse, zum Fest der Auferstehung.

ZUSPIELUNG: Messiaen, Et exspecto. Verarbeitung einer gregorianischen Melodie

(z. B. 2. Satz 2. Teil oder 4. Satz Anfang - evtl. im Zusammenschnitt: zuvor greg. Originalmelodie)

Musik und Architektur lassen sich sinnvoll aufeinander beziehen,

wenn ein Musikstück sich an den akustischen Bedingungen

eines traditionellen Bauwerks orientiert -

und wenn es dabei womöglich an älterer Musik anknüpft,

die ihrerseits für diese oder ähnliche architektonische Bedingungen geschaffen worden ist.

In solchen Fällen können sich neue Zusammenhänge

nicht nur zwischen Musik und Architektur,

sondern auch zwischen Musik und Geschichte erschließen -

z. B. in geistlicher Musik,

die ihre eigenen musikalischen und musikübergreifenden Traditionen reflektiert.

Kompliziertere Beziehungen zwischen Musik und Architektur können sich dann ergeben,

wenn ein Musiker weniger an spezielle Zusammenhänge zwischen Musik und Raumakustik,

sondern statt dessen eher an allgemeinere Aspekte architektonischer Erfindung denkt.

Dies tat beispielsweise Luigi Nono in einem Orchesterstück,

in dessen Titel er den Architekten Carlo Scarpa

und die unendliche Vielfalt seiner Gestaltungsmöglichkeiten nennt:

A CARLO SCARPA ARCHITETTO

AI SUOI INFINITI POSSIBILI

per orchestra a microintervalli

Der Titel dieser subtilen, aus vielfältigen Umfärbungen von nur zwei Tönen entwickelten MUsik

läßt erkennen,

daß Nono hier versucht hat,

künstlerisches Denken von einem künstlerischen Bereich auf einen anderen zu übertragen.

Wer allerdings die Arbeit dieses Architekten und den Titel des Musikstückes nicht kennt,

dürfte es, anders als etwa in einer für einen Kirchenraum bestimmten Musik,

schwer haben, Zusammenhänge zwischen Musik und Architektur herauszuhören.

Beide Künste können, wie an diesem Beispiel deutlich wird,

aufeinander bezogen sein auch in Zusammenhängen,

die sich der direkten Wahrnehmung zunächst entziehen -

in einer Musik, deren einzelne Töne in feinsten mikrointervallischen Abstufungen

gleichsam mikroskopiert werden,

ZUSPIELUNG: Nono, A Carlo Scarpa Architetto

Der Musikwissenschaftler Jürg Stenzl hat versucht,

die Spuren zu bestimmen,

die von der Orchestermusik des späten Luigi Nono

zur Architektur des verstorbenen Architekten Carlo Scarpa führen,

für dessen Gedächtnis diese Musik bestimmt ist.

Stenzl schreibt:

In Wirklichkeit ist A Carlo Sparpa

großbesetzte Ensemblemusik für solistisch eingesetzte Instrumente.

(...)

Carlo Scarpa hatte sich zwischen 1933 und 1947 in den venezianischen Glashütten von Murano

eine untrügliche Kenntnis der Möglichkeiten und Eigenschaften dieses Materials erworben,

die seinen Sinn für Licht- und Raumwirkungen schärften.

Diese Eigenschaften scheinen in Nonos Totenklage,

einer Art Kondukt, der auch an Gustav Mahler erinnert, Klang geworden:

Mit glockigen Metallklängen und extremen Registerkontrasten

beschwört A Carlo Scarpa auch die Tradition und Aura jener Stadt,

in der beide gemeinsam gelebt und gewirkt haben.

evtl. ZUSPIELUNG: A Carlo Scarpa (Glockige Metallklänge, Registerkontraste)

Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten für Beziehungen zwischen Musik und Architektur -

selbst dann, wenn man sich nur auf einzelne Aspekte beschränkt,

etwa auf Komponisten, die sich in ihren musikalischen Ideen

von Arbeitsweisen eines Architekten haben beeinflussen lassen.

Daß hierbei auch ganz andere Perspektiven sich ergeben können

als im Falle von Luigi Nono,

läßt sich zeigen am Beispiel eines anderen Komponisten aus derselben Generation:

Karlheinz Stockhausen:

Er dachte, anders als Luigi Nono,

weniger an das Beispiel eines prominenten zeitgenössichen Architekten,

sondern eher, ähnlich wie Olivier Messiaen,

an größere Zusammenhänge der Architektur aus verschiedenen Jahrhunderten und Kulturkreisen.

Statisch-architektonische Formen allerdings,

wie sie Stockhausen bei Messiaen und anderen französischen Komponisten annimmt,

entsprechen nicht seiner eigenen Vorstellung einer architektonisch inspirierten Musik:

Den statischen Bauformen der Musik, wie er sie in französischer Musik findet,

stellt er ein in der deutschen Musik verbreitetes prozeßhaftes Denken gegenüber -

ein Denken, das sich von architektonischen Gestaltungen dann anregen lassen kann,

wenn es sich nicht auf die fertigen architektonischen Wahrnehmung konzentriert,

sondern auf das prozeßhafte Erleben und Erschließen einer Architektur.

Stockhausen sagt:

evtl. als O-Ton:

Prozesse anzulegen, die mit dem Prinzip des Labyrinths zu tun haben,

fand ich schon immer sehr viel interessanter, als so gerade Straßen in Frankreich.

Da sehen Sie also die Champs Elysées und den Arc de Triomphe schon vom Palais Royal aus;

oder im Park von Versailles ist alles von ganz geometrischer Rationalität und Überschaubarkeit.

Prozesse haben viel Geheimnisvolles und Unerwartetes in sich.

In Frankreich dagegen ist meistens alles offensichtlich und aufeinander bezogen.

Mit dieser Bemerkung zielt Stockhausen nicht nur auf Musik seines Lehrers Olivier Messiaen,

sondern auch auf ältere französische Musik.

In diesem Zusammenhang erinnert er sich an eine Bemerkung,

die um 1950 Frank Martin, der erste Kompositionslehrer Stockhausens, gemacht hat:

evtl. als O-Ton:

Frank Martin hat mir erzählt, Debussy hätte ihm einmal gesagt!

"Wiederholen Sie einmal! Dann können Sie weiter gehen."

ZUSPIELUNG: Debussy, Jeux (Anfang)

Eine völlig neuartige, quasi-architektonisch statische Musik,

die sich weit von Vorbildernen früherer Jahrhunderte und auch der klassischen Moderne entfernt,

hat Stockhausen 1951 kennengelernt,

als er erstmal die internationalen Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik besuchte

und dort eine Klavieretüde von Messiaen hörte,

die zwei Jahre zuvor in Darmstadt entstanden war:

Mode de valeurs et d´intensités

Modus der Werte und der Intensitäten

ZUSPIELUNG: Messiaen, Mode de valeurs et d´intensités

Die Klavieretüde Messiaens, die Stockhausen und andere junge Komponisten

damals um 1950 stark beeindruckt hat

ist eine statische, aus übereinandergeschichteten Tonpunkten sich bildende Musik.

Wer dieses Stück wie eine klingende Architektur wahrnehmen will,

kann es auffassen wie eine homogene, ungegliederte Wandfläche.

Insofern weist diese Musik bereits voraus auf eine Komposition,

die der junge Stockhausen ebenfalls 1951 in Darmstadt kennengelernt hat:

Die "Sonate für zwei Klaviere" eines belgischen Komponisten,

des jungen Messiaen-Schülers Karel Goeyvaerts,

deren zweiten Satz Stockhausen zusammen mit Goeyvaerts

damals in einem Darmstädter Kompositionsseminar vorgespielt hatte,

(das, in Vertretung des erkrankten Arnold Schönberg, Theodor W. Adorno leitete).

Auch dieses Stück läßt sich ähnlich auffassen

wie eine homogene, ungegliederte architektonische Wandfläche

ZUSPIELUNG: Goeyvaerts, Sonate für zwei Klaviere, 2. Satz

Stockhausen hat später erzählt,

warum die statische Musik von Messiaen und Goeyvaerts

ihn einerseits interessiert, andererseits aber auch befremdet hat:

evtl. als O-Ton:

Die erste Begegnung mit einer mir damals sehr neuartig erscheinenden Musik,

nämlich der von Messiaen,

zeigte eigentlich statische Zustände -

zum Beispiel in der Komposition "Mode de valeurs et d´intensités,

die ich immer wieder zitiert habe und die mir eben durch Goeyvaerts erklärt worden ist.

(Das war einfach die Bedeutung dieses Messiaen-Schülers für mich,

daß er mir das gezeigt hat.)

Er hat mir sogleich klargemacht: Das ist eine ganz homogene, statische Welt.

Goeyvaerts vertrat ja auch insofern als höriger Messiaen-Schüler

ganz statische Konzeptionen.

Das hat in mir sofort eine starke Abneigung hervorgerufen,

weil ich überall um mich herum

Prozesse als das Wesentliche des Lebens beobachtet habe.

(Ich bin ja als Kind - vielleicht hat das auch etwas damit zu tun -

doch mehr im Wald aufgewachsen als irgendwo anders...)

Stockhausens Bemerkung über statische Formgestaltungen in der französischen Musik

bezieht sich nicht nur auf blockhaft einheitliche, sondern auch auf differenziert gegliederte Werke,

z. B. auf eine 1951 entstandene Orgelkomposition von Olivier Messiaen

mit dem Titel "Livre d´orgue".

Hier erscheinen die einzelnen Tonpunkte, von denen die Musik ausgeht,

in charakteristischen Gruppierungen und quasi-architektonischen Gliederungen.

ZUSPIELUNG: Livre d´orgue, Anfang (Permutationen von punktuellen Tongruppen)

Im "Livre d´orgue" kehrt Messiaen zu Gliederungsformen zurück,

die schon zuvor in seinen früheren Werken eine wichtige Rolle gespielt hatten

und für die auch sein bekanntester Schüler sich schon frühzeitig interessiert hatte:

Pierre Boulez.

In seinem 1946 entstandenen Klavierstück "Variations - Rondo"

gibt es eine quasi-architektonische Form,

in der an Anfang, Mitte und Ende, wie architektonische Pfeiler,

ein refrainartiges Hauptthema und zwei seiner Variationen zu hören sind,

während zwischen diesen drei Refrains,

wie verbindende Wandflächen, zwei Couplets erscheinen.

ZUSPIELUNG: Boulez: Variations - Rondo 1946 = 2. Klaviersonate 3. Satz.

Pollini DG

Statische Musik, die in ihren klaren Gliederungen

und in prägnanten Verwandtschaftsbeziehungen zwischen ihren verschiedenen Formteilen

gleichsam architektonisch geformt ist,

gibt es seit 1945 in vielen verschiedenen Ausprägungen.

Frühzeitig entwickelte sie sich nicht nur in instrumentaler Musik,

sondern auch in technisch produzierter Lautsprechermusik,

beispielsweise in frühen Produktionen der musique concrète von Pierre Schaeffer.

Ein besonders einfaches und sinnfälliges Beispiel

ist ein Satz aus einer 1949 entstandenen Komposition:

Suite Quatorze

Suite 14

Der Titel des Werkes erklärt sich daraus,

daß als Ausgangsmaterial Ausschnitte aus einer vorher entstandenen

Komposition für 14 Instrumente dienten,

durch Schnitt und Montage fragmentiert, klanglich verändert

und in neue Zusammenhänge eingeschmolzen wurden.

Einfache Gliederungen ergeben sich daraus,

daß kleine Fragmente aufgenommener Instrumentalmusik aneinandergereiht werden -

teilsweise in Paaren (wobei die augenommene Musik zunächst vorwärts, dann rückwärts erklingt),

wobei neben originalen Instrumentalaufnahmen auch

klangliche Verfremdungen durch Transpositionen aufwärts oder abwärts,

also Zeilraffer- und Zeitlupen-Effekte zu hören waren;

teilweise mit kontrastierenden Einschüben.

So ergibt sich eine insgesamt statische,

aber gleichwohl abwechslungsreiche und klar disponierte Musik

in Gliederungen, die wie eine musikalische Architektur in Erscheinung treten.

ZUSPIELUNG: Schaeffer, Suite 14: Gavotte - Vagotte

Statische, quasi-architektonische punktuelle Musik,

wie sie in den ersten Jahren nach 1945 vor allem französische Komponisten wie

Olivier Messiaen, Pierre Boulez, Karel Goeyvaerts und andere komponierten,

hat den jungen Stockhausen zunächst stark interessiert.

Aber schon das erste Werk Stockhausens, in dem punktuelle Tonstrukturen vorkommen,

zeigt zugleich unverkennbare Spuren prozeßhaften Denkens:

Das 1951 entstandene instrumentale Ensemblestück "Kreuzspiel".

ZUSPIELUNG: Kreuzspiel Schluß (oder evtl. Steigerung im Zentrum des 1. Teils)

Das vereinheitlichende, prozeßhafte Denken

hat Stockhausen schon in den frühen fünfziger Jahren dazu geführt,

die Komposition von Werken mit verschiedenen, voneinander abgetrennten Sätzen aufzugeben

und statt dessen auch in größeren Zusammenhängen einsätzige Formen zu komponieren.

Hierdurch unterschied er sich von Generationsgenossen wie Pierre Boulez und Luigi Nono,

die beispielsweise in Vokalwerken wie "Le Marteau sans Maitre" oder "Il Canto sospeso"

von mehreren, teilweise symmetrisch disponierten

und miteinander kontrastierenden Sätzen ausgingen.

evtl. ZUSPIELUNG: Zusammenschnitt Marteau, Canto sospeso (jeweils Satzwechsel)

Stockhausens prozeßhaftes Denken hat ihn

von statisch-architektonischen musikalischen Formgestaltungen weggeführt zu neuen Formideen.

So erklärt es sich, daß Beziehungen zwischen Musik und Architektur ihn seitdem

weniger unter traditionellen Aspekten fester Formschemata

als unter neueren Aspekten der Formgenese und des Rezeptionsprozesses interessiert haben.

Die erste in größeren Zeitdimensionen angelegte Komposition Stockhausens,

die sich ohne Abtrennungen verschiedener Sätze entwickelt,

ist das 1955-1957 komponierte Werk "Gruppen für drei Orchester".

Auffällig an diesem Werk ist, daß es neben klaren Gliederungen

auch groß angelegte prozeßhafte Entwicklungen gibt.

Dabei wird deutlich, daß,

über die aus der Tradition bekannten musikalischen Gestaltungsmittel hinaus,

auch die Verteilung der Klänge im Raum eine wichtige Rolle spielt:

Diese Musik verlangt nach der Architektur eines Aufführungsraumes,

in dem das Publikum deutlich mitverfolgen kann,

wie es rings von Klängen umgeben ist,

die beispielsweise als isolierte punktuelle Ereignisse beginnen,

sich mehr und mehr verdichten

und schließlich einmünden in den Raum umkreisenden Schwellakkorden.

ZUSPIELUNG: Gruppen: Blechbläserakkorde

Selbst dann, wenn Stockhausens Musik

für mehr oder weniger konventionelle Klangmittel geschrieben ist,

strebt sie häufig hinaus über tradierte Gestaltungsmittel und Präsentationsformen -

vor allem auch über traditionelle Konventionen der Aufführung in einem Konzertsaal,

in dem die Musiker frontal vor den Hörern auf einem Podium postiert sind.

Stockhausen versucht statt dessen, den Hörer in das Innere der Klänge hereinzuholen,

ihn einzubeziehen in prozeßhafte Veränderungen, selbst in Prozesse räumlicher Bewegung.

Die "Gruppen für drei Orchester" erklangen erstmals nicht in einem KOnzertsaal,

sondern in einer großen Messehalle.

Spätere Werke gaben sogar die Bindung an einzelnen Konzertsaal auf:

- 1968 realisierte Stockhausen auf den Darmstädter Ferienkursen

als Teamwork mit Angehörigen seines Kompositionskurses und mit verschiedenen Interpreten

eine "Musik für ein Hausen" mit simultanen, aber verschiedenen Klangereignissen

in verschiedenen Räumen.

- 1969 realisierte Stockhausen eine abendfüllende Veranstaltung in der Bonner Beethovenhalle

und Konzerte in den Felsgrotten von Jeita im Libanon.

- 1970 präsentierte Stockhausen mehrere Wochen lang

seine Musik auf einem neu erbauten Kugelauditorium auf der Weltausstellung in Osaka.

- 1971 schrieb Stockhausen die für Freiluftaufführungen bestimmte "Parkmusik"

- 1972 entstand ein musikszenisches Projekt für die Räume eines Hauses in Liège.

- 1975-1977 entstand das abendfüllende Werk "Sirius",

das häufig in Planetarien aufgeführt worden ist.

- Teile des 1977 begonnenen Opernzyklus "Licht" wurden in verschiedenen Opernhäusern,

in einem Falle auch in einer großen Sporthalle aufgeführt.

Die Idealvorstellung des Komponisten wäre eine Simultanaufführung in 7 Auditorien.

Nicht alle Wünsche und Zukunftsvorstellungen,

die Stockhausen für neue Aufführungsbedingungen,

insbesondere für eine bessere aufführungspraktische Koordination

von Musik und Architektur ausgesprochen hat,

konnten in dem Jahrhundert realisiert werden, in dem sie ausgesprochen worden sind.

Immerhin ist aber deutlich geworden,

daß diese neuen Ideen nicht willkürlich ausformuliert wurden,

sondern als Konsequenzen neuer kompositorischer Ansätze:

Stockhausen wünschte sich architektonisch großzügige Aufführungsbedingungen,

weil auch seine kompositorischen Planungen

in außergewöhnlich große Dimensionen hereingewachsen waren.

Als er sich 1977 für sein Licht-Projekt

die Ausarbeitungszeit von etwa einem Vierteljahrhundert vorgenommen hatte,

änderte sich seine kompositorische Lebensplanung grundlegend.

Als er näher hierüber nachdachte, fiel ihm auf, daß er damit in eine Situation geraten war,

die vielleicht für die Musik ungewöhnlich war,

für die es aber in anderen Bereichen Beispiele gab, vor allem in der Architektur:

Besonders wichtig erscheint Stockhausen ein Aspekt architektonischer Arbeit, der auf eine Besonderheit seines musikalischen Schaffens zu verweisen vermag,

insbesondere auf sein seit den siebziger Jahren entstandenes musikalisches Spätwerk:

Viele Architekten, vor allem Architekten großer Sakralbauten,

arbeiten, wie Stockhausen hervorhebt,

an einem Werk, das sie über einen längeren Lebensabschnitt beschäftigt

und dessen Realisation sogar womöglich einen Zeitraum erfordert,

der die Länge eines einzelnen Menschenlebens übersteigt.

Dieser Aspekt ist für Stockhausen interessant geworden in einer Zeit,

in der er sich darauf festgelegt hatte,

etwa ein Vierteljahrhundert lang nur an einem einzigen Werk zu arbeiten:

Am Projekt "Licht", einem Zyklus von sieben abendfüllenden Opern.

Die Arbeit an diesem Zyklus hat ihn seit den siebziger Jahren bis in das Ende des Jahrhunderts beschäftigt und soll in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends abgeschlossen werden.

Die mehrere Jahrzehnte dauernde Arbeit an einer musikalischen Komposition

vergleicht Stockhausen mit den langen Zeitspannen,

in denen große Bauwerke entstehen -

unter Umständen sogar verfallen und wieder erneuert werden müssen.

Ein Beispiel hierfür ist ihm schon in jungen Jahren vertraut geworden:

Als Kind bin ich in Altenberg jahrelang

morgens in die Frühmesse oder ins Hochamt,

nachmittags zur Andacht,

abens zur Vesper gegangen

in einen gotischen Dom, von dem ich wußte,

daß seit 1240 Zisterziensermönche 139 Jahre an ihm gebaut hatten,

bis er 1379 eingeweiht wurde.

Dieses Bauwerk, das nach Zerstörungen im 19. Jahrhundert restauriert werden mußte,

also ähnlich wie der Kölner Dom eine viele Jahrhunderte Baugeschichte vorzuweisen hat,

erklärte Stockhausen zum Modell

einer langjährigen künstlerischen Arbeit auch im Bereich der Musik:

Die Konzeption, daß der Mensch etwas baut,

was sehr viel größere Ausmaße an Zeit und Raum annimmt als das, was ein Einzelmensch ist,

ist doch eigentlich nur selbstverständlich

(wenn man überlegt,

was ein Sonnensystem ist im Vergleich zum Leben eines einzelnen Menschenkörpers,

so sind doch ganz andere Zeitmaße, ganz andere Proportionen

ständig sichtbar und bewußt wahrnehmbar).

((Daß die Musik Töne anschlägt, die im ganzen Kosmos die Grundtöne sind, die Haupttöne -

das ist eigentlich nichts Verwunderliches, finde ich.

Nur dann, wenn man eine nur auf den Menschen bezogene Musik macht,

die auf seinen Zeitvertreib gerichtet ist -

ja dann macht man so kleine Menüs, nicht wahr, so Kurzfassungen,

und die Unterhaltungsindustrie zeigt das ja heutzutage, wo die Stücke immer kürzer werden:

zwei, drei Minuten - und schon kommt das nächste...))

Musik, die auf der Architektur weniger Töne aufgebaut ist,

aus denen sich ausgedehnte Formverläufe entwickeln -

solche Musik ist charakteristisch für Karlheinz Stockhausens Opernzyklus "Licht".

Der gesamte Zyklus ist abgeleitet aus einer Keimzelle von Tönen,

die als strukturelle etwa eine Minute dauert -

eine Minute als Mikrokosmos von sieben Opernabenden.

ZUSPIELUNG: Stockhausen, Licht: Superformel

Michaels-Ruf oder evtl. Donnerstag, Anfang des dritten Aktes

Die prozeßhafte Musik von Musik, die sich aus Strukturen von Kerntönen entwickelt,

ist für Stockhausen verbunden mit

einer dynamischen, nicht statischen Auffassung

des Verhältnisses zwischen Musik und Architektur:

In interessiert nicht die statische Form des Bauwerkes,

sondern der Prozeß seiner Wahrnehmung und Erschließung.

Es hat mich immer sehr stark beeindruckt -

an verschiedenen Orten in der Welt -,

wie solche Prozesse in der Anlage der Architektur

und der Wege durch Garten und Parks schon klar sind.

ZUSPIELUNG: Stockhausen, Unsichtbare Chöre, Abschnitt 1

(Entwicklung aus dem Anfang der Superformel)

Musik und Architektur - Musik als Architektur - Architektur als Musik:

Auch diese Stichworte können verdeutlichen,

daß beide Bereiche auf höchst unterschiedliche Weisen aufeinander beziehbar sind -

sei es in ihrer direkten Verbindung,

sei es in der Beschreibung ihrer strukturellen Verwandtschaften.

Unter beiden Aspekten können sich jeweils höchst unterschiedliche Konstellationen ergeben:

In Aufführungen unter verschiedenen architektonischen Gegebenheiten -

in strukturellen Verwandtschaften oder auch Unterschieden zwischen beiden Künsten.

Musik und Architektur:

Zwei Nachbarkünste, deren Verhältnis schwer zu bestimmen ist.

Wenn man nach Beziehungen zwischen Musik und Architektur zu fragen beginnt,

bemerkt man schnell, daß diese Frage durchaus verschiedene Bedeutungen haben kann -

und daß infolgedessen auch viele unterschiedeliche Antworten möglich sind.

Wer sich für Musik interessiert, kann ziemlich leicht herausfinden,

daß Verbindungen dieser Kunst zur Architektur auf verschiedenen Ebenen möglich sind.

Der Versuch, beide Künste als Schwesterkünste aufzufassen,

sie nach Wesensverwandtschaften zu befragen

und in ihren strukturellen Grundmerkmalen und Grundvoraussetzungen miteinander zu vergleichen -

dieser Versuch ist naheliegend, aber trotzdem nicht unproblematisch:

Warum sollte man die Musik ausgerecht mit der Architektur vergleichen?

Liegt es nicht viel näher, Musik und Sprache miteinander zu vergleichen -

und in diesem Sinne als Schwesterkunst der Musik

nicht die Architektur, sondern die Literatur zu wählen?

Und bieten sich als visuelle Schwesterkünste der Musik

neben oder anstatt der Architektur nicht auch, Malerei, Plastik oder Film an?

Wenn von Musik und Architektur und von ihren Beziehungen zueinander die Rede ist,

dann liegt es nahe, sich mit weit verbreiteten Vorstellungen auseinanderzusetzen,

die - im Rahmen wohlbekannter ästhetischer Traditionen -

jeweils die eine der beiden Künste im beziehungsreichen Kontrast zur anderen interpretieren:

Einerseits Architektur als "gefrorene Musik",

in der die zeitlichen Veränderungen des klanglichen Geschehens

gleichsam in Stein gegossen sind,

in der der die unablässig verrinnende Zeit

gleichsam in der Momentaufnahme erstarrt und räumlich fixiert erscheint;

andererseits Musik als verflüssigte Architektur,

als Projektion einer Form in einen Zeitablauf, als Zeitgestalt.

Musik ist gestaltetes Klanggeschehen, klingende Zeit.

Architektur ist gestalteter, in materialer Konkretion erfahrbarer Raum.

Die Klangkunst, die Musik, ist gebunden an die unaufhaltsam verrinnende Zeit.

Die Baukunst, die Architektur, hingegen orientiert sich

an sichtbaren Gegenheiten, die oft dem Fluß der Zeit zu tr otzen scheinen.

Deswegen wird die Zeitkunst Musik oft zum Spiegel von prozeßhafter Veränderung -

von erzeugender Entwicklung, aber auch von Vergänglichkeit.

Die Raumkunst Architektur hingegen wird, wenn man sie als Kontrastmodell zur Musik versteht,

zur Konkretisierung des Bleibenden, des den Fluß der Zeit Überdauernden.

Musik als klingende Zeit - Musik als klingende Architektur:

Wie läßt sich das Verhältnis zwischen diesen beiden Aspekten beschreiben:

Widersprechen sie einander oder lassen sie sich miteinander vereinbaren?

Sollte man, wenn beide Aspekte allzu unterschiedlich oder sogar widersprüchlich erscheinen,

von Fall zu Fall prüfen, welcher der beiden Aspekte angemessener ist?

Ist Musik als Zeitkunst zugleich auch klingende Architektur -

oder kann sie sich der Architektur um so besser annähern,

je stärker sie ihren Charakter als Zeitkunst verleugnet?

Es gibt Musik, von der wir wissen, daß sie

auf verschiedenen Ebenen, z. B. nicht nur aufführungspraktisch, sondern auch strukturell,

eng mit Architektur verbunden ist -

zum Beispiel mit einem Bauwerk, das für ihre Aufführung bestimmt gewesen ist.

Solche Musik kennen wir nicht nur aus ferner Vergangenheit, sondern auch aus dem 20. Jahrhundert. Eines der berühmtesten Beispiele ist eine 1956 entstandene Kantate von Igor Strawinsky:

CANTICUM SACRUM

AD HONOREM SANCTI MARCI NOMINIS

HEILIGER GESANG

ZU EHREN DES NAMENS DES HEILIGEN MARKUS

ZUSPIELUNG: Strawinsky, Canticum sacrum. Satz 1, 1. Teil (laut, Chor und Orchester)

In seinem "Canticum sacrum" ehrt Igor Stawinsky nicht nur den Namen des heiligen Markus,

sondern auch ein ihm geweihtes Bauwerk:

San Marco, den Markusdom in Venedig.

Dieser Doppelcharakter der Widmung

erscheint schon in den ersten Worten des gesungenen Textes:

Urbi Venetiae,

in laude Sancti sui Presidis,

Beati Marci Apostoli.

Der Stadt Venedig,

zum Lobe ihres heiligen Schutzpatrons,

des gesegneten Apostels Markus

ZUSPIELUNG: Canticum sacrum: Anfang (Dedicatio) vollständig: Urbi... Apostoli

Die im Jahre 1955 entstandene Markus-Kantate von Strawinsky war dazu bestimmt,

im folgenden Jahr in San Marco uraufgeführt zu werden.

In einem anläßlich dieser Uraufführung erschienen Artikel

hat der Musikwissenschaftler Heinrich Lindlar berichtet,

wie intensiv Strawinsky sich im Entstehungsjahr seiner Kantate

mit den architektonischen Gegebenheiten

des Uraufführungsortes auseinandergesetzt hat.

(Lindlar schreibt:)

Nachdem Strawinsky sich im Frühjahr 1955

in Venedig, unter anderen in der Frari-Kathedrale mit ihren Echowirkungen

und in der Salute-Basilika mit ihrem Nachhall,

zu aufführungspraktischen Studien Motetten von Giovanni Croce angehört hatte,

erläuterte er die für sein Canticum getroffene Besetzung

"to be the most favourable combination for the acoustics of St. Mark´s."

Igor Strawinsky hat dafür gesorgt,

daß die Besetzung seiner Kantate auf die Raumakustik des Uraufführungsortes abgestimmt war.

Das Verhältnis zwischen Musik und Architektur interessierte ihn insoweit

vor allem unter dem Blickwinkel der musikalischen Aufführungspraxis.

In dieser Hinsicht folgte Strawinsky Traditionen,

wie sie zu vor nicht zuletzt in der Kirchenmusik an San Marco in Venedig sich ausgebildet hatten.

Strawinsky ging es hier also

nicht in erster Linie um allgemeine, werkimmanente musikalische Zusammenhänge,

sondern vor allem um eine präzise Abstimmung der Komposition

auf konkrete aufführungspraktische Gegebenheiten.

Die Besetzung des Werkes repräsentiert also nicht nur

den generell für Strawinskys Stil typischen, streng objektivierten Spaltklang;

diese Besetzung entspricht auch den akustischen Gegenheiten des Markusdomes.

Strawinsky verlangt

ein Orchester mit:

Flöte, 2 Oboen und Englisch Horn, 2 Fagotten und Kontrafagott;

4 Trompeten (darunter eine Baßtrompete)

und 4 Posaunen (darunter eine Baß- und eine Kontrabaßposaune);

Harfe und Orgel;

Bratschen und Kontrabässe;

zwei Gesangssolisten: Tenor und Bariton und

einen gemischten Chor mit Knaben- und Männerstimmen.

ZUSPIELUNG: Canticum I, 1. und 2. Formteil (Chor und Orchester - Orgel)

Strawinskys "Canticum sacrum" ist das herausragende Beispiel einer Musik,

die auf die Architektur eines konkreten Uraufführungsortes

nicht nur in der Besetzung und in den Klangwirkungen genauestens abgestimmt ist,

sondern auch in ihrem formalen Aufbau,

der in seinen Gliederungen und in deren symmetrischen Entsprechungen

genauestens dem Grundriß von San Marco in Venedig entspricht:

Mit einer Einleitung, die einem Eingangsportal vergleichbar ist -

mit Entsprechungen zwischen Anfangs- und Schlußteil,

die den Hauptteil des Stückes einrahmen wie West- und Ostaspis den Grundriß des Domes -

mit einem dreiteiligen, der Vierung vergleichbaren Mittelstück

und zwei dieses umrahmenden Zwischenstücken.

Im Wechsel zwischen verschiedenen Gesangstexten, Satztypen und Klangmitteln

ergibt sich eine streng gegliederte musikalische Form:

Musik als gefrorene Architektur.

ZUSPIELUNG: Canticum III Mittelstück

(Die Kantate beginnt mit der einleitenden DEDICATIO (Widmung),

einem kurzen(, nur 9 Takte umfassenden) Stück

für zwei Solo-Männerstimmen (Tenor und Bariton),

zwei Posaunen (Tenor- und Baßposaune)

und Kontrabaß.

Dieses Einleitungsstück ist eine monumentale, quasi-archaische Musik,

gleichsam ein Portal des gesamten Werkes.

Auf den ruhigen Abschluß Einleitungsmusik, die den Apostel Markus besingt,

folgt dann, in scharfem Kontrast, der Einsatz des ersten Stückes:

Akkordisch markant beginnend, im kräftigen Bläser- und Chorsatz,

sich fortsetzend mit Orgel- und Bläserakkorden.

ZUSPIELUNG: Einleitung Schluß - Anfang I

Beati... Apostoli - Laute Akkordfläche (bis Pause)

Im ersten Hauptteil des Stückes singt der Chor, in der lateinischen Übersetzung der Vulgata,

einen Text aus dem Markus-Evangelium, den Missionsbefehl Christi:

Euntes,

euntes in mundum,

in mundum universum.

Geht,

geht in die Welt,

in die ganze Welt.

ZUSPIELUNG: Canticum Teil I, 1. Teil bis lange Pause nach ... universum

(aufhören vor leisem Orgeleinsatz)

Der Text wird in drei Abschnitten vorgetragen:

Markant, begleitet mit schmetternden Fanfaren der Blechbläser.

Danach folgt ein leises Zwischenspiel mit Orgel und tiefen Holzbläsern,

und anschließend die Fortsetzung mit Chor und Orchester,

die wiederum in drei Abschnitte gegliedert ist:

in mundum universum,

praedicate,

praedicate evangelium.

in die ganze Welt

(und) predigt,

predigt das Evangelium

ZUSPIELUNG: Canticum I nach erster großer Pause:

1. Orgelpassage (einsetzend nach Pause) - Chor in mundum... ...evangelium - Orgel (bis Pause)

Zwei Orgel-Zwischenspiele umrahmen den zentralen Chorabschnitt des Satzes.

Diese Disposition wirkt architektonisch -

wie eine Wand-Fassade,

mit einem Zentrum und mit Wandflächen, die symmetrisch dieses Zentrum umgeben.

ZUSPIELUNG: Wie zuvor Orgel 1 - Chor in mundum... ... evangelium - Orgel 2

Im Zentrum des Satzes steht, umrahmt von leisen akkordischen Orgelpassagen,

ein kräftiger Chorsatz mit voller Orchesterbegleitung -

ein Satz, der seinerseits wieder dem Anfangsteil und dem Endteil entspricht.

Im gesamten Satz ergibt sich also eine symmetrische fünfteilige Gliederung

mit drei Tuttiblöcken und mit zwei dazwischengeschobenen Orgelpassagen.

Die formale Architektur dieses Satzes folgt also einem einfachen Formschema:

Lauter Tuttisatz A als Eröffnung - leiser Orgelsatz B - Wiederkehr von A im Zentrum -

Wiederkehr von B - Wiederkehr von A als Abschluß

ZUSPIELUNG: Canticum I vollständig ABABA Euntes... creaturae

Symmetrisch aufgebaut ist nicht nur der erste Satz, sondern das gesamte Werk:

Der fünfte und letzte Satz entspricht dem ersten, und zwar sowohl technisch als auch musikalisch.

Während im ersten Satz der Missionsbefehl in Musik gesetzt ist,

spricht der Text des letzten Satzes davon, daß der Missionsbefehl ausgeführt wird.

Auch der neue Text enthält drei Tutti-Abschnitte,

die durch leisere und dünner gesetzte Interludien mit Orgel und tiefen Holzbläsern getrennt sind,

so daß sich wieder dieselbe fünfteilige Bauform der Musik ergibt wie im ersten Satz:

A - B - A - B - A

Der Text lautet:

Illi autem profecti praedicaverunt ubique

Domino cooperante, et sermonem confirmante,

sequentibus signis.

Sie aber brachen auf und predigten überall;

Gott half ihnen, er stärkte ihr Wort,

und er ließ dem Wort Zeichen folgen.

ZUSPIELUNG: Canticum V vollständig A (Tutti) - B (Org., Holz) - A - B - A

Illi autem... sequentibus signis

Wie in einer architektonischen Fassadengliederung

entsprechen sich die Gliederungen im Detail und in größeren Zusammenhängen.

Der 5. Satz hat 5 Abschnitte (ebenso wie sein architektonisches Pendant, der 1. Satz).

Der 3. Satz hingegen hat 3 Abschnitte, die drei zentralen christlichen Begriffen zugeordnet sind:

Caritas - Spes - Fides

Liebe - Hoffnung - Glauben

Im ersten und letzten Abschnitt wird der Text vom Chor gesungen,

im zentralen mittleren Abschnitt von Soli und Chor.

so ergibt sich eine symmetrische dreiteilige Form.

ZUSPIELUNG: Canticum III:

Diligis Dominum... cognoscit Deum,

Qui confidunt in Domino... a custodia matutina usque ad noctem

Credidi... humiliatus sum nimis

Während im ersten, dritten und fünften Stück der Chorgesang eine wichtige Rolle spielt,

dominiert im zweiten und vierten Stück der Sologesang.

So ergeben sich auch in der Großform symmetrische Entsprechungen:

Vom Chorgesang geprägte Sätze am Anfang, in der Mitte und am Schluß (Sätze 1, 3 und 5) -

vom Sologesang geprägte Sätze vor und nach dem Mittelsatz (Sätze 2 und 4)

ZUSPIELUNG: Canticum. Zusammenschnitt kurze Ausschnitte aus den Sätzen:

1 (mit Chor, Anf.) - 2 (Soli) - 3 (mit Chor, Zentrum) - 4 (Soli) - 5 (mit Chor, Anf. oder evtl. Schluß)

Heinrich Lindlar hat den Aufbau des Werkes

mit dem architektonischen Grundriß des Markusdoms in Venedig verglichen

und seine Gliederungsanalyse eingetragen in eine Grundrißzeichnung dieses Bauwerkes.

(Lindlar schreibt):

Auf den Ost- und West-Chor des fünfteiligen Kantatenbaus

folgen, dem Mittelteil in flankierender Symmetrie zugegliedert,

als zweiter und vierter (Zwischen-) Satz zwei Sologesänge,

der erste auf Verse aus dem Hohelied Salomonis (IV, 16 und V),

der andere auf einen Glaubens-Doppelvers aus dem Markus-Evangelium (IX, 22-23).

Nach dem vokal-orchestral pleno vorgetragenen Eingangschor

beziehungsweise vor dem ihm krebsläufig entsprechenden Schlußchor

bedeuten diese Sologesänge eine Erhöhung

kraft der Person-Substanz des einzelnen in der Gemeinschaft der Gläubigen.

Nach der architektonisch-musikalischen Strukturskizze Lindlars entsprechen sich:

- Der musikalische Einleitungssatz DEDICATIO und der Porticus des Domes

ZUSPIELUNG: Dedicatio (z. B. Anfang oder evtl. Schluß)

- der erste, statische Chorsatz und die Ost-Apsis

ZUSPIELUNG: Canticum I

- das lyrische Tenor-Solo des zweiten Satzes und das östliche Zwischenjoch

ZUSPIELUNG: Canticum II

- der dreiteilige Mittelsatz (Chor - Soli plus Chor - Chor) und die dreigliedrige Vierung

ZUSPIELUNG: Canticum III Anfänge Chor - Soli plus Chor - Chor

- das dramatische Bariton-Solo des vierten Satzes und das westliche Zwischenjoch

ZUSPIELUNG: Canticum IV

- der letzte, statische Chorsatz und die West-Aspsis

ZUSPIELUNG: Canticum V)

Strawinskys "Canticum sacrum" ist geistliche Musik für ein geistliches Bauwerk

in einer Zeit der Krise überlieferter künstlerischer und religiöser Funktionen.

1957, ein Jahr nach der Uraufführung des Werkes in Venedig,

hat sich ein jüngerer Komponist zu Wort gemeldet,

der die Ambivalenz dieser ästhetischen Funktionsbestimmung offen angesprochen hat.

Dieser jüngere Komponist war Karlheinz Stockhausen.

Er schrieb:

Strawinskys Werk ist weitgehend ´Funktionsmusik´:

fürs Ballett, für eine Theatergruppe,

für die Oper, füs Sinfonieorchester (mit Chor), für die Kirche.

Seine letzte veröffentlichte Partitur ´Canticum Sacrum´ galt San Marco zu Venedig;

einmal dort aufgeführt, ging dieses Stück wie üblich durch die Konzertsäle.

Ähnlich widerfuhr es der ´Messe´:

die katholischen Kirchen können nur selten über den nötigen Aufführungsapparat verfügen

und interessieren sich außerdem nicht ernsthaft für derartige Musik;

vereinzelte ´Aufführungen´ dieser Musik werden zum Kitsch.

Als Stockhausen dies schrieb,

war er gerade als führender Exponent einer neuen Musikart bekannt geworden,

die von der Tradition viel weiter wegzuführen schien

als der (neo-)klassizistische Modernismus Strawinskys:

Die Elektronische Musik hatte die Frage nach neuen Funktionsbestimmungen der Musik aufgeworfen.

Die Schwierigkeit, neue Musik in alte Positionen einzupassen,

konnte Stockhausen an Strawinsky nicht zuletzt deswegen so deutlich erkennen,

weil er sie auch in der eigenen Arbeit schon erfahren hatte.

Hierüber schrieb er:

Der Glaube an den funktionellen Sinn einer ´elektronischen Funkmesse´

könnte zu einer ähnlichen Don-Quichotterie führen

wie ein weiteres ´Canticum Sacrum´ für den San-Marco-Konzertsaal.

Diese Äußerung Stockhausens enthält auch Selbstkritik:

An den "funktionellen Sinn einer ´elektronischen Funkmesse´"

hatte zuvor auch er zeitweilig geglaubt:

Er wollte eine Messe mit elektronischen Klängen für den Kölner Dom schreiben.

Dieser Plan -

der übrigens in der damaligen musikalischen Avantgarde durchaus ungewöhnlich war

und für den Stockhausen damals heftige Kritik seines Komponistenkollegen Boulez erntere - scheiterte daran, daß der damalige Erzbischof von Köln, Kardinal Frings,

Lautsprechermusik in einer katholischen Kirche nicht zulassen wollte.

So kam es dazu, daß Stockhausen sein Vorhaben änderte:

Er realisierte eine Tonbandkomposition geistlicher Musik,

die nicht an den Aufführungsort einer Kirche gebunden war:

Die Komposition "Gesang der Jünglinge".

ZUSPIELUNG: Gesang der Jünglinge Anfang: Jubelt... in Ewigkeit (danach schnell ausblenden)

Die Uraufführung von Stockhausens "Gesang der Jünglinge"

fand im Sendesaal des Westdeutschen Rundfunks Köln statt.

Ihm war es wohl bewußt,

daß auch diese geistliche Musik - ebenso wie diejenige Strawinskys -

eigentlich nicht an einen herkömmlichen Aufführungsort paßte.

Diese Paradoxie wurde noch verstärkt dadurch,

daß die elektronische Musik im Studio

durchaus als "Musik im Raum" komponiert werden konnte,

mit unterschiedlichen Raumpositionen und charakteristischen Raumbewegungen der Klänge,

daß aber damit noch keineswegs geklärt war,

in welchen Aufführungsraum diese Musik denn eigentlich passen könnte.

Dies veranlaßte Stockhausen dazu,

die Besonderheiten seiner neuen elektronischen Raummusik zu erklären

und nach modernen Architekten zu rufen,

die für diese Musik passende Aufführungsräume schaffen würden.

Stockhausen schrieb:

In der Komposition ´Gesang der Jünglinge´ habe ich versucht,

die Schallrichtung und die Bewegung der Klänge im Raum zu gestalten

und als eine neue Dimension für das musikalische Erlebnis zu erschließen.

Das Werk ist für 5 Lautsprechergruppen komponiert,

die rings um die Hörer im Raum verteilt sein sollen.

Von welcher Seite,

mit wievielen Lautsprechern zugleich,

ob mit Rechts- oder Linksdrehung,

teilweise starr und teilweise beweglich

die Klänge und Klanggruppen in den Raum gestrahlt werden:

das alles ist für das Verständnis dieses Werkes maßgeblich.

(...)

So stark das Erlebnis einer ersten Raum-Musik auch war,

so zeigte sich doch von Anfang an die Schwierigkeit,

diese Musik in einem Raum vorzuführen, der für ganz andere Zwecke gebaut wurde.

Es müssen neue, den Anforderungen der Raum-Musik angemessene Hörsäle gebaut werden.

Meinen Vorstellungen entspräche ein kugelförmiger Raum,

der rundum mit Lautsprechern versehen ist.

In der Mitte dieses Kugelraumes hinge eine schalldurchlässige, durchsichtige Plattform für die Hörer.

Sie könnten von oben, unten und von allen Himmelsrichtungen

eine für solche genormten Räume komponierte Musik hören.

Die Plattform wäre über einen Steg erreichbar.

So ist Akustikern und Architekten eine Aufgabe gestellt,

die keine Spielerei mit Zukunftsträumen wäre,

sondern eine dringende Lösung der gegenwärtigen Schwierigkeiten.

Befänden sich in jeder größeren Stadt solche Räume,

so bekäme auch das gemeinschaftliche Hören in Musikhallen, im Gegensatz zum Radiohören,

wieder einen neuen Sinn.

Die bisher übliche Konzertpraxis würde -was das Hören elektronischer Raum-Musik betrifft -

von einer Form abgelöst, die dem Besuch von Bildergalerien entspräche.

Es gäbe permanente Programme, die periodisch wechselten,

und man könnte zu jeder Tageszeit das elektronische Programm hören.

Als Karlheinz Stockhausen 1958 diese Zukunftserwartungen an künftige Architekten aufschrieb,

argumentierte er zunächst ausschließlich von der Position des Komponisten aus:

Er selbst hatte maßgeblich beigetragen zur Etablierung neuer elektronischer Raummusik.

Nun erwartete er, daß der neuen Musik

eine neue Architektur musikalischer Aufführungssäle folgen sollte:

In allen größeren Städten sollten Hörkinos entstehen -

gleichsam jahrzehntelang verspätete Gegenstücke zu den Stummfilmkinos der zwanziger Jahre.

Erst später wurde Stockhausen bewußt,

daß im Zeitalter des Tonfilms und des Fernsehens

die rigorose Beschränkung auf eine reine Hörkunst fragwürdig bleiben mußte.

Deswegen erweiterte er seine Vorstellung

von reinen Hörereignissen auf audiovisuelle Ereignisse.

In einem 1959 entstandenen Text schrieb er Stichworte "über die Zukunft der Musik" auf.

Darin hieß es unter anderem:

Musik wird durch zunehmende Verräumlichung zur plastischen Musik.

Plastische Tonkomposition wird mit plastischer Bildkomposition eine Synthese eingehen.

Plastische Ton-Bild-Kompositionen werden individuell privat

(Synthese von Radiophonie und Television)

und kollektiv in eigens konstruierten Hör-Seh-Räumen

kommuniziert.

Die standardisierten Hör-Seh-Räume

werden zunächst halbkugel- oder kugelförmig sein,

so lange man auf Schallschirme und Membranlautsprecher angewiesen ist.

Man wird mit Hilfe ionisierterLuft oder ähnlicher Verfahren Wiedergabe im Freien erstreben.

Hör-Seh-Progrogramme werden permanent und zu jeder Zeit einzustellen oder zu besuchen sein.

Den veränderten architektonischen Gegenheiten

sollten nach Stockhausens Prophezeiung

künftig auch veränderte Rezeptionsbedingungen und -präferenzen entsprechen.

Vor allem mit seiner neuen Elektronischen Musik wollte er

auch in dieser Hinsicht neue Wege weisen.

In diesem Sinne hatte er schon 1958

Elektronische Musik als mediengerechte neue radiophone Musik legitimiert.

Damals schrieb er:

Die Hörer am Lautsprecher werden früher oder später verstehen,

daß es sinnvoller ist, wenn aus dem Lautsprecher Musik kommt,

die man nur am Lautsprecher und nirgendwo anders empfangen kann.

Noch einen Schritt weiter ging Stockhausen in seinem 1959 entstandenen Manifest,

indem er den Blickwinkel vom Radiohören auf das gesamte Musikhören erweiterte.

Er schrieb:

Das allgemeine Interesse an Musik

wird sich vorwiegend der jeweiligen Gegenwartsproduktion zuwenden.

Die allermeiste heute gespielte Musik unserer Vergangenheit wird in Vergessenheit geraten.

Die Komponisten der folgenden Generationen werden äußerst kritisch analysieren,

was unsere Generation an Musik geschrieben hat.

Sie werden ihre Arbeit auf denjenigen Werken aufbauen,

deren Konzeption OFFEN ist und die ein Höchstmaß an Erfindung enthalten.

Die großen Erwartungen, die Stockhausen in den späten fünfziger Jahren

an ein verändertes Musikhören im Zeitalter der technischen Medien geknüpft hatte,

erscheinen auch am Ende des 20. Jahrhunderts noch weitgehend utopisch.

Allerdings beleuchten sie seine eigene Entwicklung auch in späteren Jahren.

(Was Stockhausen in den späten fünfziger Jahren prophezeit und postuliert hatte,

konnte er selbst mit seiner eigenen Musik

erst wesentlich später, aber dann durchaus spektakulär realisieren:

1970 erhielt er die Gelegenheit, auf dem deutschen Pavillon der Weltausstellung in Osaka

in einem neu erbauten Kugel-Pavillon seine Musik zu präsentieren.

Im Verlauf mehrerer Wochen und Monate waren Werke Stockhausens

in live-Aufführungen und Tonband-Wiedergaben zu hören unter akustischen Bedingungen,

von denen er schon in den fünfziger Jahren geträumt

und an deren Realisierung er tatkräftig Anteil genommen hatte.

Ein neues, eigens für diese Räumlichkeit bestimmtes Projekt

kam allerdings über das Planungsstadium nicht hinaus.

Dennoch fanden die Vorführungen bereits früher entstandener Werke

in dem neu erbauten Kugelpavíllon großes Publikumsinteresse

markierten einen der spektakulärsten Erfolge in Stockhausens internationaler Karriere.

Allerdings gelang es nicht, diese Veranstaltungen nach dem Ende der Weltausstellung

und nach der Demontage des Kugelpavillons in angemessener Weise weiterzuführen.

Dieses Modell einer neuartigen Synthese von Musik und Architektur

hat sich nur für begrenzte Zeit als lebensfähig erwiesen -

und dieses Schicksal teilte es auch mit anderen Versuchen auf diesem Gebiet -

mit Versuchen, die in ihren ersten Ansätzen ebenfalls bis in die fünfziger Jahre zurückreichten.)

1958 - also eben in dem Jahre, als Karlheinz Stockhausen

seine Ideen über neue, vor allem elektronische Raummusik publizierte -

wurde erstmals auf einer Weltausstellung ein Projekt bekannt,

in dem neuartige, auf technischer Basis zu realisierende

Synthesen zwischen Musik und bildenden Künsten versucht wurden:

"Le Poème Electronique" -

ein Projekt von Le Corbusier für den Philips-Pavillon der Brüsseler Weltausstellung -

ist eines der wichtigsten interdisziplinären Kunst-Projekte des 20. Jahrhunderts,

in der Integration von Architektur, Bildender Kunst und Musik.

Mit Planung und Ausführung der Architektur hatte Le Corbusier einen jungen Mitarbeiter beauftragt,

der kurz zuvor auch als Komponist internationales Aufsehen erregt hatte:

Den Griechen Iannis Xenakis.

Schon die ersten architektonischen Entwürfe, die Xenakis damals für Le Corbusier machte,

waren angeregt nicht nur durch damals hochaktuelle architektonische Tendenzen,

sondern auch zuvor entwickelte neue musikalische Ideen des jungen Mitarbeiters:

Sein 1955 in Donaueschingen uraufgeführtes Orchesterstück "Metastaseis"

hatte den Weg bereitet zum Entwurf neuartiger, komplexer kurviger Flächen

nicht nur in der Musik, sondern auch in der Architektur.

ZUSPIELUNG: Metastaseis Anfang (bis Tremolo, ausblenden auf Triangelschlag) 0´´-ca. 1´30

Le Chant du Monde 278 368, CM 211, take 3

Orchestre National de l´ORTF, Leitung Maurice Le Roux

"Metastaseis" ist das erst Werk der Musikgeschichte,

das sich von überkommenen musiksprachlichen Vorstellungen vollständig löst:

Im Fluß der gleitenden Töne, mit dem das Stück beginnt, gibt es keine festen Tonhöhen mehr,

keine festen Intervalle und Harmonien,

keine in rhythmischer Konturierung klar erkennbaren melodischen Gestalten.

All dies verschwindet in den Formentwicklungen einer durchaus neuartigen kontinuierlichen Musik.

ZUSPIELUNG: Metastaseis Anfang Glissando-Expansion

oder längerer Ausschnit bis 2´48: Stehenbleiben von 3 Tönen sehr hoch - Mittellage - tief; Pause

oder/und evtl. Schluß: Glissando-Kontraktion

Musik, wie sie Iannis Xenakis zu Beginn seines Orchesters "Metastaseis" gestaltet werden,

kann gehört und interpretiert werden als Spiegel der verrinnenden Zeit -

als Musik mit einer Formentwicklung, die dazu tendiert,

sich zielgerecht zu entfernen von ihrem Ausgangspunkt und allem bereits Vergangenen.

Besonders deutlich wird dies dadurch, daß ein klares Anfangsstadium erkennbar ist -

nämlich ein einziger Ton, auf dem alle Streichinstrumente gemeinsam einsetzen

und von dem sie sich dann anschließend in individuellen Glissandokurven

nach oben und unten entfernen - d. h. einmünden in eine klar gerichtete Formentwicklung.

So entsteht Musik als Prozeß - Musik der ständigen Verwandlung im organischen Fluß der Klänge.

"Metastaseis" ist das erste Musikwerk eines Künstlers,

der nicht nur als Komponist, sondern auch als Architekt professionell gearbeitet hat.

Um so erstaunlicher ist es für den Hörer dieses Stückes,

wie wenig diese Komposition an architektonische Musik im traditionellen Sinne erinnert -

an Statik und Gliederung, an Symmetrie und Proportion.

Die Musik präsentiert sich nicht als quasi räumliches Gebilde,

sondern um unaufhaltsam strömenden Fluß der Zeit.

ZUSPIELUNG: Metastaseis Anfang (kürzerer Ausschnitt): Glissando-Expansion,

Übergang vom Ton in mittlerer Lage zum weiträumigen Cluster

Le Chant du Monde LDC 278 368

Zu Beginn des Orchesterstückes "Metastaseis" artikuliert sich Musik als Prozeß -

Musik der ständigen Verwandlung im organischen Fluß der Klänge.

Diese Musik kann sich lösen von festen, gleichsam räumlich erstarrten Gestalten:

Als Spiegel eines unaufhaltsam fortschreitenden Lebensprozesses;

als Spiegel einer Erfahrung, die fortwährend wechselnden Eindrücken ausgesetzt ist

und in der deswegen kaum noch Zeit bleibt

für die Rückbesinnung auf bereits Vergangenes, für Erinnerung.

Die Rückkehr zum bereits Vergangenen gelingt allenfalls als Illusion -

zum Beispiel dann, wenn die Klänge sich gleichsam zurückverwandeln,

wenn sie wieder zurückkehr in ein bereits vorher wahrgenommenes Stadium.

ZUSPIELUNG: Metastaseis Schluß: Glissando-Kontraktion 8´02-8´48

Le Chant du Monde LDC 278 368

Übergang vom weiträumigen Cluster zum Ton in mittlerer Lage

Musik als Zeitkunst kann sich präsentieren als Kontrastmodell zur Raumkunst der Architektur.

Die verfließende Zeit kann sich konkretisieren im gleitenden Fluß der Klänge -

zum Beispiel in großen Glissandostrukturen,

wie sie Iannis Xenakis seit den fünfziger Jahren geschaffen hat.

Wenn man verstehen will, warum gerade Iannis Xenakis,

der komponierende Architekt und architektonisch tätige Komponist,

sich in seiner Musik so weit von räumlich-architektonischen Formen im traditionnellen Sinne entfernt,

dann muß man sich bewußt machen,

daß er sich von tradierten Vorstellungen nicht nur in der Musik gelöst hat,

sondern auch in der Architektur.

Seine neuen musikalischen Vorstellungen sind exemplarisch für ein neues künstlerisches Denken,

das über die Grenzen der Musik hinausweist, nicht zuletzt auch in den Bereich der Architektur.

Dies zeigt sich in vielen seiner Äußerungen -

selbst in solchen, die sich scheinbar nur auf Musik beziehen,

In einem 1956 veröffentlichten Brief, den Xenakis an Hermann Scherchen richtete,

findet sich ein solches Stichwort,

das sich auf den kompositorischen Neuansatz in "Metastaseis" beziehen läßt.

Xenakis schreibt dort:

Die gradweisen, unwahrnehmbar kleinen Änderungen,

welche die entscheidenden Umwandelungen von Anfangsbedingungen herbeiführen,

haben mich immer fasziniert

(die logischen Hauptbegriffe der Kontinuität und der Bewegung und der Integralrechung

haben dabei eine Rolle gespielt).

Das musikalische "Glissando" selbst ist ein Aspekt kontinuierlicher Umwandlungen;

die statistische Transformation ist ein anderer.

(Ich muß hier an einen "beschleunigt" vorgeführten Film

über die Bildung der Wolken denken;

er erwies sich als eine Fundgrube von Beispielen "statistischer Plastik").

(...)

Die Musik -

dazu berufen, die moralischen und intellektuellen Kräfte der neuen Generation auszudrücken -

kann nicht länger eine nur linear-akademische Tonkunst sein.

Sie muß in ihren Lebens- und Gedankenformen

den ungeheuerlichen heutigen Erweiterungen entsprechen.

In diesen Worten wird deutlich,

daß Xenakis seine neuen Glissando-Texturen anders auffaßt,

als sie im ersten Höreindruck erscheinen können:

Nicht als Klangsymbole der unablässig verrinnenden Zeit,

sondern als Manifestationen allgemeinerer Verwandlungsprozesse.

Der Anfangs des Orchesterstückes "Metastaseis" ist hierbei

nur ein besonders sinnfälliges Beispiel elementarer Verwandlulngen:

Alle Streichinstrumente beginnen mit demselben Ton,

und von diesem entfernen sie sich Schritt für Schritt, teils aufwärts, teils abwärts,

bis schließlich das gesamte Tongeschehen in Bewegung ist,

also der stehende Ausgangston sich vollständig in eine Glissandofläche verwandelt hat;

danach bleiben alle Glissandi gleichzeitig stehen,

und es bildet sich eine dichte, den gesamten Tonraum erfüllende Klangschichtung, eine Tontraube.

In anderen Werken von Xenakis wird deutlich,

daß solche Verwandlungsprozesse auch in anderen Erscheinungsformen sich realisieren lassen -

beispielsweise zu Beginn des Orchesterstückes "Pithoprakta",

das in den Jahren 1955 und 1956 komponiert wurde:

Hier verwandeln sich dicht massierte Geräuschimpulse Schritt für Schritt

in lange Töne mit klar erkennbaren Tonhöhen.

ZUSPIELUNG: Pithoprakta Anfang: Übergang von Geräuschimpulsen zu gehaltenen Tönen

LDC 278 368, CM 211, take 4 Anfang 0´- (2´´ 14 Pause) nach 2´30 Cluster (ausblenden)

Blende herunter spätestens vor 2´44, vor dem Einsatz neuer Töne Pizzicato

Die ersten Orchesterstücke, mit denen Iannis Xenakis in den 1950er Jahren

in der Öffentlichkeit bekannt wurde,

sind Beispiele eines neuen Denkens,

das auch über die Grenzen der Musik hinaus bedeutsam geworden ist:

Die Klänge dieser Musik erscheinen nicht in bekannten Gruppierungen und Gestaltungen -

nicht in Motiven und Themen, in Akkorden oder Akkordfolgen,

in Melodien oder deren polyphonen Überlagerungen,

auch nicht in prägnanten Konstellationen verschiedener Tonpunkte,

sondern in dichten Massierungen,

in denen weniger die einzelnen Details wahrnehmbar sind

als übergeordnete Strukturen des musikalischen Zusammenhanges.

Diese Form dieser Musik läßt sich also nicht wahrnehmen

wie die Fassade einer traditionellen Architektur,

in der man alle Details klar erkennen und aufeinander beziehen kann.

In weiträumigen Verwandlungsprozessen,

aber auch in dichten Massierungen, in komplexen Schichtungen und Texturen

präsentiert sich eine völlig neuartige Musik der Massenphänomene -

Musik, die zum Vergleich einlädt nicht mit traditioneller Architektur,

sondern allenfalls mit neuen architektonischen Formen.

ZUSPIELUNG: Pithoprakta Pizzicato-Akkumulation 2´15-2´30

In der Kontinuität der Klangtexturen und ihrer vielfältigen Veränderungen

entfernt die Musik von Iannis Xenakis sich

von traditionellen musikalischen Vorstellungen,

nicht zuletzt auch von traditionellen Vorstellungen musikalischer Formgestaltung

im Geiste traditioneller Architektur.

Seine Vorstellungen zielen auf formale und klangliche Innovation:

Auf Klangstrukturen, die sich auch jenseits traditioneller Konzertmusik realisieren lassen.

ZUSPIELUNG: Diamorphoses Anfang (Verwandlung bekannter in unbekannte Klänge)

EMF INA CD 003

1957 realisierte Xenakis erstmals eine Komposition,

die nicht mit den Klängen aus der Tradition bekannter Orchesterinstrumente arbeitet,

sondern die als Tonbandmusik im Studio, mit technisch produzierten bzw. verarbeiteten Klängen

entstanden ist.

Auch in dieser Musik,

die schon mit ihren Klangmitteln über die Aura traditioneller Konzertsäle hinausführt,

präsentieren sich neuartige Klänge und Klangkonstellationen

in großräumigen Verwandlungsprozessen.

Die Musik bewegt sich im Niemandsland

zwischen stehenden und bewegten, zwischen bekannten und unbekannten Klängen.

ZUSPIELUNG: Diamorphoses Mittelteil (Glissandostrukturen mit unbekannten Klängen)

Neue Klänge und Klangkonstellationen ergeben sich bei Xenakis

als Konsequenzen eines neuen musikalischen und musikübergreifenden Denkens:

Xenakis kritisiert das traditionelle lineare musikalische Denken,

das an den traditionellen Unterscheidungen

zwischen Melodie und Harmonie, zwischen Vertikale und Horizontale festhält

und so die Tonbeziehungen gleichsam

auf die beiden Dimensionen einer cartesischen Ebene reduziert.

Die Überwindung dieses Denkens hielt Xenakis für wesentlich

auch über den Bereich der Musik hinaus, z. B. für ein neues architektonisches Denken.

Er schrieb:

Die Bezugssysteme der Menschen

werden sich nicht nur auf horizontale und vertikale Ebenen,

die alle der Translationsarchitektur angehören, beschränken.

Der Mensch wird sich in der Zukunft auf einen krummen Raum einstellen.

Psychologisch stellt dies eine Bereicherung dar, deren Konsequenzen wir noch nicht kennen.

Diese Worte entstammen nicht einem utopischen ästhetischen Manifest,

sondern sie ziehen die Bilanz aus einem zuvor tatsächlich realisierten künstlerischen Projekt:

"Le poème électronique".

Dieses Projekt wurde 1958 für die Brüsseler Weltausstellung realisiert,

als Auftrag der Firma Philips.

In einer ausführlichen Begleitdokumentation zu diesem Multimedia-Projekt

ist auch Iannis Xenakis zu Wort gekommen,

der im Auftrag von Le Corbusier den Aufführungsort für dieses Ereignis, den Philips-Pavillon,

architektonisch geplant hat.

Xenakis entwarf eine Architektur, als deren zentrale Idee er

die Abwendung von traditionellen Fassaden- und Raumgliederungen

und deren Ablösung durch kurvige Flächen beschreibt:

Die für die Konstruktion des Philips Pavillons angewandten krummen Flächen

bilden ein neues Element der modernen Architektur -

durch ihre Form, die die Ebene und die Gerade ergänzt,

und nicht zuletzt durch ihre hohe Widerstandsfähigkeit,

die sie ihrer Geometrie verdanken.

(...)

Für den Architekten bedeuten diese Formen

einen Übergang der translativen Auffassung des Volumens

(Erhöhung, entstanden durch vertikale Translation der Ebene)

zu einer völlig neuen Auffassung,

die auf getrennten ungleichförmigen Dimensionen gründet.

Die Architektur des Philips Pavillons

liegt im Rahmen der modernen Errungenschaften der Technik und Baukunst.

Xenakis hat unmißverständlich zum Ausdruck gebracht,

daß seine Architektur der kurvigen Flächen

einen wesentlichen Einschnitt in der Architekturgeschichte markieren würde.

Er schrieb:

Um den Philips-Pavillon zu verstehen -

um den Platz zu erkennen, den er einnimmt in der Entwicklung zur einer neuen ARchitektur,

die er betätigt und fortführt,

muß man diesen Pavillon in seinen historischen Kontext stellen.

Das werde ich zu zeigen versuchen.

Seit dem Altertum ist die Architektur nicht mehr eine wirklich räumliche Darstellung.

Sie beruht im Wesentlichen auf zwei Dimensionen,

sie ist im Wesentlichen nur zweidimensional.

Die quadratischen, rechtwinklingen, trapezförmigen und kreisförmigen Formen

der Tempel, der Paläste, der Kirchen, der Theater usw. sind zweidimensional.

In die dritte Dimension gelang man durch Parallelverschiebung

im rechten Winkel zur Ausgangsfläche.

Die dritte Dimension, die man so entwirft und realisiert, ist fiktiv,

sie ist homomorph zur Ebene, sie fügt kein neues räumliches Element hinzu.

Die Gesamtheit räumlicher Gestaltungsgruppen

bezieht sich also auf eine einfache Gruppe von Raumformen,

die man "Transformations-Gruppe" nennen sollte:

Quadratische, rechtwinklige, zylindrische Formen und so weiter.

Die ägyptischen, sumerischen, babylonischen, persischen, kretischen,

griechischen, indischen, chinesischen, aztekischen, byzantinischen,

die aus Renassance oder Barock oder aus der Moderne stammenden Bauten

gehören im Wesentlichen zu einer geradlinigen Untergruppe.

((Sie werden beherrscht und reguliert durch die Gerade,

durch die Ebene (die eine elementare strukturierte Oberfläche ist)

und durch den rechten Winkel

(der Ausdruck von Symmetrie ist,

Ausdruck der gleichmäßigen Disposition einer planen Oberfläche

und Maßeinheit des Winkels, den das Lot mit der Grundebene,

als Ausdruck der irdischen Schwerkraft).))

Die andere Translations-Untergruppe, die kreisförmige Untergruppe,

die auf dem Kreis (auf Zylindern, auf Bogen und Bogengewölben) basiert

hat das architektonische Planen und Bauen bisher weniger bestimmt.

Aber sie folgte einer parallelen Spur einer latenten Evolution.

Die neolithischen Häuser, die archaischen Gräber, die Rotunden

haben sich, in Verbindung mit den Techniken des nahen Osten,

weiterentwickelt zur Kuppel, dem ersten vorsichtig dreidimensionalen Element,

für das die Hagia Sophia eine entscheidende Etappe markiert.

(...)

Jetzt erleben wir die Morgenrote einer neuen Architektur mit,

die wirklich dreidimensional ist, auch reicher und überraschender.

Es ist die Architektur der volumetrischen Gruppe.

Für das Verhältnis zwischen Musik und Architektur

ist die künstlerische Arbeit von Iannis Xenakis besonders aufschlußreich -

und zwar vor allem deswegen,

weil hier nicht nur (wie auch in traditionelleren Werken anderer Komponisten)

Einflüsse architektonischen Denkens auf kompositorische Vorstellungen nachweisbar sind,

sondern umgekehrt auch architektonische Konzeptionen,

die von kompositorischen Ideen inspiriert sind.

Xenakis selbst hat darauf hingewiesen,

daß seine Entwurfsskizzen für den Philips-Pavillon in Brüssel

von musikalischen Skizzen angeregt worden sind:

von auf Millimeterpapier fixierten Skizzen für die Glissando-Linien.

Die Linienbündel in den musikalischen Skizzen für dichte Glissando-Bündel

regten Xenakis zu architektonischen Stützkonstruktionen an,

die als Gerüst für darüber gespannte gekrümmte Wandflächen dienten.

Dazu war es notwendig, die musikalischen Glissando-Skizzen

gleichsam als Darstellungen projektiver Geometrie zu lesen -

als imaginäre Stützkonstruktionen,

auf deren Basis sich der Musikhörer dann komplexe gekrümmte Klangflächen vorstellen kann.

evtl. ZUSPIELUNG: Glissandostruktur Metastaseis (vor Schluß-Kontraktion)

7´45 (tief: einblenden) bis 7´54 (Pause)

evtl. Glissandostruktur Pithoprakta

Gekrümmte Flächen, wie sie sich beim Hören dichter Glissandi

in der Phantasie des Hörers als imaginäre Klangflächen bilden können,

werden zur sichtbaren Realität,

wenn Iannis Xenakis sie als kurvige Flächen des Philips-Pavillons konstruiert.

Dabei war es schon im Planungsstadium wichtig,

für die Realisierung der durch Musik angeregten gekrümmten Flächen

auch das passende architektonische Material zu finden.

Le Corbusier hat in der Begleit-Dokumentation zu "Le poème électronique" berichtet,

daß Xenakis auch daran wesentlichen Anreil genommen hat.

Le Corbusier schreibt:

Wir dachten erst an eine Stuckkonstruktion -

das gefundene Material für zeitliche Ausstellungsräume -

in Form einer an einem Gerüst hängenden Flasche.

Aber Xenakis - der in Paris mit der Ausarbeitung beschäftigt war,

gab die Idee der Gipskonstruktion sehr bald auf.

Er, der Brnard Lafaille gut kannte,

dachte an Beton und wandte sich den selbsttragenden krummen Flächen zu.

Nachdem er seine ersten Zeichnungen fertiggestellt hatte,

benutzte er für sein erstes Modell Eisendraht und Nähgarn.

Danach baute er ein zweites Modell und überzog es mit Zigarettenpapier.

Xenakis erläutert seine Entscheidung für Beton mit folgenden Worten:

Der Spannbeton, der ursprünglich das Holz- und Steingeräust kopierte,

war naturgemäß vorbestimmt, als Grundelement dieser neuartigen Bemühungen zu dienen.

Sein Wesen ist die Kontinuität.

Der Beton kann willkürliche Formen annehmen.

Mit ihm lassen sich Balken und Pfosten verwirklichen,

jedoch auch massive Blöcke und ausgebreitete Schalen,

die nach Wunsch äussert dünn, flach oder krumm sein können.

Nach diesen Überlegungen entstand eine Architektur,

von der uns heute nur noch Pläne und Fotos erhalten sind.

Das Gebäude wurde nach dem Ende der Weltausstellung demontiert.

Erhalten geblieben ist eine kurze Musik,

die Xenakis komponiert hat als Einleitungsmusik für die eintretenden Besuchers.

Der Titel dieser kurzen konkreten, aus Geräuschen brennenden Holzes gestalteten Tonbandmusik spielt an

auf die parabolisch-hyperbolischen Flächen,

die der Architekt Xenakis konstruiert hat:

"Concret PH".

ZUSPIELUNG: Concret PH vollständig. 2´42. EMF INA CD 003

Mit dem kurzen Tonbandstück "Concret PH"

einen neuen Ansatz zur Verbindung von Musik und Architektur gefunden.

Die Kontinuität dieser Musik ergibt sich nicht aus gleitenden Tonkurven und Klangflächen,

sondern, in paradoxer Weise, aus deigentlich diskontinuierlichen Elementen:

aus dichten Häufungen kurzer Impulse,

die erst in dichten Massierungen quasi-kontinuierliche Zusammenhänge,

gleichsam aufgerauhte Klangflächen bilden können.

Die Tonbandmusik "Concret PH" markiert eine wichtige Zäsur

in der Entwicklung der Beziehungen zwischen Musik und Architektur:

In der Musik des 20. Jahrhunderts ist es das erste Werk,

das ein Komponist für eine von ihm selbst entworfene Architektur komponiert hat -

im Zusammenhang eines interdisziplinären,

neben der Musik auch die bildende Kunst einbeziehenden Projektes.

Das von Le Corbusier geleitete Projekt "Le Poème Électronique",

für das Iannis Xenakis nicht nur ein kurzes Musikstück,

sondern vor allem auch die architektonische Planung ausgearbeitet hatte,

war eines der wichtigsten mehrere Künste vereinigenden Projekte des 20. Jahrhunderts.

Die Genese dieses Projektes im zeitgeschichtlichen Kontext der mittleren 1950er Jahre

hat Bart Lootsma genauer beschrieben:

Ende 1955 entstanden bei Philips die ersten ernstzunehmenden Pläne

zur Teilnahme an der ersten Weltausstellung nach dem 2. Weltkrieg,

die 1958 in Brüssel stattfinden sollte.

Diese Weltausstellung hatte als Zielvorstellung,

"eine Bilanz der Welt zu geben,

damit alle Menschen sich aufmachen sollten,

um eine menschlichere Welt aufzubauen,"

und damit meine man etwas anderes als die Situation, in der man sich befand,

nämlich auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges.

(...)

Philips wollte auf dieser Weltausstellung

nicht mehr unter der Flagge eines Landes in Erscheinung treten, was damals gebräuchlich war,

sondern zum ersten Mal "multinational".

Ingenieur L. C. Kalff, der als General Art Director der Firma Philips das Projekt initiierte,

hat bereits am 9. Januar 1956 in einem Brief seine Vorstellungen detailliert beschrieben.

Darin hieß es:

Wir werden im Inneren des Pavillons

eine Synthese von Licht und Ton in einer vollständig neuen und modernen Form darbieten.

Wir denken vage an eine große Kuppel,

in der sich die Wände in Licht und Farbe

zu dem Rhythmus moderner Stereomusik laufend verändern,

wobei am Ende der Vorstellung, die 6 Minuten dauern soll,

ein mehr oder minder abstraktes Monument

in dem mittleren oder hinteren Teil der Kuppel sichtbar werden soll,

das symbolisch den Stammbaum von Philips mit seinen Produkten sichtbar macht.

Wenn man den Raum verläßt, kommt man durch einen Gang,

in dem man die elektronischen Apparate sehen kann,

die die Ausstellung automatisch ablaufen lassen.

In einem Bericht, der zwei Jahre später, nach Vollendung des Projektes geschrieben wurde,

hat Korff deutlich gemacht,

daß der Effekt einer die Vorstellung krönenden Firmen-Reklame,

wie er ihn 1956 (vielleicht aus taktischen Gründen) noch vorgesehen hatte,

letzlich keine Rolle mehr spielte - was angeblich schon von Anfang an beabsichtigt war.

1958 schrieb Korff:

Als Philips im Jahre 1956 den Entschluss fasste, an der Brüsseler Weltausstellung teilnzunehmen,

war man sich von vornherein darüber einig, keine Prouktionsausstellung zu zeigen(...)

Man wollte (...) keine technische Leistung zeigen, sondern eine künstlerische;

man suchte nach Möglichkeiten, mit Hilfe technischer Produkte

neue Ausdrucksmittel zu schaffen,

Empfindungen hervorzurufen, die auch für die Zukunft von Bedeutung sein werden.

Von Anfang an schien klar, daß hierfür die Mitwirkung

renommierter Künstler aus verschiedenen Bereichen notwendig war.

1958, im rückblickenden Bericht,

erwähnt Korff einige hierfür zunächst in Betracht gezogene Möglichkeiten:

Während der ersten Besprechungen glaubte man,

die Verwirklichung des Philips Pavillons folgender Gruppe anvertrauen zu können:

einem Architekten, einem Schriftsteller und einem Komponisten

und vielleicht Kunstmalern und Bildhauern.

Die bekanntesten Künstler sollten um ihre Mithilfe gebeten werden.

Diese Mitteilung post festum bezieht sich offenbar auf ein relativ frühes Planungsstadium.

Kalffs Brief vom 9. Januar 1956 nennt andere Einzelheiten,

zieht den Kreis möglicher Mitarbeiter enger und bringt konkrete Namen ins Spiel.

Dort heißt es:

Selbstverständlich hängt der Erfolg einer Vorstellung

in erster Linie von der Darbietung ab,

und deswegen haben wir daran gedacht, den Pavillon durch bekannte Künstler entwerfen zu lassen.

Wir haben dabei an Le Corbusier für den Pavillon, Zadkine für das Monument

und Benjamin Britten für die Musik gedacht.

Den Architekten Le Corbusier wollte Korff beauftragen,

weil, wie er schrieb, Fotos der gerade fertiggestellten Kapelle in Ronchamp

ihn beeindruckt hatten:

Das Innere scheint Elemente zu besitzen, die auch in dem Philips-Pavillon anwendbar sind.

Als Korff am 24. Februar 1956 einen ersten Besuch bei Le Corbusier machte,

stellte er fest, daß dieser nicht nur Architekt, sondern auch Gesamtplaner werdem wollte.

Dementsprechend kritisch äußerte er sich über die ihm zugedachten Partner.

Korff berichtet:

Als wir den Namen des Komponisten Benjamin Britten und des Bildhauers Zadkine

als Mitarbeiter nannten,

meine er, daß ein französischer Komponist Varèse -

der in diesem Augenblick in New York wohnte -

bemerkenswertere Dinge zustandebringe als Britten,

und daß er Zadkine nicht für den besten Bildhauer hielt, den man bekommen könne,

derweil er seine eigenen Verdienste als räumlich schaffender Plasticus

nicht unter den Scheffel st ellte.

(...)

Da es in der Hauptsache eine Aufgabe für "innen" war,

konnte ihm die äußere Erscheinung von diesem Gebäude nicht viel bedeuten.

Wer die Genese des Projektes kennt, kann verstehen,

daß keineswegs von Anfang an feststand,

daß die innovativen Absichten einer Firma

auch tatsächlich zu innovativen Synthesen zwischen verschiedenen Künsten führen würden.

Wie schwierig dies hätte werden können, kann man sich vergegenwärtigen,

wenn man sich ein populäres Werk von Benjamin Britten anhört -

Musik, die nicht ohne weiteres neuartigen Synthesen mit neuer Architektur einlädt.

ZUSPIELUNG: Britten: A young person´s guide to the orchestra, Anfang (kurzer Ausschnitt)

Musik von Edgard Varèse, wie sie sich Le Corbusier für sein Projekt wünschte,

hatte mit der gemäßigten Moderne Brittens denkbar wenig zu tun.

ZUSPIELUNG: Varèse: Amériques Anfang (Solo - Tutti - Ausblenden auf neuem Solo)

(oder evtl. Hyperprism Anfang)

Das Projekt "Le Poème Électronique" wäre mit Sicherheit

in der uns heute bekannten Form nicht zustande gekommen,

wenn Le Corbusier sich nicht mit dem Verlangen durchgesetzt hätte,

mit der künstlerischen Planung des gesamten Projekts betraut zu werden.

Nähere Einzelheiten hierüber wissen wir aus dem Bericht von Kalff:

Die ersten Unterredungen hatten wir mit Le Corbusier,

der unseren Vorschlag, eine Philips Pavillon zu bauen, ablehnte.

Jedoch die Aussicht darauf,

Ausdrucksmittel wie Farbe, Licht, Form und Bild mit Ton zu einem Ganzen verschmelzen zu lassen,

veranlassten ihn zu dem Vorschlag,

den Pavillon als eine leere Schale zu entwerfen,

in der alle technischen Installationen verwendet werden sollten,

um so einer neuen Kunst den Weg zu öffnen.

Nur einen Mitarbeiter wollte Le Corbusier akzeptieren -

ja, er machte sogar dessen Mitwirkung zur ausdrücklichen Bedingung:

Als Partner für die Ausführung der Musik

wünschte er sich den mit ihm befreundeten Komponisten Edgard Varèse,

dessen musikalische Kühnheit er zu schätzen wußte

und dessen Ideen er als einen eigenen ästhetischen Innovationen ebenbürtig empfand.

Le Corbusier selbst wollte sich um die Gesamtplanung

und insbesondere um die Bild- und Lichtgestaltung kümmern.

Er selbst hat später berichtet,

mit welchen Argumenten er seine eigene Konzeption durchgesetzt hat:

"Ich werde keine Philips-Fassade bauen, sondern ein elektronisches Gedicht.

Es wird sich alles im Innern abspielen - Ton, Licht, Farbe und Rhythmus.

Ein Gerüst wird das Äussere des Pavillons bilden."

Meine einzige Bedingung war,

dass der französische Musiker Edgar Varèse, der wie ich "siebzig Jahre jung" war,

die elektronische Musikflut hervorzaubern sollte.

Das Votum für Varèse,

das sich nur gegen einigen Widerstand von seiten der Auftraggeber durchsetzen ließ,

führte dazu, daß Iannis Xenakis, der junge Mitarbeiter von Le Corbusier,

zunächst nur als Architekt in die Planung einbezogen wurde, nicht als Komponist.

Dies bedeutete allerdings keineswegs,

daß Xenakis mit dieser Entscheidung hätte unzufrieden sein müssen. Im Gegenteil:

Schon 1955 hatte Xenakis einen Artikel veröffentlicht,

indem Edgard Varèse als einen der wichtigsten zukunftsweisenden musikalischen Neuerer

gefeiert wurde -

als ein Überwinder des traditionellen linearen musikalischen Denkens,

wie es bis in die serielle Musik hinein wirksam geblieben war.

Varèse war für Xenakis ein wichtiger Pionier moderner vieldimensionaler Musik:

Varèse hat, aus Instinkt und ausgehend von einer ästhetischen Konzeption,

die fremd zur seriellen Musik ist,

Akkumulationen von Rhythmen, Klangfarben und Intensitäten verwendet

in "Intégrales", "Ionisation" und "Déserts".

ZUSPIELUNG: Intégrales Anfang

Auch Varèse selbst beschreibt seine musikalischen Vorstellungen

als Loslösung von traditionellen Konzepten

und als Ideen der räumlichen Gestaltung mobiler Klänge und Klangprozesse.

Der 1883 geborene Varèse gehört zu den kühnsten Pionieren

in der Musik des 20. Jahrhunderts.

Seit den zwanziger Jahren hat er mit seinen Werken und Ideen

der Musik neue Wege gewiesen.

Seine Werke hat er oft mit Worten beschrieben, in denen sich andeutet,

daß seine musikalische Idee eigentlich über die tatsächlich verfügbaren Klangmittel

weit hätte hinausgehen wollen.

In diesem Sinne hat er sich beispielsweise über sein Instrumentalwerk "Intégrales" geäußert:

Die Intégrales wurden für eine räumliche Projektion entworfen.

Ich konstruierte sie für gewisse Mittel, die noch nicht existieren,

die aber, dessen war ich gewiß,

einmal erreicht werden können und früher oder später benutzt werden dürften.

Ich werde mich bemühen, eine Vorstellung davon zu geben.

Während wir in unserem musikalischen System Klänge anordnen, deren Werte festgelegt sind,

suchte ich eine Verwirklichung,

bei der die Werte fortwährend im Verhältnis zu einer Konstanten verändert werden.

Mit anderen Worten, es wäre wie eine Reihe von Variationen,

wobei die Veränderungen aus leichten Modulationen der Form einer Funktion resultierten

oder aus der Transponierung einer Funktion in eine andere.

Varése war sich dessen bewußt,

daß seine Forderungen im Bereich der Musik viel schwerer zu auszusprechen und zu realisieren waren

als im Bereich visueller Ereignisse, in dem sie sich viel leichter vorstellen ließen:

Um dies besser zu begreifen,

übertragen wir, da das Auge viel schneller und geübter ist als das Ohr,

diese Vorstellung ins Optische

und betrachten die wechselnde Projektion einer geometrischen Figur auf eine Fläche,

wobei Figur und Fläche sich beide im Raum bewegen,

aber jede nach ihren eigenen Geschwindigkeiten,

die veränderlich und verschieden sind, die sich verschieben und rotieren.

(Die augenblickliche Form der Projektion

ist durch die Relation zwischen Figur und Fläche in diesem Augenblick bestimmt.

Aber wenn man erlaubt, daß die Figur und die Fläche ihre eigenen Bewegungen haben,

ist es möglich, mit der Projektion

ein äußerst komplexes und scheinbar unvorhersehbares Bild zu erhalten.

Diese Qualitäten können noch vermehrt werden,

wenn man die Form der geometrischen Figur ebenso wie ihre Geschwindigkeiten variiert...

In diesen Worten deutet sich, teilweise in rätselhafter Verschlüsselung, an,

welche Musik Varèse eigentlich vorschwebte:

Eine in ihren Gestaltungsmöglichkeiten völlig freie,

aus den Begrenzungen traditioneller Tonsysteme und Klangmittel

sich lösende Klangkunst.

Was Varèse in den zwanziger Jahren notgedrungen für herkömmliche Instrumente notierte,

war eigentlich bestimmt für die realiter damals gar nicht existierenden Möglichkeiten

moderner elektronischer Musik.

ZUSPIELUNG: Intégrales (Fortsetzung)

Erst 1954 war es so weit, daß Varèse ein Stück zur Uraufführung bringen konnte,

in dem neben instrumentalen auch elektroakustische Klangmittel verwendet worden waren:

"Déserts" (Wüsten) für Instrumentalensemble und Tonband.

Im Miteinander instrumentaler und elektroakustischer Klänge,

vom Live-Spiel der Musiker mit der stereophonen Tonbandwiedergabe,

verbinden sich Aspekte der imaginierten und realen Räumlichkeit von Musik.

ZUSPIELUNG: Déserts: Instrumentalabschnitt - Tonband-Interpolation

Die Gliederung des Werkes beschreibt Varèse als differenzierten mehrfachen Wechsel

zwischen live und technisch produzierten Klängen:

Es gibt vier Instrumentalsätze von unterschiedlichem Umfang

und drei Einschaltungen präparierter Klangmaterialien.

Für die instrumentalen Partien stellt Varèse sich ein imaginativ-räumliches Hören vor:

Die Musik, die das Instrumentalensemble hervorbringt,

entwickelt aus gegenübergestellten Flächen und Blöcken

die Vorstellung der Bewegung oder des Raumes.

Die auf Tonband aufgenommenen Klänge sollen dagegen

in realer räumlicher Differenzierung gehört werden.

(Varèse erklärt, daß sie

mittels des Stereophonsystems wiederzugeben sind,

um dem Hörer die Vorstellung einer räumlichen Verteilung der Tonquellen zu vermitteln.

Er spricht also von Raumdispositionen, aber nicht ausdrücklich von räumlichen Bewegungen.)

ZUSPIELUNG: Déserts - Interpolation (kurzer Ausschnitt, andere Interpolation als zuvor)

Die Uraufführung der "Déserts" fand im französischen Rundfunk statt.

Es war in der französischen Rundfunkgeschichte

das erste Konzert, das stereophon übertragen wurde.

Die Konzertbesucher bekamen das neue Stück

im Zusammenhang eines Programms zu hören,

das außerdem auch eine Ouverture von Mozart und eine Symphonie von Tschaikowsky enthielt.

Die Reaktionen des Publikums fielen dementsprechend aus:

Die Musik von Varèse provozierte einen heftigen Skandal,

dessen akustische Spuren sich deutlich in dem heute noch erhaltenen Live-Mitschnitt verfolgen lassen.

evtl. ZUSPIELUNG: Varèse, Déserts Uraufführung

(anzufordern bei Radio France

oder INA-GRM Paris Daniel Teruggi, 116 avenue du Président Kennedy, Paris)

Besonders heftige Publikums-Reaktionen gab es beider Uraufführung der "Déserts"

natürlich an Stellen,

bei denen das Orchester zu spielen aufhörte

und ausschließlich Klänge aus den Lautsprechern zu hören waren -

Klänge, deren provozierender Charakter

schon aus den kommentierenden Worten des Komponisten ablesbar ist:

Was die Tonband-Interpolationen betrifft, so ist hervorzuheben,

daß die erste und dritte auf industriellen Klängen basieren

(Klängen des Reibens, Schlagens, Pfeifens, Mahlens, Blasens),

die durch elektronische Verfahren gefiltert, verwandelt, transponiert und gemischt

und nachher, gemäß dem festgelegten Plan des Werkes, zusammengesetzt wurden.

(In Verbindung mit diesen Klängen gibt es als stabilisierendes Strukturelement

(besonders in der dritten Einschaltung)

instrumentale Schlagzeugpartien,

von denen einige sich in der Partitur finden, daneben aber auch andere, neue.

Die zweite präparierte Tonbandeinschaltung zieht ein Ensemble von Schlagzeuginstrumenten heran.

ZUSPIELUNG: Déserts Tonband-Interpolation (andere als zuvor - oder Zusammenschnitt I-III)

Musik für Orchester und Tonband konnte in den frühen 1950er Jahren als Provokation erscheinen.

Lautsprecherklänge im Konzertsaal erschienen vielen ähnlich provokant

wie Lautsprecherklänge in der Kirche.

Klangmittel, Hörgewohnheiten und Aufführungsort

schienen vielen nicht zueinander zu passen.

Erst im Projekt "Le Poème electronique" schienen diese Bedingungen

besser aufeinander abgestimmt zu sein.

Moderne elektroakustische Klänge wurden präsentiert

in moderner architektonischer Umgebung.

ZUSPIELUNG: Le poème electronique Anfang

Auf die Suche nach neuen klanglichen und räumlichen Wirkungen der Musik

hat sich Varèse schon in jungen Jahren begeben.

1959 hat er dies im Rückblick mit folgenden Worten beschrieben:

Als ich zwanzig Jahre alt war, stieß ich auf eine Definition der Musik,

die plötzlich Licht zu werfen schien auf meine tastenden Wege zu einer Musik,

die, wie ich fühlte, existieren könnte.

Der Physiker, Musikologe und Philosoph der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Hoéne Wronsky

definierte die als

"die Verkörperung der Intelligenz, die in den Klängen ist".

Es war für mich eine neue, aufregende und die erste völlig einleuchtende Konzeption von Musik.

Hier lag für mich wahrscheinlich der erste Ansatzpunkt, mir Musik räumlich vorzustellen,

mir die Klänge als bewegliche Tonkörper im Raum zu denken,

eine Konzeption, die ich selbst stufenweise entwickelte und realisierte.

Die Definition Wronskys brachte mich auch dazu,

die Klänge als lebendige Materie aufzufassen, die dazu geschaffen ist,

frei mit ihr zu schalten,

uneingeschränkt von scholastischen Fesseln und akademischen Intervallvorstellungen.

ZUSPIELUNG: Varèse, Ionisation Anfang (Einleitung - Trommel-Thema)

Die dynamische Räumlichkeit, die Varèse in seiner Musik anstrebt,

hat offenbar auch den Architekten Le Corbusier interessiert,

der die Musik von Varèse als wesensverwandt mit seiner eigenen Kunst empfand.

Varèses Komposition "Poème Electronique",

die schließlich als musikalischer Beitrag zum Projekt Le Corbusiers entstand,

war vom Komponisten ausdrücklich als Raummusik konzipiert. Er schrieb:

Was meine Musik zu dem "elektronischen Gedicht" (1958) betrifft, so bin ich überzeugt,

daß bei den Fortschritten, die bereits auf diesem Gebiet gemacht sind,

möglich sein wird, die geforderte räumliche Wirkung zu erreichen.

Die ständige Vervollkommung in der Elektronik wird Applikationsmöglichkeiten eröffnen,

welche die Musik (...) bereichern werden.

ZUSPIELUNG: Varèse, Poème Électronique Anfang

Varèses Musik ist heute nur noch als Tonbandmusik zugänglich.

Ihren ursprünglichen audiovisuellen Texten kennen wir nur noch aus Texten und Bildern.

Wir wissen, daß für das visuelle Geschehen im Pavillon

Le Corbusier sich die Hauptverantwortung vorbehalten hatte,

daß aber andererseits Varèse bei der Gestaltung der Musik frei verfahren durfte.

Nur eine einzige Bedingung hatte Le Corbusier gestellt:

An einer bestimmten Stelle sollte die Musik schweigen.

Nicht einmal an diese Bedingung hat Varèse sich gehalten:

Le Corbusier ließ ihn gewähren, als er ihm erfahren mußte,

daß ausgerechnet an der vorgeschriebenen Stelle

die Musik keineswegs pausiert, sondern extrem laut ist.

evtl. ZUSPIELUNG: Poème électronique, laute Stelle (z. B. Schluß)

In der Begleitbroschüre zu "Le Poème Électronique",

die anläßlich der Brüsseler Weltausstellung erschien,

wird dieses Projekt als zukunftsweisend für die Zukunft der Künste beschrieben.

In einem Beitrag von Jean Petit, einem Mitarbeiter an diesem Projekt, werden Perspektiven

künftiger künstlerischer und auch wissenschaftlicher Entwicklungen aufgezeigt,

die noch am Ende des 20. Jahrhunderts

nicht in der damals vorausgeahnten Weise realisiert worden sind:

(Tagtäglich löst die Wissenschaft neue Kräfte aus.

Mit Erfindungen an den Fingerspitzen ersinnt der Mensch Neues,

ohne sich jeweils um die Folgen zu kümmern, die er heraufbeschwört,

während seine in unaufhörlicher Entwicklung befindlichen Ausdrucksmöglichkeiten

immer mehr durch die Technik bedingt sind.)

Radio, Kino, Fernsehen haben dem Menschen von heute neue Perspektiven eröffnet.

Es handelt sich jedoch vorläufig nur um Entwürfe.

Die Literatur bleibt die hauptsäächlichste Ausdrucksmöglichkeit unserer tumultvollen Zeit.

Morgen wird vielleicht die Sprache der Maschinenzivilisation nicht mehr die gleiche sein...

Die Schauspieldichtung wird aus den umrahmten Bühnen heraustreten,

wird die Projektionsleinwand zerreissen,

um ihren ursprünglichen Geist in der Strasse, in der Arena oder im Stadion wiederzufinden.

Der Dichter wird seinen Gedanken ein anderes Gesicht geben können,

wird dank elektronischer Apparate über Ton, Licht, Farbe, Bilder und Volumina verfügen.

Vielleicht werden die neuen Ausdrucksmöglichkeiten diesen "Elektronischen Spielen" ähneln,

von denen Le Corbusier kürzlich mit seinem "Elektronischen Gedicht" ein Beispiel vorgeführt hat,

das er selber in einer beweglichen Architektur unterbringt.

Nicht eine Idee sondern ein Gefühl hat er mit diesem Werk zum Ausdruck bringen wollen,

dessen Geist er wie folgt definiert:

"Das Elektronische Gedicht will veranschaulichen,

wie unsere Zivilisation inmitten eines beängstigenden Tumults

die Eroberung der Neuzeit erstrebt."

evtl. ZUSPIELUNG: Poème électronique (je nach Sendezeit, z. B. Forts. der vor. Zuspielung)

Das Zusammenwirken von Ton, Licht, Farbe und Rhythmus in seinem "elektronischen Gedicht"

hat Le Corbusier mit folgenden Worten beschrieben:

Unser Problem war folgendes:

Das Gedicht darf zehn Minuten dauern,

fünfhundert Personen müssen das Ereignis stehend miterleben könne -

zwei Minuten Pause und acht Minuten für die Vorführung.

Man beschloss als erstes, dass das Gehäuse

eine Art Magen mit einem Eingang und einem getrennten Ausgang sein sollte.

Zweiter Beschluss:

Da das Publikum stehend vor sich schaut,

müssen zwei fast vertikale konkave Wände vorhanden sein,

durch die der Zuschauer auch über den Kopf seines Nachbarn hinwegsehen kann.

Als ästhetische Komponenten der Vorstellung nannte Le Corbusier

zunächst Bereiche Ton, Licht, Farbe und Rhythmus.

In einem späteren Entwurfsstadium unterschied er Licht, Farbe, Rhythmus, Ton und Bild.

In Worten skizzierte er erste Gestaltungsideen,

die später vor allem für Auswahl und Zusammenstellung der Bilder wichtig werden sollten:

Kontrast zwischen Tag und Nacht und alle Nuancen der "Dämmerung",

"Stimmungen", die fünfhundert Besucher fesseln

und ihnen psychophysiologische Eindrücke vermitteln werden:

rot, schwarz, gelb, grün, blau und weiss.

Evokationsmöglichkeiten: Morgenräte, Brand, Gewitter, Zeitmessung:

Rhythmus, Elegie und Katastrophen.

Erfindung Varèse´s mit Hilfe des Philips-Akustikers Herrn Tak:

eine stereophonische Musik,

die eine statische Räumlichkeit erweckt

oder Bewegung in ihr mit der notwendigen Anzahl Lautsprecher

(insgesamt werden vierhundert die Zuschauer umgeben).

Geräuschmassen, Lärmberge oder Tonspümpfe.

Als Kontrast: Geräuschrouten,

auf denen der Ton schnell oder langsam, sprungweise oder verbreitet läuft.

Ein unbeschreiblicher Lärm,

eine der Stille nahe, unendliche Ruhe,

die Stille selber.

evtl. ZUSPIELUNG: Poème électronique (z. B. längerer Ausschnitt bis Ende)

Für die visuelle Ausgestaltung seiner Ideen hat Le Corbusier,

in Zusammenarbeit mit Jean Petit,

ein Jahr lang Bilder aus verschiedenen Museen zusammengesucht

und einen Film drehen lassen.

Der achtminütige Ablauf wurde in einem Dreihbauch auf 480 horizontalen Streifen aufgezeichnet,

und das so koordinierte visuelle Geschehen lief gleichzeitig mit der Musik von Varèse ab.

Das Zusammenwirken der hörbaren und sichtbaren Ereignisse

hat Jean Petit mit folgenden Worten beschrieben:

Das gewaltige von Le Corbusier geschaffene Fresco und die mächtige Tondichtung von Edgar Varèse

mögen den Zuschauer verwirren;

sie stellen jedoch offensichtlich unleugbare, schöpferische

und für die Zukunft verheissungsvolle Kräfte dar.

Eine schmerzensjungfrau, eine Muschel, ein Chirurg,

und dann Kinder, Gesichter, Gegenstände...

Die Elemente des Dramas spritzen hervor, riesig, in der Schale des elektronischen Gedichts.

Die Töne zerplatzen. Die Farbe wirbelt im Raum. Der Rhythmus eilt rasend schnell dahin.

Alles ist jetzt Bewegung.

Ein eindrucksvolles Ballett von Farben, Tönen und Bildern umringt den Zuschauer von allen Seiten.

Sie befinden sich im Mittelpunkt eines totalen Schauspiels. Eine neue Sprache ist im Werden...

"Le Poéme Électronique", trotz aller zeitbedingten technischen Schwierigkeiten bei der Realisation,

als konkrete Utopie einer künftigen Entwicklung,

die im Zusammenwirken verschiedener avancierter Künste

neue ästhetische Erfahrungen erschließen sollte.

Das utopische, auf künftige Fortentwicklungen vorausweisende

und zugleich überschwenglich über auch diese hinausführende Potential,

hat vor allem Jean Petit zu beschreiben versucht

in einer in vielfältigen Metaphern umschreibenden poetischen Sprache:

Morgen, übermorgen, auf den öffentlichen Plätzen, den Kreuzwegen,

in den Stadien oder den Volksbelustigungszentren,

stellen Sie sich farbenreiche Perspektiven vor,

wo das Licht wie eine Sehnsucht fliesst,

wo Bilder den Raum durchqueren

und Töne das Himmelsgewölbe durchstossen.

Hunderttausend Zuschauer nehmen teil,

stimmen überein im Rhythmus dieser tätigen Welt.

(...)

(Nun ja, stellen Sie sich diese neue Festfeier vor,

diesen langanhaltenden Schrei einer wiedergefundenen Gemeinschaft,

den Sinn des Dramas, der Leidenschaft und des Glaubens,

die in der Kollektivseele lebendig sind...)

Das Manifest von Jean Petit, das die Ideen von Le Corbusier fortzuschreiben versucht,

läßt sich lesen als Ankünftigung künftiger Projekte,

die das in "Le Poème Électronique" Begonnene weiterführen.

Die wohl wichtigste Rolle bei der Weiterentwicklung multimedialer Projekte

auf der Basis von "Le Poème Électronique" hat Iannis Xenakis gespielt.

Nachdem er sich 1960 von Le Corbusier getrennt hatte,

zog er sich zunächst aus der Architektur zurück und konzentrierte sich auf die Komposition.

Erst seit 1967 boten sich ihm wieder Gelegenheiten für interdisziplinäre künstlerische Planungen,

in denen Hörbares und Sichtbares, Musik und Architektur sich miteinander verbinden konnten.

Es entstanden audiovisuelle Projekte, die Xenakis nicht nur im klanglichen,

sondern auch im visuellen Bereich plante und realisierte.

Hörbare und sichtbare Ereignisse wurden dabei so geplant,

daß sie sich nicht parallel, sondern in polyphoner Selbständigkeit entwickeln konnten.

So entstanden die sogenannten Polytope -

charakteristische Klang-Licht-Architekturen,

die Olivier Renault d´Allonnes

(in einem vorzüglich ausgestatteten großformatigen Bildband)

auch in ihren ästhetischen Ambivalenzen präzis beschrieben hat.

Die "polytopen" Werke charakterisiert er mit folgenden Worten:

Verstreut, aber einheitlich,

vielfältig, aber homogen,

gestaltet mit Variation und Imagination,

aber immer bezogen auf eine zentrale Idee.

Das von Xenakis erfundene Wort "Polytop"

setzt sich zusammen aus den griechischen Wörtern

poly (viel) und topos (Ort).

Der Begriff läßt sich verstehen als mehrdeutige Anspielung -

einerseits auf Vielzahl verschiedener Orte,

andererseits auf viel benötigten Platz, auf Großräumigkeit.

In den Zusammenhang der Polytop-Projekte gehören:

- das 1967 entstandene Polytop von Montréal,

- ein 1971 in Persepolis realisiertes Freiluft-Event,

- zwei Polytype in der Abtei von Cluny, die 1972 und 1973 entstanden sind, und schließlich

- Le Diatope, ein Projekt mit Klang- und Lichtereignissen

in einer von Xenakis gebauten Architektur;

das Projekt war ursprünglich bestimmt

für die Eröffnung des Centre Pompidou in Paris,

auf dessen Vorplatz es einige Zeit installiert war und für Vorführungen zur Verfügung stand;

später wurde das Bauwerk abgebaut, das Projekt wurde für einige Zeit in Bonn installiert;

anschließend wurde das Gebäude demontiert und nicht wieder neu aufgebaut.

Die Polytope sind verschiedenartige,

aber nach verwandten Prinzipien entwickelte polyästhetische Projekte.

Dabei geht es Xenakis um die Integration

und visueller, nicht zuletzt architektonischer Erfindung

und um die polyphone Gleichberechtigung von Klang-Gestaltung und Raum-Gestaltung.

Insofern unterscheiden die Ansätze von Xenakis

sich von Konzeptionen der Raum-Musik aus den fünfziger Jahren,

die auf rein musikalischer Basis entwickelt wurden

und für die sich dann oft erst nachträglich herausstellte,

daß es für ihre Aufführung eigentlich keine angemessenen Räumlichkeiten gab.

Während andere Komponisten in dieser Situation

mehr oder weniger utopische Forderungen

an Architekten künftiger Konzertsäle erhoben,

hat Xenakis dafür gesorgt,

daß für seine neue Musik zugleich neue Räumlichkeiten entstanden.

In gewisser Weise lassen sich seine Arbeiten in der Weise beschreiben,

daß er die Verräumlichung der Musik,

wie sie sich seit den fünfziger Jahren entwickelt hatte,

ergänzt durch die Gegenkonzeption einer Musikalisierung des Raumes:

Räumlich und zeitlich fixiert werden in den Polytopen

nicht nur Tonhöhen und Zeitwerte, Intensitäten und Klangfarben,

sondern auch Lichtgestaltungen und visuelle Formen.

Visuelle sollen sich in ihren abstrakten Gestaltungsprinzipien der Musik nähern.

Gleichwohl werden visuelle und klangliche Elemente nicht parallel,

sondern entsprechend ihren autonomen Eigengesetzlichkeiten entwickelt.

In den Polytopen erfüllt sich ein musikübergreifendes Denken von Iannis Xenakis,

das in ersten Ansätzen schon seit den 1950er Jahren sich abzuzeichnen begonnen hat.

Damals waren zunächst Linienstrukturen entstanden,

die zunächst als musikalische Notationen

und dann später als Tangentialkonstruktionen für architektonische Flächen gelesen wurden.

In den Polytopen erscheinen die Linien in wiederum anderem Kontext:

Als Linienbündel vielfarbiger Laserstrahlen.

Das erste Polytop entstand aus ähnlichem Anlaß wie "Le Poème Électronique":

Für die Weltausstellung 1967 in Montréal.

In diesem Projekt hat Xenakis versucht,

Konstruktionstechniken, die er zuvor in Musikstücken entwickelt und erprobt hatte,

zu übertragen auf die Lichtgestaltung:

Gebilde auf der konstruktiven Basis

der Wahrscheinlichkeitsrechnung, von logischen Strukturen oder von Gruppenstrukturen.

Xenakis arbeitet mit verschiedenen Beleuchtungsrhythmen,

die sich ausprägen, sich durchdringen und vereinigen

in einer allgemeinen Rhythmik neuer Art.

Die Lichtgestaltung geht aus von der Diskontinuität, von einer Vielzahl einzelner Lichtpunkte.

Die Musik ist im beziehungsreichen Kontrast zum Lichtgeschehen ausgestaltet: als Glissandostruktur.

Xenakis beschreibt sie mit folgenden Worten:

Der Klang wechselt, aber er hält nicht inne.

Dies ist eine instrumentale Musik für klassische Orchesterinstrumente.

Eine Musik ohne elektronische Transformation.

evtl. ZUSPIELUNG: Le Polytope de Montréal. Ausschnitt von Anfang (oder evtl. Schluß)

Dem "Polytop von Montréal" folgte vier Jahre später ein Klang-Licht-Spektakel in Persepolis,

in dem visuelles und klangliches Geschehen

wiederum in kontrapunktischer Selbständigkeit kombiniert sind.

Die Lichtgestaltung realisiert sich als Lichterprozession

mit 150 Kindern, die über die umliegenden Berge ziehen.

Die Musik ist eine auf Achtspurtonband realiserte Montage,

deren Einzelspuren verschiedene Musikfragmente

nach charakteristischen Verwandtschaftsbeziehungen zusammengestellt sind.

evtl. ZUSPIELUNG: Persepolis

Xenakis geht davon aus, daß die Komposition von Klängen

und ihre strukturelle Ordnung in verschiedenen Dimensionen

wie Höhe, Dauer, Intensität oder Klangfarbe

sich auf Prozeduren stützen kann,

nach denen sich auch andere, über die Musik hinausführende Bereiche künstlerisch gestalten lassen,

z. B. räumliche Figurationen

von Punkten oder Oberflächen in verschiedenen zeitlichen Konstellationen.

Xenakis versucht dabei, von einer allgemeinen Formel auszugehen,

die hinreichend einfach und präzise ist, um verständlich zu sein.

In visuellen Zusammenhängen ergab sich dabei die Möglichkeit,

architektonische Ideen aus der Zeit des Philips-Pavillons weiter zu entwickeln.

Die Musiken wurden durchweg

im polyästhetischen Kontrapunkt zu den visuellen Ereignissen entwickelt

mit von Projekt zu Projekt wechselnden Besetzungen, Klangquellen und Klangkonstellationen.

Diese Musiken sind in Partituren und auf Aufnahmen studierbar,

während das Studium der visuellen und audiovisuellen Zusämmenhänge

außerhalb einzelner Aufführungen

nur in Verbindung mit Skizzen, Bildern und gegebenenfalls Filmen möglich ist.

Schwierigkeiten, ein ambitioniertes audiovisuelles Projekt längerfristig zu präsentieren,

zeigten sich besonders sinnfällig im Falle eines Projektes,

das für die Einweihung des Pariser Centre Georges Pompidou entworfen worden war.

Für dieses Projekt hatte Xenakis eine Architektur gebaut,

in der die fünfzigminütige Klang-Licht-Komposition aufgeführt werden konnte.

Das audiovisuelle Projekt erhielt den Titel "Le Diatope".

Der Musik gab Xenakis den platonischen Titel "La Légende d´Eer" (Die Legende des Eer),

unter dem die Komposition auch konzertant, als reine Tonbandmusik aufgeführt werden kann.

In der ursprünglich vorgesehenen Form wurde dieses Stück zunächst

1978 in Paris, auf dem Vorplatz des Centre Pompidou, präsentiert.

Später wanderte es für einige Zeit nach Bonn,

wo es, in Verbindung mit einem großen Xenakis-Festival,

für einige Zeit installiert wurde.

Leider gelang es aber nicht,

das Projekt auf Welttournee zu schicken und anschließend dauerhaft am einem festen Ort aufzubauen.

Letztlich blieb auch von diesem Projekt,

von Foto- und Fernsehdokumentationen abgesehen,

nur die Musik längerfristig erhalten:

Als isoliertes Klangereignis,

das eigentlich für einen weiter umfassenden, diese Isolierung aufhebenden

ästhetischen Zusammenhang bestimmt war.

ZUSPIELUNG: La Légende d´Eer Anfang

Die elektroakustische Tonbandmusik "La Légende d´Eer",

die für das audiovisuelle Projekt "Le Diatope" komponiert wurde,

ist vielleicht das aufschlußreichste Beispiel dafür,

wie sich auf der Suche nach neuen Beziehungsmöglichkeiten zwischen Musik und Architektur

einerseits vielfältige neue Möglichkeiten ergeben können,

wie aber andererseits auch die längerfristige Koordination beider Bereiche

immer wieder auf praktische Schwierigkeiten stoßen kann.

Ein gleichberechtigtes Nebeneinander verschiedener Künste

ließe sich eigentlich insbesondere für Musik und Architektur gut vorstellen,

da hier weniger hierarchische Konflikte zu befürchten sind

als etwa im Miteinander von Musik und Sprache oder auch von Musik und Film.

Die potentiellen Chancen einer gleichwertig-polyphonen Kopplung beider Künste,

die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt hatten,

konnten realiter bis zum Ende dieses Jahrhunderts nur teilweise genutzt werden.

Bis zum Ende dieses Jahrhunderts blieb die Etablierung

eines neuen und dauerhaften Verhältnisses zwischen Musik und Architektur

eine verlockende, aber leider letztlich noch uneingelöste Verheißung.

ZUSPIELUNG: Xenakis, Metastaseis Anfang (ausblenden nach Tremolo auf Triangelschlag)

Musik als klingende Zeit erfahren wir besonders sinnfällig dann,

wenn das klangliche Geschehen erlebbar ist als klar gerichteter Prozeß.

Wenn Töne oder Klangkomplexe sich in klar erkennbaren Richtungen bewegen,

dann wird das Ablaufen des musikalischen Prozesses

zum deutlichen Sinnbild der ablaufenden Zeit.

Wenn wir diesen Zeitablauf verfolgen,

dann interessieren wir uns in erster Linie nicht für den Aspekt "Musik als klingende Architektur",

sonder für den Aspekt "Musik als klingende Zeit, als mit dem Ohr verfolgbarer Zeitablauf."

Wir erleben Musik dann zunächst nicht als momentan erfaßbare,

vorausahnbare oder in der Erinnerung zusammengefügte Zeitgestalt, als architektonische Form,

sondern im Kommen und Gehen der Klänge, in ständiger Verwandlung.

ZUSPIELUNG: Ligeti, Atmosphères: Höllensturz (aufsteigende - abstürzende Textur)

Wie schwierig es ist, Musik mit Architektur zu vergleichen,

zeigt sich besonders deutlich an Musikbeispielen,

in denen die prozeßhafte Veränderung der Klänge sinnfällig hervortritt.

Es gibt Musikbeispiele, bei denen der Hörer grundsätzlich andere Erfahrungen machen kann

als beim Betrachten eines Bauwerkes:

Musik, die nicht als feste, quasi-räumliche Gestalt erscheint, sondern in zeitlicher Bewegung.

ZUSPIELUNG: Wozzeck III. Akt Zwischenmusik:

Chromatische Rückungen - Abflachung und Verlangsamung der Akkordrückungen -

Annäherung an den Stillstand ("Stiller - jetzt ganz still")

Musik kann sich so verändern, daß auch der Hörer die Perspektive wechseln muß:

Unaufhörlich verändernde Musik, "Musik als klingende Zeit" kann sich verwandeln

in ein statisches Klangbild, in "Musik als klingende Architektur".

Erst dann, wenn Musik vollständig zur Ruhe kommt und sich im stehenden Klang auflöst,

beginnt sie sich zu lösen aus dem Fluß der zeitlichen Wandlungen;

dann wird sie dem statischen räumlichen Gebilde vergleichbar.

ZUSPIELUNG: Schluß der vorigen Zuspielung

ZUSPIELUNG: Schaeffer, Suite 14: Musikfragment vorwärts - anschließend rückwärts

Verwandlungen zeitlicher in räumliche

(oder auch umgekehrt räumlicher in zeitliche) Vorstellungen

können sich beispielsweise dann abzeichnen,

wenn man versucht, sich sich ein Musikstück mit mehreren aufeinanderfolgenden Teilen

zusammenfassend als Ganzes vorzustellen.

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