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1.1.2 Exposé: John Cage und die Akustische Kunst


Rudolf Frisius

John Cage und die Akustische Kunst

(Exposé für eine Sendung des WDR, Studio Akustische Kunst, Red. Klaus Schöning)

Akustische Kunst als Grenzüberschreitung der Musik mit der Perspektive einer universellen Hörkunst des technischen Zeitalters: Wohl kein anderer Künstler hat diesen Ansatz im 20. Jahrhundert so frühzeitig entdeckt und über fast sechs Jahrzehnte hinweg so beharrlich weiterentwickelt wie John Cage. Seinen Ansatz könnte man beschreiben als produktive Antithese zur Musikalisierung der Literatur, wie sie bei Kurt Schwitters in der "Sonate in Urlauten" kulminierte: Schwitters geht aus von der Buchstabenschrift und gewinnt quasi-musikalische Strukturen, indem er die Grenzen vorgegebener sprachlicher Bedeutungen überwindet und semantische Zusammenhänge in Lautstrukturen aufsaugt; Cage geht (zumindest in seinem Frühwerk) von der traditionellen Notenschrift aus und erweitert deren Anwendungsbereiche, schließlich auch deren Zeichenrepertoire (bis hin zu extremen Konsequenzen der graphischen und der concept-art-Notation) so weitgehend, daß auch im tradierten Sinne musikfremde Materialien sich integrieren lassen, daß z. B. auch Stimm- und Sprachlaute in einer bis dahin nicht gekannten Konsequenz komponierbar werden (wenn z. B. schon in der Frühen "Living room music" musikalisch notierte Rhythmen ebenso für Sprechtexte verbindlich sind wie für zu Instrumenten umfunktionierte Alltagsgegenstände aus dem Wohnzimmer - wenn also die experimentelle Klang- oder Geräuschkunst die experimentelle Sprachkunst in sich aufsaugt).

Die Perspektiven der Musiksprache und der klanglichen Mittel hat Cage so radikal verändert, daß insbesondere auch die tradierten Abgrenzungen zwischen Musik und Sprache in Frage gestellt wurden und daß, in der Neuenteckung des Geräusches und der Musik als Geräuschkunst, auch neue Integrationsformen zwischen Musik und Hörspiel im Sinne Akustischer Kunst möglich wurden. All dies ist schon im Frühwerk angelegt und artikuliert sich seit den frühen vierziger Jahren sowohl im experimentellen Hörspiel als auch in experimenteller Vokal- und Instrumentalmusik. - Die universelle Erweiterung der klanglichen Möglichkeiten zeit sich in verschiedenen Bereichen: In der musikalischen Emanzipation von Stimme und Sprache - in der Erweiterung des Instrumentariums auch um unkonventionelle Klang- (bzw. Geräusch-)Erzeuger, gleichsam in der (vor allem in der rhythmischen Konstruktion) streng strukturellen Fortentwicklung früher futuristischer Transformation - in der Integration von Stimme und Sprache, Geräusch und Musik unter den Auspizien experimenteller Medienkunst. In zahlreichen Produktionen des Spätwerks, die seit "Roaratorio" sich explizit als Akustische Kunst präsentieren, kulminiert so eine künstlerische Entwicklung, die sich seit den dreißiger Jahren, auch über vielfältige Veränderungen der ästhetischen Prämissen hinweg, mit erstaunlicher Konsequenz vollzogen hat.
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