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Rudolf Frisius
Musique concrète
Musique concrète (Konkrete Musik) ist die von Pierre Schaeffer eingeführte Bezeichnung für Musik, die technisch fixierte Klänge als Ausgangsmaterialien verwendet und und bei deren Auswahl und Verarbeitung von den empirischen Gegebenenheiten der konkreten Hörwahrnehmung und den Möglichkeiten ihrer Dokumentation und Weiterentwicklung in modernen Techniken der Klangaufnahme und -verarbeitung ausgeht.Die ältesten Produktionen, für die Schaeffer diese Bezeichnung eingeführt und verwendet hat, sind seine 1948 entstandenen Etudes de bruits. Die wichtigsten technischen, kompositionstechnischen und theoretischen Grundlagen der konkreten Musik wurden von Pierre Schaeffer, Pierre Henry, Francois Bayle, Guy Reibel und Michel Chion entwickelt. Ihre Grundideen finden sich weitgehend bereits in Realisationen und theoretischen Publikationen der fünfziger und frühen sechziger Jahre, haben aber darüber hinaus weltweite Bedeutung für die Entwicklung der elektroakustischen Musik in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts gewonnen, ausgehend auch von Produktionen u. a. von RIEDL (Musique concrète, Studien Ia und Ib, 1951), BOULEZ (Études 1 et 2, 1951-1952), CAGE (Williams Mix, 1952), MESSIAEN (Timbres-durées, 1952; klangliche Realisation der Partitur: Pierre Henry) und VARÈSE (Tonbandinterpolationen zu Déserts, 1. Fassung, 1954; klangliche Realisation in Zusammenarbeit mit Pierre Henry; Poème électronique, 1958) und von zahlreichen Komponisten elektronischer und elektrakustischer Musik (u. a. Karlheinz Stockhausen, Iannis Xenakis, Luciano Berio, Luigi Nono, Ivo Malec, Francis Dhomont, Jean Claude Risset, Christian Clozier, Francoise Barrière, Michel Chion, Jaques Lejeune, Jean Schwarz, Daniel Teruggi, Ake Parmerud, Alejandro Vinao, Yves Daoust, Stéphane Roy, Robert Normandeau, Roxanne Turcotte, Javier Alvarez, Charles Armirkhanian, Philippe Mion, Denis Dufour, Christian Zanesi und Francois Donato). Klangmaterialien und Produktionstechniken der konkreten Musik finden sich auch in verschiedenen Bereichen der Popularmusik, z. B. in Aufnahmen der Gruppen THE BEATLES, PINK FLOYD, TEN YEARS AFTER, BLACK SABBATH, AGITATION FREE, CAN, KRAFTWERK, TANGERINE DREAM und in kooperativen Produktionen von Pierre HENRY und Popmusikern (Rock électronique, 1963; Messe pour le temps présent, mit MICHEL COLOMBIER, 1967; Ceremony, mit SPOOKY TOOTH, 1969).
1. Zur Terminologie
Konstitutive Merkmale der musique concrète sind:
a) Die Universalität des konkreten Klangmaterials, das potentiell alle Hörereignisse umfaßt, insbesondere unter gleichwertiger Berücksichtigung der verschiedenen Erfahrungsbereiche
a1) der (überwiegend geräuschhaften) Schallereignisse der Umwelt: "All-Klang-Kunst", z. B. in Musik aus Eisenbahngeräuschen (SCHAEFFER,Etude aux chemins de fer, 1948; PARMEGIANI, L´oeil écoute Anfang, 1970; LEJEUNE, Parages: Rythme de parcours, 1974), Musik aus Vogellauten (SCHAEFFER, L´Oiseau RAI, 1950), Musik aus Fabrikgeräuschen (VARÈSE, Déserts, 1954; CARSON, Turmac, 1961; NONO, La fabbrica illuminata, 1964; BAYLE, Espaces inhabitables, 1967);
a2) der Stimm- und Sprachlaute: "Musik mit Stimmen", z. B. in Musik aus einzelnen gesungenen Silben (ROLLIN, Motet, 1951) oder aus einem gesungenen Vokal (HENRY, Vocalises, 1952), aus einem Wort (TERUGGI, Léo le jour, 1985: das Wort "Maman", gesprochen von einem Kleinkind) oder aus einem gesprochenen Namen ("Don Quixote" in SAVOURET, Etude numérique, aux syllabes, 1985);
a3) der für vorgefundene Musik verwendbaren (bzw. tatsächlich verwendeten) Klänge und Klangstrukturen ("Musik über Musik"), z. B. in Musik aus Instrumentalklängen: aus Tönen und Geräuschen einer mexikanischen Flöte (SCHAEFFER, Variations sur une flute mexicaine, 1949), aus Klängen einer Violine (PARMEGIANI, Violostries für Violine und Tonband, 1963) oder eines Violoncellos (ZANESI, Cello, 1992), aus Klängen und Geräuschen verschiedener abendländischer Instrumente (Schlagzeug, Flöte, Streicher; VAGGIONE, Rechant, 1995) oder außereuropäischer Instrumente (SCHWARZ, Anticycle, 1972); in Musik aus montierten und/oder gemischten Fragmenten aufgenommener Musik: Aufnahmen aus Kamerun (SCHAEFFER, Simultané camerounais, 1959), Aufnahmen der 9 Sinfonien von Beethoven (HENRY, La dixième Sinfonie de Beethoven, 1979/1986);
b) die technische Fixierung ihres Klangmaterials, die
b1) die Vorabfixierung der Komposition in Form einer standardisierten, von externen Interpreten klanglich realisierbaren Notation entbehrlich oder sogar unmöglich macht und
b2) die Klangwiedergabe unabhängig von sichtbaren Vorgängen der Klangerzeugung zuläßt ("akusmatische Musik");
c) die technische Verarbeitung des aufgenommenen Klangmaterials
c1) durch Veränderungen der Materie des Klanges in verschiedenen Eigenschaften:
c1.1) des Lautstärkegrades durch dynamische Regelung (Abdämpfung oder Verstärkung)
c1.2) der Tonlage (Positionsveränderung im Tonraum: Transposition; Wegnahme von Tonhöhen: Filterung; Tonhöhen-Anreicherung: z. B. additive Mischung, Synchronisation, oder multiplative Mischung, Ringmodulation);
c1.3) der Klangfarbe (z. B. Filterung oder Ringmodulation, s. c1.2);
c2) durch Veränderungen der Form des Klanges (des Klangverlaufes):
c2.1) Verkürzung (z. B. Abschneiden des Einschwingvorganges),
c2.2) Zerhackung,
c2.3) Veränderung der Hüllkurve (z. B. Aufprägung der Hüllkurve eines anderes Klanges),
c2.4) Verlängerung (z. B. durch Schleifenbildung);
c3) durch Veränderungen von Materie und Form des Klanges, z. B. absolute Transposition (Zeitraffer: Höhere Tonlage und raschere Ablaufsgeschwindigkeit, Zeitlupe: tiefere Tonlage und langsamere Ablaufsgeschwindigkeit);
d) die konkrete, empirisch/phänomenologisch vom realen Höreindruck ausgehende wissenschaftliche Klangforschung und kompositorische Klangverarbeitung, die ausgeht von Wahrnehmungsqualitäten (nicht von physikalischen Meßwerten, deren Relationen zu deren Relationen nicht in jedem Falle isomorph sind) und von diesen angepaßten Methoden der Klangverarbeitung (Isolierung von Klangobjekten - Bildung von Strukturen, Sequenzen und größeren Formeinheiten durch Montage, Mischung und ggf. klangliche Veränderung entsprechend c)
Musique concrète entsteht in der Umkehrung des traditionellen Kompositionsverfahrens: Während dieses ausgeht von vorgestellten Klängen und Klangstrukturen und diese in einer Notation fixiert, nach deren Maßgabe eine konkrete klangliche Realisierung entstehen kann, geht die musique concrète von konkreten Klangphänomenen aus, die als Schallaufzeichnungen gespeichert sind und im Studio weiter verarbeitet werden können, was die Bildung abstrakter musikalischer Zusammenhänge erlaubt. Die "Musik im gewohnten Sinn", die "sogenannte abstrakte" Musik, führt nach Schaeffer von der (geistigen) Konzeption über die Niederschrift zur instrumentalen Ausführung, während die von ihm begründete konkrete Musik ausgeht von der Bereitstellung von Klangmaterialien, diese im Stadium des Experimentierens und in Verbindung mit Skizzen aufarbeitet und auf dieser Grundlage eine (materielle) Komposition realisiert; die erstere Musik führt also vom Abstrakten zum Konkreten, die letztere vom Konkreten zum Abstrakten (SCHAEFFER 1967/dt.1974, S. 19). - Diese von der Kompositionsweise ausgehende Definition ist umfassender als der vor allem in den frühen fünfziger Jahren vorherrschende Sprachgebrauch, der sich an den verwendeten Klangmaterialien orientierte, wobei die musique concrète durch vorgefundene, mit dem Mikrophon aufgenommene Klangmaterialien charakterisiert wurde (im Unterschied zur elektronischen Musik, die von synthetischen, im Studio erzeugten Klängen ausgeht). Da sowohl für konkrete als auch für elektronische Klänge bereits in den fünfziger Jahren differenzierte Möglichkeiten der klanglichen Verarbeitung entwickelt wurden, so daß bei der phänomenologischen Beschreibung der verarbeiteten Klänge die Bestimmung der Herkunft der Ausgangsklänge sekundär oder unmöglich werden kann, hat Pierre Henry für konkrete und elektronische Musik die zusammenfassende Bezeichung "elektroakustische Musik" vorgeschlagen. Sie eignet sich für Musik, deren Klangmaterial durch Schnitt, Montage und Transformation so weitgehend verändert ist, daß die Unterscheidung zwischen Klängen konkreter oder elektronische Herkunft für den Höreindruck unwesentlich wird (z. B. bei HENRY im Anfangsteil von Le Voile d´Orphée, 1953; oder in Spirale, 1955).
Im Kontext elektroakustischer Musik bestimmt sich konkrete Musik im umfassenden, nicht auf die Produktionsbedingungen der frühen 50er Jahre eingegrenzten Sinne als Musik, die in empirischer Behandlung von technisch konservierten und verarbeiteten (insbesondere auch von technisch produzierten) Klangmaterialien komponiert wird entsprechend folgenden 1957 publizierten Postulaten Schaeffers: 1. Vorrang des Ohres, 2. Bevorzugung der realen akustischen Quellen, für die unser Ohr weitgehend geschaffen ist (und insbesondere Ablehnung einer ausschließlichen Zuhilfenahme elektronischer Klangquellen), 3. Erforschung einer Sprache. Die in diesen Postulaten implizierte operative Neubestimmung der konkreten Musik als "experimentelle Musik" verbindet Schaeffer mit der Neubestimmung ihrer Klangforschung und kompositorischen Praxis in 5 Regeln: 1. Hören von Klangobjekten aller Art, 2. Realisation neuer Klangobjekte, 3. Bildung musikalischer Objekte durch technische Verarbeitung von Klangobjekten, 4. Realisation von Klangstudien, 5. freie klangforscherisch-kompositorische Studioarbeit (SCHAEFFER 1957, 1967/dt. 1974, S. 30 f.).
Während für John Cage "experimentelle Musik" (experimental music) sich im Verhältnis zwischen Notation und klanglicher Realisierung bestimmen läßt, ergibt sie sich in der von Pierre Schaeffer begründeten Tradition der musique concrète (als musique expérimentale) im Verhältnis zwischen klanglicher Erfahrung und kompositorischer Vorstellung. John Cage definiert das Experimentelle im Verhältnis zwischen unbestimmter Notation und klanglichem Resultat, Pierre Schaeffer dagegen im Verhältnis zwischen klanglicher Erfahrung und kompositorischer Gestaltung. Cage hält dabei im Regelfalle am Primat einer vorgegebenen Partitur fest (deren Zeichen allerdings unbestimmt sein können, so daß wichtige Aspekte der Interpretation unvoraussehbar bleiben), während für Schaeffer eine Partitur nicht mehr unabdingbare Voraussetzung der klanglichen Realisierung sein muß, da die im Studio entstandene Komposition als Schallaufzeichnung fixiert ist.
Als Kunst der fixierten Klänge ist die Musique concrète keinen a priori festgesetzten Einschränkungen ihres Klangmaterials unterworfen - insbesondere nicht restriktiven Definitionen der Musik als Tonkunst. Im Kontext der fixierten Klänge entfällt die Sonderstellung der Klänge mit eindeutig bestimmter Tonhöhe und verliert sogar die dualistische Unterscheidung zwischen Ton und Geräusch an Bedeutung, da neben der Höhe (Materie) des Klanges auch sein zeitlicher Verlauf (seine Form) differenziert wird. Daraus ergeben sich Konsequenzen für die Typologie nicht nur der Klänge selbst, sondern auch der technischen Verfahren ihrer klanglichen Veränderung: Klangtransformationen können primär die Materie oder die Form des Klanges tangieren (im ersteren Falle z. B. spektrale Veränderungen durch reduzierende Filterung oder anreichernde Ringmodulation, im letzteren z. B. Rückwärtswiedergabe oder Zerhackung; beide Möglichkeiten verbinden sich z. B. im Falle der totalen Transposition, bei der sich gleichzeitig Tonlage und Ablaufgeschwindigkeit bzw. Dauer verändern, während eine alleinige Veränderung der Tonlage als Veränderung der Materie, eine alleinige Veränderung von Ablaufgeschwindigkeit bzw. Dauer als Veränderung der Form des Klanges einzustufen ist). Durch technische Manipulationen kann sich das Hörphänomen eines Klangobjektes so stark verändern, daß seine ursprüngliche Identität verloren geht und ein neues Klangobjekt entsteht. Die Identität der Klangobjekte bestimmt sich also unabhängig nicht nur von der Identität der Klangquelle (die durchaus unterschiedliche Klangobjekte hervorbringen kann), sondern auch von der Identität einer bestimmten Klang-Aufnahme.
Für Schaeffer wird der ausgehaltene Ton, die Grundkonstellation der traditionellen abendländischen Musiktheorie, zu einem von neun Sonderfällen im Zentrum einer Typologie, die nicht nur verschiedene Tonhöhenbestimmungen (eindeutig - tonisch, komplex - geräuschhaft, zeitlich variabel) unterscheidet, sondern auch verschiedene Verlaufsformen (ausgehalten, Impuls, Impulskette). Die verschiedenen Klangtypen bestimmt Schaeffer als Grundkonstellationen der Hörwahrnehmung - also nicht nur der Musik (im Bereich der Klänge, die um ihrer selbst willen gehört werden), sondern auch der Sprache (deren Klänge als Übermittler von Bedeutungen aufgefaßt werden) und der Umweltgeräusche (deren Klänge als Verweise auf reale Vorgänge wahrgenommen werden) (SCHAEFFER 1952, 1967). Hieraus ergibt sich insbesondere, daß als Ausgangsmaterialien der musique concrète nicht nur Klänge standardisierter Musikinstrumente oder menschlicher Gesang in Frage kommen, sondern auch beliebige Stimmäußerungen von Menschen und Tieren oder beliebige Umweltgeräusche. So ergibt sich "Musik im weiteren Sinne" (HENRY in Journal de mes sons, 1982) als Akustische Kunst.
Aus der technischen Fixierung und Manipulation der Klänge ergibt sich die Notwendigkeit eines "reduzierten Hörens", für das die Identifikation einer Schallquelle fragwürdig oder unmöglich geworden ist und das sich statt dessen am Klangphänomen selbst orientieren muß. Dies ergibt sich daraus, daß selbst der möglichst originalgetreu aufgenommene Klang sich als "Klang-Bild" vom originalen Klangvorgang grundsätzlich unterscheidet und daß darüber hinaus spätere technische Veränderungen des Aufgenommenen durch Montage, Mischung und klangliche Verarbeitung die klanglichen Eigenschaften der ursprünglichen Aufnahme mehr oder weniger weitgehend modifizieren können.
Da die Herkunft des Klangmaterials für die phänomenologische Beschreibung der musique concrète sekundär ist, ist in ihren Produktionen auch die Einbeziehung von oder sogar die Konzentration auf rein synthetisch erzeugte, elektronische Klänge nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Allenfalls in den Anfangsjahren der technisch produzierten Musik, in den frühen 50er Jahren, war es möglich, Konkrete und Elektronische Musik in strikter, sich wechselseitig ausschließender Gegensätzlichkeit zu definieren, da etwa die Etudes de bruits (1948) von Schaeffer und die Elektronischen Studien I und II (1953, 1954) von Stockhausen nicht nur in den Ausgangsmaterialien, sondern auch in der Kompositionsweise zunächst als Ausgangspunkte vollkommen unterschiedlicher Musikentwicklungen angesehen werden konnten. Erst später wurde deutlich, daß in der kompositorischen Praxis der Aspekt der Ausgangsmaterialien gegenüber den beiden Musikarten gemeinsamen Verarbeitungstechniken mehr und mehr an Bedeutung verlor. So entwickelten sich Konzeptionen der Synthese elektronischer und konkreter Klanggestaltung bei Stockhausen (Gesang der Jünglinge, 1956; Telemusik, 1966; Hymnen, 1965-67; Sirius, 1975-77; Licht, 1977 ff.) und Ansätze konkreter Musik mit elektronischen Klängen bei Schaeffer (Le Trièdre fertile, 1976).
2. Zu Theorie und kompositorischer Praxis
a) Montagestrukturen
Aus der Universalität des Klangmaterials (1a) ergibt sich die Notwendigkeit der Erweiterung traditioneller, von festen Tonhöhen und ihren vertikalen oder horizontalen Kombinationen ausgehender theoretischer Ansätze. Grundbegriff der konkreten Musik ist nach Schaeffer das Klangobjekt (objet sonore; SCHAEFFER 1952, 1966, 1967), nach Henry der Klang (son; HENRY in Journal de mes sons, 1982), d. h. ein phänomenologisch elementares oder als potentielles Ausgangsmaterial kompositorischer Verarbeitung archiviertes, technisch fixiertes Hörereignis, das in der Regel in Materie bzw. Form so komplex bzw. variabel bestimmt ist, daß es nicht mit eindeutig bestimmten, konstanten Werten der Lautstärke der Tonhöhe oder Klangfarbe beschrieben und, auf diese Werte bezogen, in Skalen oder (aus Skalen gebildete) geordnete Abfolgen einbezogen werden kann. Unterscheidungen nach den Herkunftsbereichen der Klänge (z. B. Umweltschall, Stimm- und Sprachlaute, Musik, 1a1 - 1a3) sind nur dann gerechtfertigt, wenn die Herkunft im Hörereignis noch erkennbar ist; in solchen Fällen lassen sich Klangverbindungen vielfach als Montagestrukturen nach seit den 20er Jahren (u. a. von Vertov, Eisenstein, Pudowkin und Balacs) für Bild und Ton entwickelten Kriterien der Montagetheorie und -ästhetik beschreiben. (Das früheste ausschließlich aus aufgenommenen und montierten Klängen gebildete Hörstück, die 1930 entstandene Produktion Weekend von Walther Ruttmann, läßt sich analysieren in weitgehender Analogie zu den bildlichen Montagestrukturen in Ruttmanns 1927 produziertem Stummfilm Berlin, die Sinfonie der Großstadt).
Beispiele einfacher Montagestrukturen in Hörstücken sind Verbindungen heterogener, aber in einzelnen Merkmalen verwandter Klänge (z. B. rhythmisch verwandter Montagestücke in SCHAEFFER, Etude pathétique, 1948, oder in HENRY, Futuristie: Machines-Vitesse, 1975; tonisch verwandter Montagestücke in der ersten Sequenz von HENRYs Journal de mes sons / Tagebuch meiner Töne, 1982, oder in seiner Produktion La dixième Sinfonie de Beethoven, 1979/1986) oder Wechselmontagen (z. B. SCHAEFFER/HENRY, Sinfonie pour un homme seul: Erotica, 1949/50).
Der Höranalyse zugängliche Montagestrukturen können sich auch aus der Verwandtschaft von Klangtypen und inneren Bewegungsformen der Klänge ergeben (s. 2b).
Pierre Henry hat Montage- und Mischungsstrukturen nicht nur im klanglichen Detail, sondern auch in größeren Zusammenhängen verwendet, wobei insbesondere alle seine eigenen Produktionen,vom einzelnen Klang über Ausschnitte aus angewandeten und reinen Kompositionen bis zu Fragmenten oder vollständigen Werken wiederum zu Bestandteilen eines vieldeutig strukturierbaren Gesamtwerkes werden können (FRISIUS 1984).
b) Klangtypen und ihre Bedeutung für die kompositorische Praxis
Durch Techniken der Montage ist es möglich geworden, komplexe Klänge in Elementarbestandteile zu zerlegen, die auch bei Klängen unterschiedlicher Herkunft (z. B. Aufnahmen von Umweltschall, von Stimm- oder Sprachelauten oder von vorgefundener Musik, s. 1a) vergleichbare Charakteristika erkennen lassen: Schaeffer unterscheidet in seiner Typoplogie
b1)verschiedene Bestimmungen der Materie:
b1.1) tonisch: der Tonhöhe nach eindeutig und konstant bestimmt, z. B. gesungene oder auf Tonhöheninstrumenten gespielte Töne;
b1.2)komplex: der Tonhöhe nach unbestimmt, aber konstant, z. B. gleichmäßiges Wasserrauschen;
b1.3)variabel: der Tonhöhe nach veränderlich;
b2) verschiedene Bestimmungen der Form:
b2.1) ausgehalten, z. B. ein Orgelpunktton;
b2.2) Impuls, z. B. ein Pauken- oder Trommelschlag;
b2.3) Impulskette, z. B. Wirbel oder Tremolo.
So ergeben sich 9 zentrale Klangtypen als Verallgemeinerung der traditionellen Musiktheorie, die in ihren Begriffen und Notationssymbolen ausgeht vom ausgehaltenen (in Dauer und Höhe eindeutig fixierten und in beiden Eigenschaften unabhängig voneinander variablen) Tones. - Eine Erweiterung von Schaeffers Einteilung um drei weitere Klangtypen läßt sich dadurch vornehmen, daß die variablen Klangformen differenziert werden als tonisch oder komplex (Ton- oder Geräuschglissandi).
Kompositorisch verwenden lassen sich die verschiedenen Klangtypen im freien Wechsel (MALEC, Reflets, 1961), aber auch vorwiegend oder ausschließlich in einer bestimmten Komposition (z. B. Glissandi in XENAKIS, Diamorphoses, 1957, oder Impulse, massiert in dichten Akkumulationen, in XENAKIS; Concret PH, 1958; das Glissando in der besonderen Fom der virtuell unendlichen Tonbewegung findet sich, mit synthetisch erzeugten Klängen, bei J. C. RISSET in Computer Suite from Little Boy. 1968, oder Mutations, 1969; vgl. hierzu RISSET in FRISIUS/DE LA MOTTE 1996).
Von großer Bedeutung für Schaeffers Typisierung der Klangobjekte ist überdies die Bestimmung ihrer Körnigkeit (grain; als Unterscheidungsmerkmal z.B. für die Klangcharaktere eines tiefen Fagott- oder Baßklarinettentones) oder ihrer inneren Bewegungsform (allure; eine Verallgemeinerung des traditionellen Vibrato-Begriffes).
Schaeffers Klang-Typologie basiert auf umfangreichen Archivierungen einzelner Klänge, die in den frühen fünfziger Jahren vor allem von Pierre Henry, später beispielsweise auch von Luc Ferrari produziert wurden (teilweise handelt es sich um Basisklänge, die auch als Bestandteile einer bereits abgeschlossenen Komposition archiviert wurden oder die, vor allem bei HENRY, in späteren Kompositionen in unterschiedlichen Zusammenhängen Verwendung gefunden haben - z. B. Klang-ostinati aus der Sinfonie pour un homme seul, die später als klangliche Begleitung der Rezitation eines Gedichts von Victor Hugo unterlegt wurden).
Aufgenommene und typisierte Klänge beschreibt Schaeffer phänomenologisch als Klangobjekte, d. h. abgegrenzt von der Schallquelle (die, z. B. im Falle eines Schlaginstrumentes, etwa eines Beckens, die Produktion durchaus unterschiedlicher Klangobjeke erlaubt) und vom Tonträger (da dieselbe Aufnahme in Vorwärts- und Rückwärtswiedergabe oder in unterschiedlichen Ablaufgeschwindigkeiten in verschiedenen Filterungen, Zerhackungen und dynamischen Regulierungen, viele verschiedene Klangobjekte hervorbringen kann).
Kompositionen, die sich auf Montagen von zentralen Klangobjekten (mittlerer Dauer und ggf. Veränderungsgeschwindigkeit) konzentrieren, können in mehrfach hierarchisch gestuften Gliederungsebenen ähnlich aufgebaut sein wie sprachliche Strukturen, z. B: auf einzelne Kriterien der Klanglehre Schaeffers konzentrierte Etuden von FERRARI, (Etude aux accidents, 1958; Etude aux sons tendus, 1958; Etude floue, 1958) oder SCHAEFFER selbst (Etude aux allures, 1958; Etude aux sons animés, 1958; Etude aux objets, 1959).
Schaeffer hatte seine in den späten 50er Jahren realisierten Etüden ursprünglich als Beitrag zu einer langfristig angelegten kollektiven Klangforschungs- und Realisationsarbeit verstanden, als Zwischenstufen zwischen Klangforschungen und größer dimensionierten Kompositionen. Die Unterscheidung verschiedener Arbeitsschritte erschien in einem bestimmten Entwicklungsstadium der musique concrète insoweit verallgemeinerbar, daß im Concert collectif, 1963, kollektive Kompositionsmethoden (die Weiterverarbeitung der Sequenz eines Komponisten durch einen anderen Komponisten) versucht werden konnten. (An dem von SCHAEFFER angeregten Projekt beteiligt waren u. a. BAYLE, CANTON, CARSON, FERRARI, MACHE, MALEC und FERRARI; im Vorbereitungsstadium zeitweilig auch XENAKIS, der vergeblich eine stochastische Gesamtplanung vorzuschlagen versucht hatte; vgl. hierzu CHION/REIBEL 1976). - In der Folgezeit setzt sich wieder die Konzentration auf die individuelle kompositorische Produktionspraxis durch. Unter dem Einfluß neuer Techniken der Klangverarbeitung (BAYLE: Espaces inhabitables, 1967; L´Expérience acoustique, 1969-1972; Jeita, 1970; PARMEGIANI: L´oeil écoute, 1970; Pour en finis avec le pouvoir d´Orphée, 1972) verlagerte sich das Interesse von Montagestrukturen auf die Verarbeitung von Klängen in charakteristisch unterschiedlichen Energieformen in vielschichtigen und weiträumigen Verwandlungsprozessen. Neuen Verfahren der Spannungssteuerung folgen als weitere technische Innovation in den späten siebziger Jahren digitalen Transformationsprozessen (z. B. mit computertransformierten Sprachlauten in BAYLE, Erosphère, 1978/79 oder in Computertransformationen jeweils eines einzigen Klanges in den Beiträgen zur Kollektiv-Suite Germinal, 1985, u. a. von LEJEUNE, LEVAILLANT, MAILLARD, TERUGGI, SAVOURET, MION, DUFOUR, ZANESI und SCHWARZ; vgl. hierzu CHION/DELALANDE 1986). In diesen und weiteren Ansätzen zeigt sich eine erneute Hinwendung zu situativ identifizierbaren Klängen (1a), die als Klangobjekte teils systematisch variiert, (s. o. Germinal), teils (z. B. in BAYLE, La main vide, 1993-1995) in der Konfrontation mit (im Sinne von 1a) unidentifierbaren rein synthetischen Klangmaterialien entwickelt werden.
c) Techniken der Klangverarbeitung und ihre Bedeutung für Theorie und Praxis des Hörens und der Komposition
Schon im Frühstadium der musique concrète wurden die spezifischen Besonderheiten der fixierten Klänge und die Wichtigkeit einer grundlegenden Unterscheidung zwischen dem aufgenommenen Klang und seiner Aufnahme (seinem "Klangbild", image-son) deutlich. Schaeffer arbeitete, anders als Russolo mit seinen Geräuscherzeugern, anders auch als Varèse oder Cage mit ihren Schlagzeugorchestern (bei Cage einschließlich live bedienter, also quasi-instrumental eingesetzter technischer Apparate wie Schallplattenspieler oder Radio), ausschließlich mit aufgenommenen Klängen - und zwar meistens mit Techniken, die wesentliche Eigenschaften der aufgenommenen Klänge veränderten; z. B. mit elementaren, bereits seit 1948 entwickelten Grundtechniken der Fragmentierung und der mechanischen Wiederholung (mit geschlossenen Schallplattenrillen, sillons fermés), die (etwa durch Amputation von Einschwingvorgängen) das ursprüngliche Klangbild und die ursprüngliche klangliche Identifizierbarkeit weitgehend tangieren können.
Schon frühzeitig wurde von Schaeffer auch die Bedeutung der Rückwärts-Wiedergabe gekannt.Bei Sprachaufnahmen zerstört sie die Verständlichkeit (während andererseits die Identität des Stimmklanges weitgehend erhalten bleiben kann - im Unterschied zur absoluten Transposition, die die Sprachverständlichkeit erhalten, aber gleichzeitig stimmliche Identität und Identifizierbarkeit, z. B. einer Männerstimme im Unterschied zu einer Frauen- oder Kinderstimme, zerstören kann; MOLES 1971). Technisch realisierte Krebsbeziehungen unterscheiden sich von denen notierten Musik (z. B. bei Machaut, Bach, Haydn, Schönberg, Webern oder dem frühen Stockhausen) dadurch, daß nicht nur die Tonabfolgen verändern, sondern auch den inneren Verlauf der Klänge (z. B. in rückwärts abgespielten Klavierklängen: SCHAEFFER, Etude violette, 1948; in krebssymetrischen Fragmenten von Instrumentalsequenzen oder von Vogelgesang: SCHAEFFER, Suite 14, 1949; L´Oiseau RAI, 1950; in retrograden Stimmaufnahmen in SCHAEFFER, Masquerage, 1952 oder in der Sinfonie pour un homme seul, in der eine retrograde Gesangsaufnahme wie eine verfremdete Sprachaufnahme klingt.
Weiter reichende Veränderungen können sich in der absoluten (stufenweisen oder gleitenden) Transposition ergeben als strukturierte Bewegungen von Klangfragmenten in wechselnden Ablaufgeschwindigkeiten im Tonraum (z. B. in SCHAEFFER: Suite 14, 1949; L`Oiseau RAI, 1950; SCHAEFFER/HENRY, Bidule en ut, 1950; Sinfonie pour un homme seul: Intermezzo, 1949-1950; HENRY, Bidule en mi, 1950; PARMEGIANI, Bidule en ré, 1969).
Wie stark sich bestimmte Klangmaterialien in absoluten Transpositionen bis an den Rand der Unkenntlichkeit verändern können, zeigt XENAKIS im Anfangsteil der Diamorphoses, 1957, mit extrem im Glissando hochtransponierten Glockenklängen.
In der musique concrète geht es primär um die Systematisierung nicht der (analogen oder digitalen) klanglichen Transformationen, sondern ihrer klanglichen Wirkungen, z. B. bei D. TERUGGI in den Variations morphologiques, 1995, nach den Angaben des Komponisten als "Variationen der Zeit, der Geschwindigkeit, der Tonhöhe,... der Form, des Raumes, der Farben..., variierte Gesten, variierte Übergänge, variierte Variationen" (in V. HINTZENSTERN/TUTSCHKU 1996, S. 18).
d) Kompositorische Aspekte
Schaeffer hat verschiedene Vorformen konkreter Kompositionstechnikern in notierter Musik nachgewiesen (SCHAEFFER 1952). Technische Wiederholungen mit geschlossenen Schallplattenrillen vergleicht er mit Endloskanons. Eine Vorstufe der absoluten Transposition findet er im Finale der Sinfonie fantastique von BERLIOZ, wo verschiedene Abschnitte des gregorianischen "Dies irae" jeweils oktavweise aufwärts transponiert und gleichzeitig in doppelter Geschwindigkeit abgespielt werden.
Im Kontext der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts lassen sich Vorstufen der musique concrète finden einerseits in bruitistischen Tendenzen des Futurismus (unter theoretischer Berücksichtigung der gesamten Hörwelt, insbesondere auch der technisch-industriell geprägten Geräusche - im Unterschied zur späteren musique concrète bei der praktischen Realisierung allerdings begrenzt auf live zu spielende Instrumente, ohne Berücksichtigung der Möglichkeiten technischer Reproduktion), andererseits in verschiedenen kompositorischen Tendenzen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Als Vorläufer der musique concrète benennt Schaeffer Edgard Varèse, John Cage und Olivier Messiaen (SCHAEFFER 1974, S. 62-66). Er bezieht sich dabei auf die Emanzipation des Geräusches und der Geräuschkomposition (in Varèses Kompositionen für Geräuschinstrumente und technisch produzierte Klänge sowie in seiner Konzentration auf die Komposition nichtstationärer Vorgänge), auf die Loslösung von den eindeutigen Bestimmungen des temperiert-zwölftönigen Tonsystems (nicht nur bei Varèse, sondern z. B. auch Cages Kompositionen für präpariertes Klavier) und auf die Erweiterung des musikalischen Materials über die Grenzen der abendländischen Tonkunst hinaus (bis in den Bereich außereuropäischer Rhythmus- und Ton-ordnungen sowie von Klängen aus der natürlichen Umwelt, z. B. Vogelgesang, bei Messiaen).
Kompositorische Zusammenhänge ergeben sich in der musique concrète als Resultate der Anwendung technischer Verfahren wie Schnitt, Montage oder klangliche Veränderung, aus der Vereinigung von Klängen zu Montagestrukturen oder aus der polyphonen Überlagerung verschiedener Klangschichten (voies de mixage) (FRISIUS 1980).
In der von Techniken der Schallplattencollage und -manipulation geprägten Frühzeit der musique concrète entwickelten sich diese Techniken oft im Spannungsfeld zwischen aus der Erfahrung bekannten, surrealistisch zusammenmontierten Klängen einerseits und musikalisch abstrahierenden Montagestrukturen und Klangprozessen andererseits. der Übergang von der Schallplatten- zur Tonbandmusik führte seit 1951 zu seriell konstruierten Mikromontagen, die sich von den empririschen Ansätzen der frühen musique concrète weit zu entfernen schienen. So ergaben sich Grenzfälle seriell abstrahierender musique concrète z. B. in Produktionen von BOULEZ (Etudes 1 et 2, 1951-1952), HENRY (Antiphonie, 1951; Vocalises, 1952) und STOCKHAUSEN (ETUDE, 1952). Diese Kompositionen gehen, anders als die frühe und spätere musique concrète, wieder vom Primat der Partitur aus und sind insofern vergleichbar mit den in Partitur vorgeschriebenen, mit Zufallsoperationen in verschiedenen Ordnungsbereichen Montagestrukturen von John CAGE in Williams Mix, 1952. In den ersten Produktionen serieller Musik, die STOCKHAUSEN 1953 und 1954 realisierte (Studie I, Studie II) führt die kompositorische Abstraktion konsequent zur Beschränkung auf rein synthetische Klänge, also zum Verzicht auf den klanglich umfassenderen Ansatz der konkreten Musik. Schon in der ersten diesen Studien folgenden Tonbandkomposition hat Stockhausen allerdings diese exklusive Beschränkung auf elektronische Klänge bereits wieder aufgegeben: Im Gesang der Jünglinge, 1955-1956, verbinden elektronische Klänge sich mit Gesangsaufnahmen einer Knabenstimme (die häufig in dichten Playbackschichtungen vervielfältigt und überdies auch durch Feintranspositionen und gelegentliche Rückwärts-Wiedergaben klanglich verändert werden). Fast gleichzeitig mit Stockhausen realisierte HENRY die sich zur elektronischen Klangwelt öffnende Tonbandkomposition Haut Voltage, 1956, mit nonverbalen Stimmlauten und elektroakustisch weitgehend verfremdeten Klängen. - Karlheinz Stockhausens Verbindung elektronischer und konkreter (Vokal-)Klänge inspirierte Luciano BERIO zu weitgehenden, sich elektronischen Klangqualitäten nähernden Transformationen aufgenommener Stimmlaute (Tema - Omaggio a Joyce, 1958; Visage, 1960). In diesen Kompositionen ist der Dualismus zwischen elektronischer und konkreter Klanggestaltung (unter dem Einfluß der für beide Musikarten maßgeblichen Techniken der Klangverarbeitung) weitgehend gegenstandslos geworden. Sie entsprechen dem von Pierre Henry bereits 1952 avisierten übergreifenden Konzept elektroakustischer Musik, in deren Kontext sich nicht nur elektronische und konkrete Klänge miteinander verbinden lassen, sondern auch technisch fixierte und live produzierte (z. B. Tonbandklänge und live-gespielte vokale und/oder instrumentale Passagen z. B. in SCHAEFFER/HENRY, Orphée 53, 1953).
Ständig sich verstärkende Tendenzen der produktionstechnischen und ästhetischen Öffnung der Konzeptionen konkreter und elektronischer Musik haben seit den späten fünfziger Jahren in verschiedenen Bereichen zu einer weitgehenden Verschmelzung beider Musikarten geführt. Trotzdem behauptete die musique concrète auch weiterhin im Kontext der elektroakustischen Musik eine Sonderstellung, da sie - sich abgrenzend etwa von Tendenzen verstärkter Zuwendung zu live-elektronischer Musik bei Cage und Stockhausen, später auch bei Boulez und Nono - weiterhin am Primat der fixierten Klänge festhielt und überdies auch beim Übergang zur Computertechnologie von einer Beschränkung auf rein synthetische Klangmaterialien absah und sich statt dessen auf differenzierte Transformationen konkreter Klangmaterialien konzentrierte (z. B. BAYLE, Erosphère, 1978-1979, und die Kollektiv-Suite Germinal, 1985).
Die Universalität der Klangmaterialien läßt unterschiedliche Bearbeitungsweisen der Klänge zu, wobei entweder die Aufmerksamkeit des Gehörs, weitestmöglich losgelöst von assoziativen Zusammenhängen, auf das Klangphänomen selbst gelenkt wird (z. B. SCHAEFFER, Etude aux objets, 1959) oder die Klänge in bildlich-assoziativen Zusammenhängen belassen bzw. in diese einbezogen werden, z. B. in der "anekdotischen Musik" von FERRARI (u. a. Presque rien nr. 1,2, 1967, 1977; Promenade symphonique à travers un paysage musical, 1978) oder in Klangmontagen von Tier- oder Menschenstimmen bei F. B. MACHE (in der Regel in Kompositionen, die die Tonbandwiedergabe mit live-Instrumentalmusik kombinieren, z. B. in Korwar, 1972, für Cembalo und Sprachaufnahmen im südafrikanischen Xhosa-Dialekt).
Die ursprünglich von Schaeffer und Henry entwickelte (und bereits von ihnen theoretisch und praktisch als universelle Kunst der fixierten Klängen legitimierte), unmittelbar auf die klanglichen Phänomene ausgerichtete, empirisch fundierte Kompositionspraxis der konkreten Musik hat sich, in ständiger Wechselwirkung von technischer Innovation und theoretischer Reflexion, in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts in weltweiter Verbreitung so intensiv und vielfältig weiter entwickelt, daß sie, über ihre ursprünglichen Ansätze hinaus, auch zu neuen Ansätzen im Umgang mit (analogen und digitalen) elektronischen Klängen, Klangstrukturen und Klangprozessen führen konnte.
Die musiktheoretischen, produktions- und kompositionstechnischen Konzeptionen der konkreten Musik definieren sich als theoretische und praktische Alternativen zu von festen Parameterordnungen ausgehenden Skalenordnungen, Kompositions- und Wahrnehmungsstrukturen, zur an die abendländische Notenschrift gebundenen Musiktheorie und zu den an deren Begriffen ausgerichteten Verfahren der Improvisations-, Kompositions- und Aufführungspraxis (also insbesondere auch zu den Reihen- und Permutationsstrukturen der seriellen Musik), als Erweiterung des traditionellen, an vokaler und instrumentaler live-Realisation der Klänge orientierten Musikbegriffes zum (auf fixierte Klänge ausgerichteten) Begriff der Akustischen Kunst, als All-Klang-Kunst unter gleichberechtigter Einbeziehung aller Hörereignisse. Medienspezifisch, als Hörkunst der Klangbilder oder der projizierten Klänge, steht sie im Zusammenhang einer Entwicklung, die im visuellen Bereich beispielesweise von der Photographie zum Stummfilm und zum Kino- und Fernsehfilm (u. a. zum Videoclip) geführt hat, beispielsweise in Hörfilmen (z. B. RUTTMANN, Weekend, 1930; HENRY, La Ville/Die Stadt, Hörspielfassung 1983, später umgearbeitet als Musik zum Stummfilm Berlin, die Sinfonie der Großstadt von W. RUTTMANN; KAGEL, Antithese, 1962, in verschiedenen Versionen als Tonbandmusik und Musikfilm; FERRARI: Hétérozygote, 1963-1964; Music Promenade, 1969; Journal d´un journaliste amateur, 1972; Petite symphonie intuitive pour un paysage de printemps, 1973; Presque rien avec filles, 1989 u. a.; BODY, Musik Dari Jalan, 1976; CLOZIER, Lettre à une demoiselle, 1969; 119 et 21 ans après, 1990; LEJEUNE: D`une multitude en fete, 1969; Petite Suite, 1969; TREMBLAY, Ceci est un message, 1996), in O-Ton-Hörspielen (u. a. von KRIWET und KAGEL), Audioclips (Électro clips, 25 instantanés électroacoustiques de trois minutes, 1990, mit Beiträgen u. a. von DAOUST, ROY, DHOMONT, CALON, ALVAREZ, AMIRKHANIAN) und Musikfilmen (z. B. PARMEGIANI, L´oeil écoute, mit technischer Klang- und Bildverarbeitung, 1970). Die formalen Dimensionen variieren zwischen kurzen Studien und Klangszenen (z. B. Musiques eclatées/Musiques dispersées, 1969, im Pariser GRM-Studio realisierte Werke verschiedener Autoren; Hörspots von Kriwet und Kagel, Kurze Hörstücke von Rühm; Électro clips s. o. unter Audioclips) und abendfüllenden oder auf mehrere Aufführungstage angelegten Produktionen (STOCKHAUSEN, Hymnen, 1966-1967; BAYLE, L´Expérience acoustique, 1969-1972 PARMEGIANI, De natura sonorum, 1975; HENRY, Parcous Cosmogonie, 1976, Realisation in 12 Konzerten).
Die ästhetischen Positionen orientieren sich u. a. an gegebenen Klangmaterialien und Klangkategorien (z.B. möglichst reichhaltige Klanggestaltung auf der Basis eng begrenzter Klangquellen und Klangmaterialien bei HENRY: Le Microphone bien tempéré, 1951-1952; Variations pour une porte et un soupir, 1963; bei HARVEY: Mortuos plango, vivos voco, 1980, oder bei REDOLFI: Pacific Turbular Waves, 1979-1980/1988; appel d´air, 1990; Verbindung elektronischer und konkreter Klänge bei PARMEGIANI, De natura sonorum, 1975, bei RISSET, Sud, 1985, oder bei STOCKHAUSEN: Telemusik, 1966; Hymnen, 1966-1967; verschiedene Teile von Licht, 1977 ff), an morphologischen Kriterien (z. B. PARMEGIANI, La création du monde, 1982-1984), an der elektroakustischen Illustration rezitierter Texte (HENRY, L´Apocalypse de Jean, 1968; BAYLE/PARMEGIANI, Divine Comédie, 1972; CHION, Requiem, 1974; HENRY, Hugosymphonie, 1985), an hörspielähnlichen Sujets (CHION: Le prisonnier du son, 1972; La Tentation de Saint-Antoine, 1984), an politischen Themen (NONO, La fabbrica illuminata, 1964, in der Verbindung einer Gesangspartie mit Geräuschen und Sprechtexten aus der Arbeitswelt; Musik über die Pariser Maiunruhen 1968: NONO, Non consumiamo Marx, 1968, und BAYLE: Rumeurs, 1968; Solitioude, 1969; NOETINGER, Gloire à..., 1991, über den Golfkrieg; KATZER,Aide-mémoire, 1983, Musik zum 50jährigen Gedenktag der nationalsozialistischen "Machtergreifung"; Mein 1789, 1989; Mein 1989, 1990; CLOZIER u.a.: Les accords d´Helsinki, 1980; Suite internationale sur la révolution, 1989: internationale Gemeinschaftsprojekte, teilweise weitergeführt 1990, vgl. FRISIUS 1991), Verarbeitung von Klangstrukturen unterschiedlicher Musikarten (z. B. HODEIR, Jazz et Jazz, 1951; PARMEGIANI, Popeclectic, 1969; DAOUST, Musique baroque, 1989; CHION, Credo Mambo, 1992) oder an morphologischen Kriterien der integrierten Verarbeitung konkreter und synthetischer Klänge (BAYLE: Fabulae, 1990-1992; La main vide, 1993-1994).
Bibliographie
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