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3.8.5 CONCIMB1.DOC


MUSIK UND TECHNIK

Veränderungen des Hörens - Veränderungen im Musikleben

Musik und Technik: Zwei scheinbar durchaus gegensätzliche oder sogar gänzlich heterogene Bereiche: Oder zwei Bereiche, die in engen Wechselbeziehungen zueinander stehen, die in ihren unterschiedlichen Grundgegebenheiten und in ihren immanenten Entwicklungen und Veränderungen vielfältig aufeinander einwirken?

Beide Aussagen mögen zunächst miteinander unvereinbar erscheinen. Vieles aber spricht dafür, daß man dem Kern des Problems erst dann näher zu kommen beginnt, wenn man gegenüber dieser allzu nah liegenden Annahme ein wenig skeptisch geworden ist.

Musik und Technik: Ein Thema, dessen Konturen deutlicher zu werden beginnen, wenn man es im Zusammenhang mit Veränderungen untersucht - mit Veränderungen des Hörens und mit Veränderungen des Musiklebens. Diese Veränderungen sind für die Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts von entscheidender Bedeutung, besonders in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts, einer Zeit einschneidender kunstgeschichtlicher Veränderungen, und zwar vor allem im Bereich der Musik: Sie hat sich grundlegend verändert - aus einer Kunst im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit (im Sinne Walter Benjamins) ist eine Kunst im Zeitalter der technischen Produzierbarkeit geworden. Wichtige Veränderungen des Hörens ebenso wie wichtige Veränderungen des Musiklebens sind stark davon geprägt, daß das Zeitalter der technisch produzierbaren Klänge (und damit auch das Zeitalter der technisch produzierbaren Musik) später begonnen hat als das Zeitalter der technisch reproduzierbaren Bilder von Photographie und Film. Ein zusammenhängende, über isolierte und zunächst folgenlos gebliebene Einzelversuche hinausführende Entwicklung technisch produzierter Musik können wir erst seit 1948 verfolgen, als Pierre Schaeffer in einem Pariser Rundfunkstudio die ersten Produktionen seiner musique concrète realisierte

1 Schaeffer Étude de bruits

Étude aux chemins de fer

Was hat sich durch die Erfindung der musique concrète verändert? Welche Konsequenzen ergaben sich für das Musikleben und für die Strukturierung des Musiklebens?

Wenn man die ersten Geräuscheetüden Schaeffers fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer Entstehung und ihrer ersten Aufführung anhört, dann kann man feststellen, daß sie auch am Ende des 20. Jahrhunderts den Hörer und den Teilhaber am Musikleben vor nicht unbeträchtliche Probleme stellen könnte: Noch immer gibt es eine weltweit verbreitete Unsicherheit darüber, wie man solche Klangproduktionen eigentlich hören und welchen Platz im Musikleben man ihnen eigentlich zuweisen soll. Diese Unsicherheit läßt sich konkretisieren, wenn man sie als Frage zu formulieren versucht. Ist eine solche Klangproduktion - um noch mal Walter Benjamin abzuwandeln - ein Kunstwerk im Zeitalter der technischen Produzierbarkeit - oder gar ein Musikwerk dieses Zeitalters?

Und läßt es sich in einen Sektor des Musiklebens einordnen - sei es aus der Tradition bekannt - sei es neuer Art?

2 Étude aux chemins de fer, Schluß

Die ersten Geräuscheetüden Schaeffers wurden nicht in einem Konzertsaal uraufgeführt, sondern in einer Radiosendung. Fragmente aufgenommener, teilweise auch technisch verarbeiteter Klänge waren hier zu einem zusammenhängenden, wiederum auf Schallplatte fixierten Stück vereinigt. Die Uraufführung des Stückes ging aber so vor sich, daß über den Rundfunk eine Schallplatte abgespielt wurde. Es gab keine Musiker mehr, die im Moment der Aufführung noch irgendwelche Klänge hätten hervorbringen können; alle Klänge und Klangstrukturen waren vorproduziert. Es gab keinen privilegierten Ort mehr, an dem sich die Hörer einer Aufführung hätten versammeln können oder müssen; schon die Hörer der Uraufführung bildeten ein weit verstreutes, anonymes Publikum von Leuten, die zumeist an den häuslichen Radioapparaten zuhörten.

Eine Aufführung ohne live Mitwirkende und die Verbreitung eines Werks an ein verstreutes, anonymes Publikum - beides war 1948 - im sechsten Jahrzehnt der Filmgeschichte und im zweiten Jahrzehnt der Geschichte des Tonfilms - längst nichts Ungewöhnliches mehr. Neu jedoch war, daß beides im Bereich der Musik geschah. Technisch produzierte, z.B. für das Massenmedium Radio produzierte Musik war 1948 ein Novum - auch dann, wenn man bedenkt, daß bereits in den späten zwanziger Jahren Musik ausdrücklich für den Rundfunk komponiert worden ist (z.B. Musik von Paul Hindemith und Kurt Weill für das Hörspiel Lindberghflug von Bertolt Brecht). Die Klangstudien Pierre Schaeffers unterschieden sich von älterer Radiomusik vor allem dadurch, daß sie nicht mehr in herkömmlicher Weise komponiert, d.h. zunächst auf Notenpapier fixiert worden waren.

Schaeffers Klänge sind direktes Resultat seiner Studioarbeit. Mit herkömmlichen Klangmitteln und unter traditionellen Konzertbedingungen lassen sich diese Studioproduktionen nicht mehr aufführen. Sie wird Musik, die man nur am Lautsprecher hören kann (wie es Stockhausen später nannte).

Die Schwierigkeiten, mit solchen Klanggebilden umzugehen und über sie etwas auszusagen, zeigt sich schon dann, wenn man danach fragt, ob und in welcher Weise sie dem entsprechen, was man sich im herkömmlichen Sinne unter "Musik" vorstellt. Handelt es sich wirklich um Musikwerke - oder doch eher um Radiostücke oder Hörspiele, deren Besonderheiten der Begriff "Musik" nicht (oder zumindest nicht vollständig) abdecken kann.

Schon die erste Geräuscheetüde Schaeffers ist ein Stück, in dem nicht nur ungewöhnliche Klänge vorkommen, sondern auch ungewöhnliche Musikinstrumente: Zu hören sind Geräusche von Lokomotive und Eisenbahnwaggons. Als Bestandteile eines Tonfilms oder eines Hörspiels wären sie um 1948 nichts mehr Neues gewesen, wohl aber waren sie neu im Kontext autonomer Musik.

Die Frage, ob und inwieweit Geräusche - zum Beispiel Umweltgeräusche von Lokomotiven oder Eisenbahnwaggons - als vollwertige Elemente musikalischer Gestaltung angesehen werden können - diese Frage ist seit 1948 nie gänzlich verstummt. Zwar wissen wir, welches Aufsehen die Futuristen schon vor dem ersten Weltkrieg mit ihren Geräuschmanifesten und ihren Geräuschinstrumenten erregten, doch wir kennen Vorläufer dieser orchestralen Verwendung von Geräuschen, etwa die komponierten Kanonenschüsse in Beethovens Prgrammusik Wellingtons Sieg bei Vittoria oder das Ensemble von 12 Ambossen in Wagners Rheingold. Auch wissen wir, daß der junge John Cage schon 1937 für eine vollständige musikalische Gleichberechtigung aller Geräusche plädiert hat - und wir wissen, welche Konsequenzen er daraus gezogen hat seit seinen ersten Hörspielexperimenten sowie seit seinen ersten Werken für Schlagzeugorchester oder für präpariertes Klavier. Von all diesen älteren Beispielen aber unterscheidet sich Schaeffers Eisenbahnetüde grundsätzlich: Sie kann nicht mehr im herkömmlichen Sinne aufgeführt, etwa auf Geräuscheinstrumenten "gespielt" werden. Deswegen kennen wir, anders als in den Kompositionen von John Cage, keine im Voraus fixierte Partitur des Stückes, die von Musikern in einer Aufführung klanglich realisiert werden könnte. Das traditionelle Aufführungsritual ist hier unmöglich geworden - und diese Neuerung reicht beträchtlich weiter als die Einbeziehung von Umweltgeräuschen.

Moderne Techniken der Reproduktion, Verarbeitung und Produktion von Klängen haben es möglich gemacht, nicht nur das Arsenal musikalisch verwertbarer Klänge beträchtlich zu erweitern, sondern auch die Abhängigkeit von den traditionellen Bedingungen der live-Aufführung zu überwinden. Aus beiden Gründen ergibt sich, daß im Bereich der technisch produzierten Klangkunst Werke möglich geworden sind, die über die traditionellen musikalischen Klangmittel hinausgehen und nicht mehr im herkömmlichen Sinne "komponiert" und für live-Aufführungen bestimmt sind - und deswegen auch anders gehört und im Musikleben anders verbreitet werden müssen als Musik mit traditionellen Klangmitteln.

Kritische Fragen provoziert technisch produzierte Klangkunst vor allem dann, wenn sie mit aus der täglichen Erfahrung bekannten Erfahrungen arbeitet und gleichwohl musikalische Autonomie beansprucht. In diesem Sinne wurde die musique concrète schon frühzeitig kritisiert: Ihre Klänge - so sagten manche Kritiker - eigneten sich vielleicht für Hörspieleffekte, aber nicht für autonome Musik. das war offensichtlich als kritischer Vorbehalt gemeint, denn "angewandte Kunst", etwa die Musik konkreter Klangproduktion, die sich mit den funktionellen Begrenzungen des Klangdekors etwa im Hörspiel oder im Film begnügte, galt als minderwertig. Man muß diese Bewertung für zutreffend oder für fragwürdig halten: sicher ist jedenfalls, daß durch Schaeffer die Grenzen der "angewandten" Klangkunst allzu eng empfunden hat, und daß er sich intensiv darum bemüht hat, diese Grenzen zu überwinden. Nicht wenige Kritiker aber haben bezweifelt, ob ihm dies gelungen ist - und zu diesen Kritikern gehörten in den frühen fünfziger Jahren auch radikale serielle Komponisten wie Pierre Boulez oder Karlheinz Stockhausen. Diese beiden Komponisten - und auch etliche ihrer profilierten Kollegen - beispielsweise John Cage, Luciano Berio, Mauricio Kagel und György Ligeti - waren niemals dazu bereit, die von Schaeffer eingeführten Neuerungen vorbehaltslos und auf Dauer zu akzeptieren: Die Konzeption einer universellen Klangkunst (unter Einbeziehung aller Geräusche) in Verbindung mit der definitiven Abschaffung der live-Interpretation.

Pierre Schaeffer und Pierre Henry - der kompositorische Partner seiner frühen Jahre, der sich später selbständig machte - haben eine radikale Alternativkonzeption zur Musik mit traditionellen Klangmitteln entwickelt. Die Entschiedenheit, mit der sie sich von der tradierten Kompositionsweise, Aufführungs- und Vermittlungspraxis distanzierten, war nicht weniger radikal als die Alternativen, die zuvor Komponisten der zweiten Wiener Schule - vor allem Anton Webern - zur traditionellen Dur-Moll-Tonalität entwickelt hatten. Vor allem Pierre Schaeffer ist sich der Radikalität des Bruches mit den Traditionen der abendländischen Kunstmusik stets bewußt geblieben. In seiner letzten musikalischen Arbeit stellte er den unversöhnlichen Gegensatz in einer grotesken Karikatur dar: Er läßt ein Präludium von Johann-Sebastian Bach spielen, das gleichzeitig in der Tonbandwiedergabe technisch verfremdet und mit Fragmenten konkreter Musik gemischt wird: Musique concrète präsentiert sich hier als radikale Alternative zum traditionellen Kunstwerk.

3 Bilde

Die musique concrète ist die Kunst der befreiten Geräusche. Dabei hat die realistische Funktion (oder pseudorealistische) Funktion konservierter Umweltgeräusche Pierre Schaeffer nur wenig interessiert. Anders als im traditionellen Hörspiel sollte ein Geräusch in seiner musique concrète kaum jemals die Illusion eines tatsächlichen realen Vorganges weichen. Geräusche als Requisiten der unsichtbaren Hörbühne interessierten ihn nicht sonderlich. Statt dessen versuchte er, deutlich zu machen, wie stark sich technisch konservierte, über Lautsprecher abgehörte Klänge von realen Klängen unterscheiden können. Die Aufnahme des Klanges unterschiedet sich vom Klang selbst nicht weniger deutlich als eine Photographie oder ein Stummfilm vom abgebildeten Gegenstand oder Vorgang. Um dies zu verdeutlichen, hat Schaeffer mit seinen Klangaufnahmen ähnlich vor wie die Pioniere des Stummfilms mit ihren Bildern und Schnittfolgen: Einerseits isolierte er Details, die in der Vereinzelung anders wahrgenommen werden als im kontinuierlichen Fluß der alltäglichen Erfahrung. Andererseits fügte er solche Technik isolierter Details zu Klangmustern und Klangmontagen zusammen, wie sie in der täglichen Erfahrung sonst nicht zu finden sind. Beides - das durch Schnitt isolierte Klangobjekt und die Verknüpfung von Klangobjekten durch Montage - ist typisch für die technisch produzierte Musik seit ihren ersten Anfängen. Der Begriff Komposition wird wörtlich genommen - als Zusammenstellung von Klängen in der Aufeinanderfolge, durch Montage, aber auch in der Überlagerung dieser Mischung. So ließen sich neuartige Klangstrukturen auch aus scheinbar altvertrauten Klängen entwickeln.

La Ville

Der Schock der unsichtbaren Musik, einer Musik ohne live-Interpreten, war offenbar stärker als der Schock einer Musik der Geräusche. Die Emanzipation des Geräusches hat sich im 20. Jahrhundert auch in wichtigen Bereichen der Instrumental-und Vokalmusik durchgesetzt. Der Schock der unsichtbaren Musik aber ist stark geblieben bis in das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hinein. Das zeigt sich nicht zuletzt in immer wieder unternommenen Versuchen, moderne technische Möglichkeiten mit den Praktiken der live-Interpretation zu verbinden. Die live-Elektronik als Kompromiß zwischen technischen Produktionsbedingungen und live-Praxis spielt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter manchen Aspekten eine ähnliche Rolle wie in der ersten Jahrhunderthälfte manche versuche, die Möglichkeiten der modernen Zwölftontechnik zu versöhnen mit der traditionellen Dur-Moll-Tonalität. Gelegentlich wird die live-Musik gegenüber der technisch vorproduzierten Musik mit ähnlichen Argumenten verteidigt wie in den zwanziger Jahren die neoklassizistische Neutonalität gegenüber der Atonalität der Wiener Schule: Das Neue wird als Ausläufer des Tradierten oder sogar als veraltet bezeichnet - die atonale Musik seit den zwanziger Jahren, die Tonbandmusik seit den sechziger Jahren. In einem wieder anderen Falle wurde nicht selten vergessen, daß wichtige Probleme des als veraltet abqualifizierten Neuen ungeklärt blieben, während die als modern etikettierten Restaurationsversuche manchen Schwierigkeiten durch den Rückgriff auf Bekanntes abzuhelfen schienen.

Die Veränderungen des Hörens, die die Einführung und Entwicklung der unsichtbaren Lautsprechermusik ausgelöst hat, hängen weitgehend damit zusammen, daß diese sich als eine Musik der Klangbilder beschreiben läßt. Um sich die Bedeutung dieser Charakterisierung zu verdeutlichen, könnte man versuchen, sie zu vergleichen mit einer anderen, sei es auch schlagwortartig vereinfachenden Bezeichnung für bestimmte Tendenzen in der frei-atmenden Musik des frühen 20. Jahrhunderts, wenn man in ihr eine Musik der Klangzentren finden will. In der Musik der Klangzentren - im frühen 20. Jahrhundert auch in früheren historischen Vorbildern - ist es möglich geworden, einzelne harmonische Konstellationen als selbständige Einheiten auszugestalten - ohne Einbindung in andere harmonische Konstellationen, die vorausgehen oder folgen, in besonderen Fällen vielleicht sogar gleichzeitig zu hören sind. Diese Konzeption konzentrierte sich zunächst auf Tonkonstellationen, in manchen Fällen auch mit geräuschhaften Tonverfremdungen durch besondere Spielweise und durch die Kombination von Instrumentaltönen mit Schlagzeuggeräuschen. Die Bindung der Tonordnung an vorgegebene Regeln der Zeitgestaltung (z.B. Vorbereitung, Übergang, Weiterführung, Anfangs- und Schlußbildungen) war damit aufgegeben - als erster Schritt in eine Richtung, die einige Jahrzehnte später münden sollte in der vollständigen Vereinzelung des komplexen Einzelklangs bei John Cage - oder, im Sinne von Heinz Klaus Metzger ausgedrückt, in der Abschaffung der musikalischen Zusammenhanges. In fast allen Kompositionen von John Cage bleibt allerdings unzweifelhaft, daß diese Ziel - die Abschaffung des musikalischen Zusammenhangs - auch mit herkömmlichen Klangmitteln erreicht werden kann. Dies zeigt nicht zuletzt die Anarchic Harmony in den späten Zahlenstücken. Im Zusammenhang damit ist bedeutsam, daß Cage fast ausnahmslos an der traditionellen Funktion des Komponisten festhält, der seine Musik nach einem vorgegebenen Regelsystem - zum Beispiel entsprechend genau organisierter Zufallsoperationen - a priori entwirft und sie in einer Partitur fixiert, nach der sich live-Interpreten in einer Aufführung zu richten haben. Dies gilt selbst für Kompositionen, die mit technischen Medien realisiert werden müssen - z.B. für alle Stücke des Zyklus der Imaginary Landscapes und für die Tonbandkomposition Williams Mix aus dem Jahre 1952.

Von traditionellen Kompositionen unterscheiden fast alle Werke, die Cage seit den frühen fünziger Jahren geschrieben hat, sich allerdings dadurch, daß der Komponist nicht das gewünschte Klangergebnis im Voraus fixiert, sondern Aktionen von Interpreten, deren Klangergebnis vollständig oder in wesentlichen Aspekten unvoraussagbar bleibt. Unvoraussagbarkeit in diesem Sinne aller ließ sich in der Lautsprechermusik der fünfziger Jahre nicht realisieren. In ihr mußten der Komponist alle Klänge im Studio selbst produzieren, und die Ergebnisse der Verbreitung und Montage exakt auf einem Tonträger fixieren. In den ersten drei Jahren der musique concrète war dies die Schallplatte.

Seit 1951 wurden die Stücke auf Tonband produziert, waren also in allen Einzelheiten einer musikalische Montage exakt und eindeutig fixierbar. John Cage konnte in dieser Situation Tonbandproduktionen mit unvoraussagbaren, unbestimmten Klangresultaten nur dadurch erreichen, daß er Partituren mit Montageschemata schrieb, die bei der klanglichen Realisation auf unterschiedliche Weise realisiert werden konnten. In diesem Sinne konzipierte er Imaginary Landscape No.5, als exaktes Montageschema, das der Realisator auf frei wählbaren Schallplatten anwenden konnte, sowie Williams Mix, ein Werk, für das das Montageschema Klangstrukturen sowie bestimmte Eigenschaften der Klangverarbeitung und Klanggestaltung vorschrieb, aber nicht die Klänge selbst. Unvoraussagbarkeit und Unbestimmtheit führten in beiden Stücken zu vollkommen unterschiedlichen Konsequenzen: Während in Imaginary Landscape No. 5 viele unterschiedliche Realisationen mit durchaus unterschiedlichen klanglichen Resultaten bekannt geworden sind, ist die Partitur zu Williams Mix so kompliziert und umfangreich, daß bis heute nur eine einzige Realisation dieses Stückes zustande gekommen ist, die vom Komponisten selbst stammt. So hat diese Realisation einen ähnlichen Status erhalten wie andere Produktionen der Tonbandmusik: Es gibt nur eine einzige, vom Komponisten selbst realisierte und auf Tonband eindeutig fixierte Fassung des Stückes - obwohl es zutrifft, daß Cage hier seiner Partitur gefolgt ist, die eigentlich auch andere klangliche Resultate zulassen würde. Wer von dieser Partitur nichts weiß, kann deswegen versuchen, dieses Stück ähnlich zu hören wie andere Werke eindeutig fixierter Tonbandmusik.

Williams Mix

In der Musik von John Cage haben sich extreme Konsequenzen einer Entwicklung ergeben, die bereits vor dem Beginn seiner kompositorischen Arbeit begonnen hatte - beispielsweise in der Zwölftonmusik seines Lehrers Arnold Schönberg. Von großer Bedeutung ist eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Form und Struktur - d.h. die Beziehungen zwischen dem Werk als hörbares Resultat und dem Werk als Resultat kompositorischer Arbeitsprozesse. Die Formanalyse und die Strukturanalyse gehen von vollkommen unterschiedlichen Ausgangsgegebenheiten aus und verfolgen durchaus unterschiedliche Ziele - selbst dann, wenn versucht wird, über das Verhältnis eines dieser Analyseansätze zum anderen gründlich nachzudenken. Eine Analyse, die von Reihentabellen ausgeht, hat andere Ansprüche und Ziele als die Höranalyse eines in Reihentechnik komponierten Werkes. Versuche, die Ergebnisse dieser beiden grundverschiedenen Analyseansätze aufeinander zu beziehen, sind schwierig; sie können sich allerdings im Falle klassischer Zwölftonmusik in der Regel darauf berufen, daß es sich hier noch um Komposition im klassischen Sinne insoweit handelt, daß sie ausgehen vom Prinzip der Klangvorstellung des Komponisten - einer Klangvorstellung, der das klangliche Resultat einer Aufführung möglichst nahe kommen kann und soll. Im Idealfall hört der Hörer einer Aufführung oder Aufnahme aber auch in dieser Musik genau das klangliche Ergebnis, das der Komponist sich zuvor vorgestellt hatte. Diese Idealvorstellung einer Identität des a priori Vorgestellten und des a priori tatsächlich konkret Wahrgenommenen wird erst von John Cage grundsätzlich in Frage gestellt. In seiner kompositorischen Entwicklung tendierte er mehr und mehr zu kompositorischen Verfahren, deren klangliche Resultate unbestimmt blieben. Bei ihm ist die Polarisierung zwischen Form und Struktur ins Extrem getrieben - etwa dann, wenn er in extrem detaillierten, in allen rhythmisch minutiös fixierten Partituren genauestens vorschreibt, welche Frequenz und Lautstärke auf Radioapparaten eingestellt werden sollen oder wie ein Realisator von ihm Fragmente aus frei wählbaren Schallplattenfragmenten montieren soll. Niemand kann voraussagen, welche Klänge an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit aus den Radiolautsprechern kommen werden oder welche Schallplatten und welche ihnen entnehmbaren Fragmente ein Realisator auswählen wird. Für diese Medienkompositionen ergab sich eine paradoxe Situation - nicht unähnlich derjenigen, die Cage fast gleichzeitig in einem Instrumentalwerk erreicht hatte: In der Music of Changes für Klavier. In diesem Stück und in den Medienkompositionen der frühen fünfziger Jahren ergab sich ein Spannungsverhältnis zwischen dem zufallsbedingten Kompositionsverfahren einerseits und rigoros fixierten Anweisungen an die Interpreten andererseits. In der Folgezeit hat Cage den Konflikt dadurch gelöst, daß er auch in seinen Partituren auf ein die jeweilige Aufführung eindeutig fixierendes Klangergebnis mehr und mehr verzichtete. So arbeitete er beispielsweise auch in der Radio Music (1956) mit Radioklängen, aber mit weniger rigoroser Anweisung an die Interpreten als in der älteren Radiokomposition Imaginary Landscape No. 4. Die jüngere Partitur ließ dem Interpreten mehr Spielraum, so daß die Radio Music im Klangergebnis viel stärker vom live-Aktionen geprägt erscheint als die "Imaginary Landscape No. 4. In der Folgezeit haben sich diese Tendenzen auch in elektroakustisch geprägten Werken von Cage verstärkt, daß in den sechziger Jahren die live-Elektronik entscheidende Bedeutung für die Kompositionen von Cage und ihre Aufführungspraxis erlangte. In dieser Musik erlangte der Aspekt der Aktivierung des Interpreten entscheidende Bedeutung. Allerdings blieb es nicht ohne Auswirkung, daß diese auf Unbestimmtheit, auf klangliche Vieldeutigkeit angelegten Stücke oft weniger in den Partituren bekannt wurden als in eindeutig fixierten Schallplattenaufnahmen (die dann allerdings in der vielseitigen Ausdeutbarkeit der Partituranweisungen kein Bild mehr vermitteln konnte. In HPSCHD versuchte Cage, dies wenigstens teilweise auszugleichen, indem er den Hörer der Schallplatte mit dem Schallplattencover beigelegten Anweisungen zu aktivieren versuchte. Dennoch ließ sich auch an diesem Werk ablesen, daß die Orientierungsmuster in der Musik sich seit den späten sechziger Jahren zu ändern begannen. Noch deutlicher wurde dies in einer Reihe von Medienstücken der späten siebziger und achtziger Jahre, beginnend mit Roaratorio . Zwar sind auch diese Stücke noch stark geprägt vom Charakter der sound performance, wie er charakteristisch ist für John Cage ebenso wie für die von ihm geprägten Vertreter der amerikanischen sound poetry. Im Falle Roaratorio wurde dies vor allem in der Klangschicht des Sprechtextes deutlich - etwa in der Weise, daß er einerseits auf Band vorproduziert und mit den Geräuschen und Musikaufnahmen gemischt wurde, daß andererseits aber auch Aufführungen in einer halb-live-Version möglich waren, in der Cage seinen Text las, begleitet von der Tonbandwiedergabe der Geräusche und Musikzuspielungen. Als Auftragswerk des Hörspielstudios des Westdeutschen Rundfunks war das Werk allerdings so angelegt, daß es vollständig auf Tonträger fixiert und in dieser Form im Rundfunk verbreitet werden konnte: Schon die Wahlmöglichkeiten zwischen reiner Tonbandversion und halb-live Version macht allerdings deutlich, daß hier in den Möglichkeiten der Studioarbeit mit vorproduzierten Klängen nur in begrenztem Maße gebraucht worden sind. Überdies wird nicht nur in der Partie der Sprechstimme, sondern auch in den Zuspielungen irischer Volksmusik deutlich, daß Cage (wie übrigens auch mit den meisten seiner Werke) den live-Charakter der Musik eindeutig den Vorzug gibt vor dem Charakter einer Studioproduktion mit vorproduzierten Klängen. Auch in seinem Falle zeigt sich, daß die extremen Klangsequenzen der technisch produzierten Musik auch von exponiert modernen Komponisten des 20. Jahrhunderts nicht uneingeschränkt unterstützt werden.
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