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3.18 Verrätselte Hörwelt - 50 Jahre Musique concrete


Rudolf Frisius

Verrätselte Hörwelt

50 Jahre musique concrète

Der 50. Geburtstag der musique concrète ist ein paradoxes Jubiläum. Einerseits erinnert er daran, daß vor einem halben Jahrhundert eine neue Musikart entstanden ist: Die erste Musik, deren Klänge nicht mehr live im Konzertsaal entstehen, sondern im Studio vorproduziert werden müssen: als technisch produzierte Hörkunst - als "unsichtbare Musik", deren Klänge aus dem Lautsprecher kommen. Andererseits ist offensichtlich, daß die Kunst der technisch produzierten Klänge 1998 ihren wichtigsten Gedenktag ganz anders begehen muß als die Kunst der technisch produzierten Klänge - der Film, der schon 3 Jahre zuvor bereits 100 Jahre alt geworden ist. Das Gedenkjahr der musique concrète gibt Grund nicht nur zu Rückblicken auf eine mehr oder minder besonnte Vergangenheit, sondern vor allem auch zu neuen Fragen an die Gegenwart: In der merkwürdigen Paradoxie eines aktuellen Jubiläums.

Die konkrete Musik, deren erste Produktionen 1948 von Pierre Schaeffer in einem Pariser Rundfunkstudio produziert und als "Geräuschkonzert" gesendet wurden, erinnert uns daran, daß über Lautsprecher projizierte Klänge bis heute in vielerlei Hinsicht ungewohnt und rätselhaft geblieben sind - ganz im Gegensatz zu den (auf Kinoleinwand oder TV-Monitor) projizierten Bildern, an die unsere Wahrnehmung sich seit den Anfangsjahren des Stummfilms gewöhnt hat. Unsichtbare Geräusche erscheinen uns unheimlicher als stumme Bilder. Selbst scheinbar wohlbekannte Klänge können völlig ungewohnt und mysteriös wirken, wenn sie losgelöst von Assoziationen mit Sichtbarem erscheinen - etwa als unsichtbar fahrende surrealistische Eisenbahnen in der ersten Produktion von Pierre Schaeffer oder später bei Pierre Henry in großangelegten Lautsprecher-Variationen über die Klänge einer knarrenden oder quietschenden Tür. Diese Musik bricht mit Tabus, die selbst in weiten Bereichen der Avantgarde bis heute noch hartnäckig verteidigt werden: Alltägliches und Artifizielles, Profanes und Sublimiertes, Vorgefundenes und neu Konstruiertes bleiben nicht mehr starr voneinander getrennt, sondern präsentieren sich in stetiger Veränderung und in vielfältigen Wechselwirkungen.

Sowohl der Film als auch die Lautsprechermusik sind in Frankreich erfunden worden und haben sich von dort aus rasch über die ganze Welt verbreitet. Der über 50jährige Entwicklungsvorsprung des Films hat dazu geführt, daß Hören und Sehen sich im technischen Zeitalter durchaus unterschiedlich entwickelt haben: Die experimentelle, mit technisch montierten Bildern arbeitende Filmkunst hat spätestens in profilierten Stummfilmen der zwanziger Jahre ihre eigenen ästhetischen Wege gefunden und dabei sich emanzipiert von literarischer Narrativität, von live-Erlebnissen der bildenden Kunst und des Theaters. Die Musiker aber hatten damals noch nicht die technischen Möglichkeiten, entsprechend mit montierten Klängen zu arbeiten. Schallplatte und Radio inspirierten eher zu Konservierung und Verbreitung konventioneller Klang- und Musikstrukturen als zu experimenteller Filmvertonung im Studio. Kein Wunder also, daß die Filmmusik von Anfang an unter diesem Anachronismus zu leiden hatte: Hochartifizielle Bildmontagen wurden begleitet von klischeedurchtränkten Improvisationen eines Mannes am Klavier oder, bei luxuriöserer Ausrüstung, von einem live-Orchester. Seit den dreißiger Jahren kennen wir, vor allem aus den kommerziellen Holywood-Filmen, die üppige akustische Bildverschmierung durch einen (schon damals anachronistischen) spätromantischen Orchester-sound. Experimentelle Filmmusik entstand, von vereinzelten Ausnahmen abgesehen, erst in der Verspätung mehrer Jahrzehnte - beispielsweise in den grandiosen Lautsprechermusiken, die Pierre Henry, der produktivste Pionier der musique concrète, berühmten Stummfilmen wie Walther Ruttmanns "Berlin, die Sinfonie der Großstadt" (1927) oder Dziga Vertovs "Mann an der Kamera" (1929) unterlegte: Die konkrete Musik, die als unsichtbare Kunst der bildlosen Klänge begann, ist rasch erwachsen und zum polyphon selbständigen Partner der experimentellen Filmkunst geworden.

Auch nach einem halben Jahrhundert ist das utopische Potential der konkreten Musik noch so lebendig wie in den Anfangsjahren. Utopisch ist diese Akustische Kunst nach wie vor selbst im strengsten Wortsinne: Im Gegensatz zum Film hat sie bis heute keinen eigenständig etablierten Platz im Spektrum der Künste gefunden. Wer Filme sehen will, kann ins Kino gehen oder den Fernseher einschalten. Für die Lautsprechermusik gibt es bis heute keine vergleichbaren Aufführungsorte. Aus den Lautsprechern der häuslichen Stereoanlagen ertönen meistens konventionelle Klänge oder deren verschämte technische Imitationen, und in den meisten Konzerten erleben wir nach wie vor live agierende Sänger und Interpreten. Wie rückständig unsere Hörkonventionen sind, läßt sich im Vergleich verdeutlichen: Niemand erwartet, daß bei Filmvorführungen auch live agierende Schauspieler dabei sein müssen - die Qualität des im Studio Vorproduzierten wird akzeptiert als vollwertiger Ersatz für das nicht mehr mögliche live-Erlebnis, das die meisten Konzertbesucher immer noch für unverzichtbar halten.. Das Auge hat sich in Film und Fernsehen vollständig auf die Gegebenheiten des technischen Zeitalters eingestellt, und die Wahrnehmung akzeptiert dort auch vorproduzierte Lautsprecherklänge - selbst avancierte konkret-experimentelle Filmmusiken etwa von Pierre Henry, Francois Bayle oder Bernard Parmegiani. Das beunruhigend Neuartige der experimentellen Klänge wird allerdings noch deutlicher, wenn sie ohne begleitende Filmbilder zu hören sind - etwa in einem Konzert des Pariser Lautsprecherochesters, in dem es - außer son-et-lumierè-Effekten mit raffiniert ausgeleuchteten Lautsprecher-Batterien - nichts an ein herkömmliches Konzert Erinnerndes mehr zu sehen gibt. Diese Musik arbeitet mit dem Universum aller Klänge der Hörwelt, die sich in der Außenwelt vorfinden und aufnehmen, im Studio verarbeiten oder auf synthetischem Wege neu erzeugen lassen - in überraschenden Konfrontationen und Transformationen des Bekannten und Unbekannten, der Stimmen und Instrumente, der technisch modulierten oder generierten Klänge, die in der Vorstellung des Hörers eine eigenständige innere Bildwelt entstehen lassen können. Diese Hörkunst konzentriert sich auf grundlegende Veränderungen der Hörerfahrungen, die erst im Zeitalter der technischen Produzierbarkeit möglich geworden sind. Die ästhetischen Möglichkeiten sind vielfältig - von der dokumentarischen Geräuschkunst über Montagestrukturen des Hörfilms bis zu Bekanntes verwandelnden oder völlig neuartigen Hörwelten. Sowohl der Komponist als auch der Hörer sind hier vor neue Aufgaben gestellt: Die neuen Klangstrukturen passen in kein vorgegebenes System der Kompositionslehre oder Musiktheorie, sie lassen sich in keiner etablierten Notenschrift darstellen und deswegen auch nicht in herkömmlicher Weise von Interpreten live aufführen. Die Kommunikation zwischen Künstler und Hörer muß hier auf ganz anderen Wegen gesucht werden als in allen bisher erschlossenen Bereichen der Musik und der Hörkunst: In der Suche nach dem Unbekannten selbst dort, wo es - wie häufig in der moderen Fabrik- und Medienwelt - von etablierten Strukturen und Konventionen vollständig verschüttet zu sein scheint.

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