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3.20 Musique concrete


Rudolf Frisius

Musique concrète

1. Zur Terminologie und Theorie

Musique concrète (Konkrete Musik) ist die von Pierre Schaeffer eingeführte Bezeichnung für Musik, die technisch fixierte Klänge als Ausgangsmaterialien verwendet und und bei deren Auswahl und Verarbeitung von den empirischen Gegebenenheiten der konkreten Hörwahrnehmung und den Möglichkeiten ihrer Dokumentation und Weiterentwicklung in modernen Techniken der Klangaufnahme und -verarbeitung ausgeht.Die ältesten Produktionen, für die Schaeffer diese Bezeichnung eingeführt und verwendet hat, sind seine 1948 entstandenen Etudes de bruits.

Musique concrète entsteht in der Umkehrung des traditionellen Kompositionsverfahrens: Während dieses ausgeht von vorgestellten Klängen und Klangstrukturen und diese in einer Notation fixiert, nach deren Maßgabe eine konkrete klangliche Realisierung entstehen kann, geht die musique concrète von konkreten Klangphänomenen aus, die als Schallaufzeichnungen gespeichert sind und im Studio weiter verarbeitet werden können, was die Bildung abstrakter musikalischer Zusammenhänge erlaubt. Die "Musik im gewohnten Sinn", die "sogenannte abstrakte" Musik, führt nach Schaeffer von der (geistigen) Konzeption über die Niederschrift zur instrumentalen Ausführung, während die von ihm begründete konkrete Musik ausgeht von der Bereitstellung von Klangmaterialien, diese im Stadium des Experimentierens und in Verbindung mit Skizzen aufarbeitet und auf dieser Grundlage eine (materielle) Komposition realisiert; die erstere Musik führt also vom Abstrakten zum Konkreten, die letztere vom Konkreten zum Abstrakten (Schaeffer 1967 /dt.1974, S. 19). - Diese von der Kompositionsweise ausgehende Definition ist umfassender als der vor allem in den frühen fünfziger Jahren vorherrschende Sprachgebrauch, der sich an den verwendeten Klangmaterialien orientierte, wobei die musique concrète durch vorgefundene, mit dem Mikrophon aufgenommene Klangmaterialien charakterisiert wurde (im Unterschied zur elektronischen Musik, die von synthetischen, im Studio erzeugten Klängen ausgeht). Da sowohl für konkrete als auch für elektronische Klänge bereits in den fünfziger Jahren differenzierte Möglichkeiten der klanglichen Verarbeitung entwickelt wurden, so daß bei der phänomenologischen Beschreibung der verarbeiteten Klänge die Bestimmung der Herkunft der Ausgangsklänge sekundär oder unmöglich werden kann, hat Pierre Henry für konkrete und elektronische Musik die zusammenfassende Bezeichung "elektroakustische Musik" vorgeschlagen. Im Kontext elektroakustischer Musik bestimmt sich konkrete Musik im umfassenden, nicht auf die Produktionsbedingungen der frühen 50er Jahre eingegrenzten Sinne als Musik, die in empirischer Behandlung von technisch konservierten und verarbeiteten (insbesondere auch von technisch produzierten) Klangmaterialien komponiert wird entsprechend folgenden 1957 formulierten Postulaten Schaeffers: 1. Vorrang des Ohres, 2. Bevorzugung der realen akustischen Quellen, für die unser Ohr weitgehend geschaffen ist (und insbesondere Ablehnung einer ausschließlichen Zuhilfenahme elektronischer Klangquellen), 3. Erforschung einer Sprache. Die in diesen Postulaten implizierte operative Neubestimmung der konkreten Musik als "experimentelle Musik" verbindet Schaeffer mit der Neubestimmung ihrer Klangforschung und kompositorischen Praxis in 5 Regeln: 1. Hören von Klangobjekten aller Art, 2. Realisation neuer Klangobjekte, 3. Bildung musikalischer Objekte durch technische Verarbeitung von Klangobjekten, 4. Realisation von Klangstudien, 5. freie klangforscherisch-kompositorische Studioarbeit (Schaeffer 1967/dt. 1974, S. 30 f.).

Während für John Cage "experimentelle Musik" sich im Verhältnis zwischen Notation und klanglicher Realisierung bestimmen läßt, ergibt sie sich in der von Pierre Schaeffer begründeten Tradition der musique concrète im Verhältnis zwischen klanglicher Erfahrung und kompositorischer Vorstellung. John Cage definiert das Experimentelle im Verhältnis zwischen unbestimmter Notation und klanglichem Resultat, Pierre Schaeffer dagegen im Verhältnis zwischen klanglicher Erfahrung und kompositorischer Gestaltung. Cage hält dabei im Regelfalle am Primat einer vorgegebenen Partitur fest (deren Zeichen allerdings unbestimmt sein können, so daß wichtige Aspekte der Interpretation unvoraussehbar bleiben), während für Schaeffer eine Partitur nicht mehr unabdingbare Voraussetzung der klanglichen Realisierung sein muß, da die im Studio entstandene Komposition als Schallaufzeichnung fixiert ist.

Als Kunst der fixierten Klänge ist die Musique concrète keinen a priori festgesetzten Einschränkungen ihres Klangmaterials unterworfen - insbesondere nicht restriktiven Definitionen der Musik als Tonkunst. Im Kontext der fixierten Klänge entfällt die Sonderstellung der Klänge mit eindeutig bestimmter Tonhöhe und verliert sogar die dualistische Unterscheidung zwischen Ton und Geräusch an Bedeutung, da neben der Höhe (Materie) des Klanges auch sein zeitlicher Verlauf (seine Form) differenziert wird. Daraus ergeben sich Konsequenzen für die Typologie nicht nur für die Klänge selbst, sondern auch für die technischen Verfahren ihrer klanglichen Veränderung: Klangtransformationen können primär die Materie oder die Form des Klanges tangieren (im ersteren Falle z. B. spektrale Veränderungen durch reduzierende Filterung oder anreichernde Ringmodulation, im letzteren z. B. Rückwärtswiedergabe oder Zerhackung; beide Möglichkeiten verbinden sich z. B. im Falle der totalen Transposition, bei der sich gleichzeitig Tonlage und Ablaufgeschwindigkeit bzw. Dauer verändern, während eine alleinige Veränderung der Tonlage als Veränderung der Materie, eine alleinige Veränderung von Ablaufgeschwindigkeit bzw. Dauer als Veränderung der Form des Klanges einzustufen ist. Durch technische Manipulationen kann sich das Hörphänomen eines Klangobjektes so stark verändern, daß seine ursprüngliche Identität verloren geht und ein neues Klangobjekt entsteht. Die Identität der Klangobjekte bestimmt sich also unabhängig nicht nur von der Identität der Klangquelle (die durchaus unterschiedliche Klangobjekte hervorbringen kann), sondern auch von der Identität einer bestimmten Klang-Aufnahme.

Für Schaeffer wird der ausgehaltene Ton, die Grundkonstellation der traditionellen abendländischen Musiktheorie, zu einem von neun Sonderfällen im Zentrum einer Typologie, die nicht nur verschiedene Tonhöhenbestimmungen (eindeutig - tonisch, komplex - geräuschhaft, zeitlich variabel) unterscheidet, sondern auch verschiedene Verlaufsformen (ausgehalten, Impuls, Impulskette). Die verschiedenen Klangtypen bestimmt Schaeffer als Grundkonstellationen der Hörwahrnehmung - also nicht nur der Musik (im Bereich der Klänge, die um ihrer selbst willen gehört werden), sondern auch der Sprache (deren Klänge als Übermittler von Bedeutungen aufgefaßt werden) und der Umweltgeräusche (deren Klänge als Verweise auf reale Vorgänge wahrgenommen werden) (Schaeffer 1952, 1967). Hieraus ergibt sich insbesondere, daß als Ausgangsmaterialien der musique concrète nicht nur Klänge standardisierter Musikinstrumente oder menschlicher Gesang in Frage kommen, sondern auch beliebige Stimmäußerungen von Menschen und Tieren oder beliebige Umweltgeräusche. So ergibt sich "Musik im weiteren Sinne" (Pierre Henry 1982) als Akustische Kunst.

Aus der technischen Fixierung und Manipulation der Klänge ergibt sich die Notwendigkeit eines "reduzierten Hörens", für das die Identifikation einer Schallquelle fragwürdig oder unmöglich geworden ist und das sich statt dessen am Klangphänomen selbst orientieren muß. Dies ergibt sich daraus, daß selbst der möglichst originalgetreu aufgenommene Klang sich als "Klang-Bild" vom originalen Klangvorgang grundsätzlich unterscheidet und daß darüber hinaus spätere technische Veränderungen des Aufgenommenen durch Montage, Mischung und klangliche Verarbeitung die klanglichen Eigenschaften der ursprünglichen Aufnahme mehr oder weniger weitgehend modifizieren können.

Da die Herkunft des Klangmaterials für die phänomenologische Beschreibung der musique concrète sekundär ist, ist in ihren Produktionen auch die Einbeziehung von oder sogar die Konzentration auf rein synthetisch erzeugte, elektronische Klänge nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Allenfalls in den Anfangsjahren der technisch produzierten Musik, in den frühen 50er Jahren, war es möglich, Konkrete und Elektronische Musik in strikter, sich wechselseitig ausschließender Gegensätzlichkeit zu definieren, da etwa die Etudes de bruits (1948) von Schaeffer und die Elektronischen Studien I und II (1953, 1954) von Stockhausen nicht nur in den Ausgangsmaterialien, sondern auch in der Kompositionsweise zunächst als Ausgangspunkte vollkommen unterschiedlicher Musikentwicklungen angesehen werden konnten. Erst später wurde deutlich, daß in der kompositorischen Praxis der Aspekt der Ausgangsmaterialien gegenüber den beiden Musikarten gemeinsamen Verarbeitungstechniken mehr und mehr an Bedeutung verlor. So entwickelten sich Konzeptionen der Synthese zwischen elektronischer und konkreter Klanggestaltung bei Stockhausen (Gesang der Jünglinge, 1956; Telemusik, 1966; Hymnen, 1965-67; Sirius, 1975-77; Licht, 1977 ff.) und Ansätze konkreter Musik mit elektronischen Klängen bei Schaeffer (Le Trièdre fertile, 1976).

2. Zur Entwicklungsgeschichte

Vorstufen der musique concrète lassen sich finden einerseits in bruitistischen Tendenzen des Futurismus (unter theoretischer Berücksichtigung der gesamten Hörwelt, insbesondere auch der technisch-industriell geprägten Geräusche - im Unterschied zur späteren musique concrète bei der praktischen Realisierung allerdings begrenzt auf live zu spielende Instrumente, ohne Berücksichtigung der Möglichkeiten technischer Reproduktion), andererseits in verschiedenen kompositorischen Tendenzen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Als Vorläufer der musique concrète benennt Schaeffer Edgard Varèse, John Cage und Olivier Messiaen (Schaeffer 1974, S. 62-66). Er bezieht sich dabei auf die Emanzipation des Geräusches und der Geräuschkomposition (in Varèses Kompositionen für Geräuschinstrumente und technisch produzierte Klänge sowie in seiner Konzentration auf die Komposition nichtstationärer Vorgänge), auf die Loslösung von den eindeutigen Bestimmungen des temperiert-zwölftönigen Tonsystems (nicht nur bei Varèse, sondern z. B. auch Cages Kompositionen für präpariertes Klavier) und auf die Erweiterung des musikalischen Materials über die Grenzen der abendländischen Tonkunst hinaus (bis in den Bereich außereuropäischer Rhythmus- und Tonordnungen sowie von Klängen aus der natürlichen Umwelt, z. B. Vogelgesang, bei Messiaen).

Die ersten Produktionen der konkreten Musik entstanden im Jahre 1948. Pierre Schaeffer realisierte damals eine Reihe von Stücken, die er unter dem Titel Etudes de bruits ("Geräusch-Etüden") zusammenfaßte und in Radiosendungen der Öffentlichkeit präsentierte. - In der zuerst entstandene Produktion, der Etude aux chemins de fer ("Eisenbahn-Etüde"), verarbeitet Schaeffer Hörereignisse aus der technisch geprägten Umwelt: Eisenbahngeräusche, die häufig in technisch produzierten Ostinati (aus "geschlossenen Rillen" von Schallplattenaufnahmen etwa von Waggongeräuschen) rhythmisch gruppiert sind, so daß sich neben realistischen, hörspielähnlichen Elementen (wie der Anfahrt des Zuges zu Beginn des Stückes) im weiteren Verlauf des Stückes auch innermusikalische Zusammenhänge bilden können. -Mit Umweltgeräuschen arbeitet auch die 1950 entstandene Produktion L´oiseau RAI ("Der Vogel RAI"). In diesem Stück verwendet Schaeffer Fragmente aus der Aufnahme des Gesanges einer Nachtigall, die in verschiedenen Geschwindigkeiten bald vorwärts, bald rückwärts abgespielt werden. Der Name des Stückes nimmt Bezug auf den italienischen Rundfunk RAI, weil Schaeffer das Klangmaterial des Vogelgesanges damals in einem Indikativ dieses Senders gefunden hatte.

Als Gegenstück zu der von Umweltgeräuschen ausgehenden Eisenbahn-Etüde entstand 1948 eine Komposition, die live gespielte und technisch produzierte, improvisierte und komponierte Musik miteinander verbindet: Aus Aufnahmen von Orchesterklängen und improvisierten Klavierpassagen entstand die Etude "concertante" ou étude pour orchestre, die später als selbständiges Werk unter dem Titel Concertino Diapason aus dem Zyklus der Geräusch-Etüden ausgegliedert wurde. Dieses Konzept wurde 1951 weiter entwickelt von André Hodeir in der Kombination originalgetreu und technisch manipuliert aufgenommoner Jazzsequenzen in Jazz et Jazz. Schaeffer selbst verfolgte diese Spur weiter in "Musik über Musik": mit Montagen und Mischungen aufgenommener Musik (ausgehend von von ihm selbst komponierten kurzen Instrumentalsequenzen in Suite 14, 1949; in Mischungen von Aufnahmen afrikanischer Musik in Simultané camerounais, 1959; in der Mischung der technisch manipulierten Aufnahme eines Präludiums von J. S. Bach mit konkreten Klängen in Bilude, 1979).

Eine weitere Klangkategorie in Schaeffers ersten Produktionen bilden präparierte oder technisch manipulierte Instrumentalklänge. Schaeffer verwendete solche Klänge erstmals 1948, als er zwei Stücke mit Klavierklängen realisierte: Die Etude violette und die Etude noire. Schaeffer arbeitete im Studio damals mit Klavierklängen, die ihm der junge Pierre Boulez eingespielt hatte. Bei der Arbeit mit Klavierklängen kam er erstmals zu dem Entschluß, in seiner Komposition auch rückwärts wiedergegebene Klänge zu verwenden.

Schaeffer war von Anfang an lebhaft daran interessiert, nicht nur isolierte Einzelklänge zu verarbeiten, sondern auch komplexere, musikalisch stärker vorgeformte Klanggebilde. Ein erster Versuch in dieser Richtung war die 1948 entstandene Etude aux tourniquets, in der Fragmente instrumentaler Passagen verarbeitet wurden. Dieses Stück war übrigens die letzte Komposition, in der Schaeffer noch zumindest im ersten Arbeitsschritt versucht hat, nach einer vorgegebenen Partitur zu arbeiten. Bei der klanglichen Realisierung wurde ihm dann aber deutlich, daß bessere Resultate erreicht werden konnten, wenn das partiturgetreu Aufgenommene gründlich ummontiert und weiter verarbeitet wurde in einer Weise, die den Notentext letzlich fast verschwinden ließ.

Einen Schritt weiter ging Schaeffer 1949 in seiner größer angelegten, mehrsätzigen Suite 14. Auch diesem Werk liegen Klangfragmente aufgenommener Instrumentalmusik zu Grunde: Schaeffer hatte zunächst einfache Musik für ein Ensemble mit 14 Instrumenten notiert, nach dieser Notation spielen lassen und aufgenommen. Aus dieser Aufnahme wurden bestimmte Fragmente ausgewählt, die im Studio weiter verarbeitet und in neue Zusammenhänge einmontiert wurden. Auch in diesem Werk machte Schaeffer Gebrauch von den Techniken der Rückwärtswiedergabe und der absoluten Transposition (Zeitlupe oder Zeitraffer), sowie überdies von unterschiedlichen Techniken der klanglichen Verfremdung. Das Spannungsverhältnis zwischen im voraus notierten und nach der technischen Manipulation im Studio radikal veränderten musikalischen Strukturen befriedigte ihn aber letztlich nicht. Deswegen kam ihm 1949 der Beginn einer mehrjährigen Zusammenarbeit mit Pierre Henry - einem gelernten Pianisten und Schlagzeuger, der Komposition bei Olivier Messiaen studierte - durchaus gelegen.

Die Zusammenarbeit zwischen Henry und Schaeffer begann damit, daß Henry ihm eine mit präparierten Schlaginstrumenten realisierte Musik zu einem Fernsehfilm über Verlangsamung und Vergrößerung (Voir l´invisible) vorspielte und Schaeffer ihn dazu anregte, die Aufnahme in verschiedenen Geschwindigkeiten abzuspielen und dazu auf einem präparierten Flügel zu improvisieren. Damit war ein erster Ansatz für eine spätere Zusammenarbeit in der Weise gefunden, daß Henry im Studio mit seinen präparierten Instrumenten Klänge produzierte, die Schaeffer im Aufnahmeraum aufnahm und nach Möglichkeit schon während der Aufnahme technisch manipulierte. Diese Arbeitsteilung wurde in der Folgezeit bald differenziert, da auch Henry sich mehr und mehr in die technischen Prozeduren einarbeitete; dennoch sind Spuren der ursprünglichen Rollenaufteilung noch in den ersten Gemeinschaftsproduktionen von Schaeffer und Henry deutlich zu erkennen: In Bidule en ut (1950) im Kontext einer kurzen Studie, in der ein kurzes Thema des präparierten Klaviers mehrmals nacheinander in verschiedenen Geschwindigkeiten abgespielt wird, bis eine Stretta das Stück zum Abschluß bringt; in der Sinfonie pour un homme seul (1949-1950) im Wechsel von menschlichen Lauten (z. B. Schritte, Klopfen, Atemgeräusche, Stimmlaute) mit quasi-instrumentalen Passagen präparierter Instrumente (meistens des präparierten Klaviers).

In den Anfangsjahren (bis Ende 1950) hatten Schaeffer und Henry noch keine Magnetophone zur Verfügung, sondern mußten mit acht Plattentellern und Schaltersystemen (zur Regulierung von Einschwingvorgängen und Hüllkurven, zur Auswahl oder Zerhackung von Sequenzen), mit Hebeln für Glissandi und Transpositionen und manuell regulierten Manipulationen arbeiten.

Nach dem Abschluß der ersten größeren Gemeinschaftsproduktion war Henry mit allen technischen Details der Studioarbeit so vertraut, daß er auch Musik in alleiniger Verantwortung realisieren konnte. In den ersten Werken, die in dieser Weise entstanden, ist teilweise eine quasi-instrumentale Faktur, etwa in Passagen des präparierten Klaviers, noch deutlich zu erkennen - vor allem im Concerto des Ambiguités (1950) und in den meisten Stücken des Zyklus Le Microphone bien tempéré (1951-1952). Erste Ansätze einer von diesen Anfängen weitgehend gelösten Kompositionsweise finden sich in der mehrsätzigen Komposition Musique sans titre (1950). Schon in den frühen fünfziger Jahren begann Henry mit dem Aufbau eines umfangreichen Klangarchivs, dessen Materialien in seinen Produktionen bis in die 90er Jahre hinein Verwendung fanden, wobei vielfach auch für dieselben Klänge unterschiedliche Möglichkeiten der Einbettung in Montagen und Mischungen entwickelt wurden (wobei beispielsweise ein Klangostinato aus der Sinfonie pour un homme seul zur musikalischen Begleitschicht der Rezitation eines Gedichtes von Victor Hugo werden konnte).

Im letzten größeren Projekt, das Schaeffer und Henry gemeinsam realisierten, verbinden sich konkrete Klänge sich mit einem Text, mit live-Partien und szenischer Darstellung. In der "konkreten Oper" Orphée (1951-1953). Das Werk existiert in mehreren Fassungen. Die erste Fassung wurde 1951 unter dem Titel Toute la Lyre uraufgeführt. Die französisch-deutsche Fassung Orphée 53 wurde bekannt durch den spektakulären Skandal, den sie bei der Uraufführung auf den Donaueschinger Musiktagen provozierte. Henry, der der von Schaeffer gewünschten Annäherung an Instrumentalmusik und traditionelle Opernästhetik schon damals skeptisch gegenüberstand, versuchte einen Ausbruch aus den bisher erreichten ästhetischen Positionen in einem Schlußsatz, den er allein realisierte. Le Voile d´Orphée verbindet den aufgenommen, technisch auf verschiedene Weisen verarbeiteten Rezitationstext (einen griechisch gesprochenen Hymnus an Zeus) mit Klängen präparierter und technisch manipulierter Instrumente sowie, zu Beginn des Stückes, mit weit ausgreifenden kontinuierlichen Glissandostrukturen, wie es sie bis dahin weder in der konkreten noch in der um einige Jahre jüngeren elektronischen Musik gegeben hatte. Das hier Begonnene hat in den folgenden Jahren Iannis Xenakis weiter entwickelt - zunächst mit instrumentalen Mitteln, in den ausgedehnten Glissandobündeln seines 1955 ebenfalls in Donaueschingen uraufgeführten Orchesterstückes Metastaseis drei Jahre später in komplexen Glissandobündeln seiner ersten Tonbandmusik, die in Schaeffers Studio entstand: Diamorphoses.

1951 war das erste Jahr, in dem im französischen Rundfunk Magnetophone zur Verfügung standen. Josef Anton Riedl, der damals in Kontakt mit Pierre Schaeffer gekommen war und sich von ihm zu eigenen Produktionen konkreter Musik hatte anregen lassen, konnte damals in Deutschland sogleich mit solchen Geräten beginnen - in einem Lande, in dem Tonbandgeräte schon seit 1935 zur Verfügung standen. Bemerkenswert ist, daß Riedl damals in voller Eigenständigkeit zu Lösungen gelangt ist, die etwa gleichzeitig auch im Pariser Studio von jungen Komponisten seiner Generation favorisiert wurden: Pierre Henry ebenso wie Pierre Boulez, der damals mit eigenen Studioproduktionen begann, nutzten die Möglichkeiten des minutiös genauen Bandschnittes aus, um extrem komplizierte rhythmische Beziehungen zu realisieren. Da neben der exakten rhythmischen Kontrolle auch eine genaue Tonhöhenregulierung der aufgenommenen Klänge möglich war (mit Hilfe einer kontinuierlich oder in chromatischen Abstufungen arbeitenden Transpositionsmaschine), lag es nahe, die damals von mehreren radikalen jungen (von ihrem Lehrer Olivier Messiaen beeinflußten) Komponisten bevorzugte serielle Technik auch in den Bereich der Tonbandkomposition zu übertragen und so weiter zu entwickeln. Dies geschah in Werken von Pierre Boulez (Etudes 1 et 2, 1951), Pierre Henry (Antiphonie, 1951; Vocalises, 1952) und Karlheinz Stockhausen (Etude, 1952). Schaeffer brachte diesen Versuchen nur wenig Sympathie entgegen, da sie, trotz der Verwendung konkreter Ausgangsmaterialien, in ihren abstrakten Konstruktionen seinem empirischen Klang- und Kompositionsverständnis der musique concrète widersprachen. Er trennte sich von Stockhausen, der daraufhin seit 1953 als führender Komponist des am Kölner Rundfunk neu gegründeten Studios für Elektronische Musik in Erscheinung trat. Boulez vollzog einige Jahre später von sich aus eine rigorose Trennung von Realisationspraxis und Ästhetik der konkreten Musik. Nachdem er noch 1955 im Studio Schaeffers eine Filmmusik (Symphonie mécanique) realisiert hatte, zog er sich in der Folgezeit weitgehend auf reine Instrumentalmusik zurück und distanzierte sich in der Folgezeit auch öffentlich von Theorie und kompositorischer Praxis der konkreten Musik, deren Klangmaterialien Verfahren seit Mitte der fünfziger Jahre auch von führenden Vertretern der seriell geprägten Musik adaptiert wurden (z. B. von Karlheinz Stockhausen in Gesang der Jünglinge, 1955-1956, oder von Luciano Berio in Tema - Omaggio a Joyce, 1958 mit aufgenommenen Gesangspassagen und Stimmlauten; schon 1952 experimentierte Johne Cage in der Tonbandkomposition Williams Mix mit konkreten Klängen, deren Klangkategorien, Dauern, Ein- und Ausschwingvorgänge und technische Verarbeitungsweisen zuvor global nach Zufallsverfahren festgelegt und in einer Partitur fixiert worden waren). .

Schaeffer hat sich in den frühen fünfziger Jahren darum bemüht, neben jüngeren Komponisten auch Vertreter der damals mittleren Komponistengeneration in sein Studio einzuladen. So entstanden Produktionen von Olivier Messiaen (Timbres - Durées, 1952 - eine Rhythmus-Klangfarben-Partitur, die Pierre Henry klanglich realisierte), Darius Milhaud (La rivière endormie, 1954; Realisation: J. E. Marie) und Henri Sauguet (die Theatermusik Une voix sans personne zu einem Text von Jean Tardieu, 1956; Aspect sentimental, 1957). Von besonderer Bedeutung war eine Einladung an Edgard Varèse, der 1954 gemeinsam mit Pierre Henry die drei Tonband-Interpolationen zum Orchesterwerk Déserts realisierte. Die Uraufführung des Werkes fand im französischen Rundfunk statt (dirigiert von Hermann Scherchen, mit Pierre Henry als Klangregisseur). Das Werk war kombiniert mit einer Symphonie von Tschaikowsky im Rahmen des ersten Konzertes des französischen Rundfunks, das stereophon übertragen wurde. Die Aufführung wurde zu einem der spektakulärsten Skandale der Musik des 20. Jahrhunderts.

1954 war das erste Jahr, in dem Pierre Schaeffer wegen eines längeren Auslandsaufenthaltes selbst kein Werk mehr in dem von ihm begründeten Studio realisieren konnte. Damals begann eine Arbeitsperiode, die vor allem durch Produktionen seiner Mitarbeiter Pierre Henry und Philippe Arthuys geprägt war, darunter viele Werke angewandter Musik (vor allem für Theater, Film und Ballett).

Eine neue Arbeitsphase des Studios begann 1957, nach der Rückkehr Schaeffers. Er setzte sich intensiv für eine erneute Intensivierung der Klangforschung ein (für die er sich schon früher interessiert hatte, als er - als Bilanz ausführlicher Arbeitsberichte über seine ersten konkreten Produktionen und ihrer technisch-ästhetischen Reflexion - 1952 zusammen mit Abraham einen ersten Versuch der phänomenologischen Systematisierung von Klängen unternommen hatte).

Schaeffer entwarf ein Arbeitsprogramm, das von der sinnlichen Erfassung der Hörwelt (aller Klänge, nicht nur der auf synthetischem Wege erzeugten elektronischen Klänge) zur Erforschung neuer musiksprachlicher Zusammenhänge und Verbindungen zwischen Komponist und Hörer führen sollte. In diesem Zusammenhang erschien ihm die gemeinsame Arbeit in einer Forschungsgruppe als wesentlich. Sie sollte ausgehen von einer neuartigen Gehörbildung nach den Maßgaben einer modernen Systematisierung der Klänge. Auf dieser Basis sollten zunächst Klangobjekte, dann musikalische Objekte und schließlich, darauf aufbauend, musikalische Studien (Etudes) geschaffen werden. Schaeffer hielt sich konsequent an dieses Arbeitsprogramm, indem er in den folgenden Jahren ausschließlich Studien komponierte, in denen unterschiedliche Kriterien seiner Klanglehre thematisiert werden: 1958 die Etudes aux allures und die Etudes aux sons animés, 1959 die fünfsätzige Etude aux objets.

1958 verließ Pierre Henry das von Pierre Schaeffer geleitete Versuchsstudio des französischen Rundfunks. Wenig später gründete er ein eigenes privates Studio unter dem Namen APSOME. Die ersten Produktionen, bei denen Henry sich mit eigenen Geräten begnügen mußte, entstanden unter stark eingeschränkten technischen Bedingungen. Henry trug dem Rechnung, indem er in Produktionen wie Entité oder La noire à soixante eine völlig neuartige, klanglich stark reduzierte und abstrahierte, bis in das rein Elektronische hereinführende Klangsprache entwickelte. Danach entstanden im weiteren Verlauf der sechziger Jahre, in denen die klangliche und semantische Abstraktion mehr und mehr aufgegeben wird - beginnend mit La Reine verte, Variations pour une porte et un soupir und Le Voyage (Musik zum tibetanischen Totenbuch), später sich fortsetzend mit der Messe pour le temps présent, die mit vielen an Popmusik erinnernden Klangstrukturen überaus populär wurde, sowie mit dem monumentalen elektroakustischen Oratorium L´Apocalypse de Jean (1968). - Viele Werke Henrys sind als Musik zu Choreographien von Maurice Béjart bekannt geworden - beginnend mit der 1955 realisierten Ballettversion der Sinfonie pour un homme seul, die zur Popularisierung dieses Werkes wesentlich beigetragen hat; sich fortsetzend in zahlreichen ausdrücklich für Béjart bestimmten Ballettmusiken.

Mit Beginn der siebziger Jahre wandte Henry sich dann wieder verstärkt abstrakteren Klanggestaltungen zu, z.B. in der Ballettmusik Mouvement - Rythme - Etude. Seit 1976 konzentriert sich seine Arbeit auf monumentale Klangfresken, in denen die Vielfalt seiner in mehreren Jahrzehnten gesammelten Klangmaterialien präsentiert und verarbeitet wird. In diesen Zusammenhang gehören auch die meisten der für das Hörspielstudio und das "Studio für Akustische Kunst" produzierten Arbeiten, z. B. Journal de mes sons, La Ville/Die Stadt und Une maison des sons.

An Henrys Stelle als (einstmals) engster Mitarbeiter Schaeffers trat 1958 und in einigen folgenden Jahren Luc Ferrari. Auch Ferrari orientierte sich an Schaeffers Arbeitsprogramm und schuf mehrere Etüden zu verschiedenen Kriterien seiner Klanglehre: 1958 entstanden die Etude floue, die Etude aux accidents, die Etude aux sons tendus sowie, als Gemeinschaftsarbeit zusammen Pierre Schaeffer, die Komposition Continuo. 1959 konzentrierte Ferrari sich auf morphologisch komplexere Strukturen und Formprozesse in seiner mehrsätzigen Komposition Visage V. In den sechziger Jahren begann Ferrari, sich allmählich von den rigorosen Prämissen Schaeffers, der inzwischen selbst das Komponieren aufgegeben hatte, zu entfernen. 1964 entstand seine groß angelegte Komposition Héterozygote - das erste Werk, in dem sich das neue Konzept seiner "anekdotischen Musik" ankündigt. In diesem Werk sowie in späteren Kompositionen geht es Ferrari darum, die Reduktion aufgenommener Klänge auf klassifizierbare Klangobjekte zu überwinden. In vielen Fällen sieht er davon ab, die Klänge aus ihrem ursprünglichen situativen Kontext herauszulösen, so daß sich neue Möglichkeiten eines gleichsam bildlich-assoziativen Hörens ergeben. Im Zuge dieser Entwicklung hat sich Ferrari schließlich von Schaeffer getrennt und ein eigenes privates Studio gegründet. Auch er hat verschiedene Hörspiele produziert, beispielsweise 1972 für den Südwestfunk das Portraitspiel.

Zu den Komponisten, die in späten fünfziger Jahren in Schaeffers Studio kamen und es einige Jahre später wieder verließen, gehört auch Francois Bernard Mache. Er interessiert sich in besonderem Maße für die Verbindung aufgenommener und instrumentaler Klänge. Typisch für ihn ist, daß er - wie in anderer Weise auch Ferrari - seine Klangmaterialien nicht in minutiösen Montagen abstrahierend verfremdet, sondern daß in seinen Aufnahmen die ursprüngliche Atmosphäre möglichst weitgehend erhalten bleibt (z. B. in Aufnahmen von Vogelgesang oder einer Sprechstimme im südafrikanischen Xhosa-Dialekt).

Auch Iannis Xenakis hat einige Jahre lang in Schaeffers Studio gearbeitet. Seine ersten beiden Realisationen stehen gleichsam im antithetischen Verhältnis zueinander: Die weiträumigen, vom Konkreten ins Abstrakte führenden Verwandlungsprozesse und die dicht geschichteten Glissandi der Diamorphoses kontrastieren deutlich zu den in vielen Schichten überlagerten Knistergeräuschen des kurzen Stückes Concret PH, das als Eingangsstück für den Pavillon der Brüsseler Weltausstellung im Jahre 1958 realisiert wurde. Auch in den folgenden Jahren realisierte Xenakis wiederum durchaus gegensätzliche Stücke. 1959 entstand Analogique B, ein lakonisch strenges elektronisches Zuspielband zu dem Streicher-Ensemblestück Analogique A. 1960 folgte Orient-Occident - eine poetische, formal weit gespannte konkrete Begleitmusik zum gleichnamigen Film von Enrico Fulchignoni, der das Bild des Menschen in der bildenden Kunst verschiedener Kulturen beschreibt. Die wohl extremste Komposition ist die 1962 entstandene monumentale Musik Bohor - ein Pierre Schaeffer gewidmetes Werk, das im exzessiven Klangrausch dessen ausgewogenen Klangobjekten opponiert. Auch an den Vorbereitungen des von Pierre Schaeffer angeregten Concert collectif, das verschiedene Mitglieder der Forschungsgruppe gemeinsam durchführen wollten, war Xenakis maßgeblich beteiligt. Mit seinen strengen, mathematisch formalisierten Vorstellungen konnte er sich aber nicht durchsetzen. Xenakis hat sich anschließend von der Forschungsgruppe getrennt und später sein eigenes Studio CeMaMu gegründet, dessen Computersystem UPIC von der Verwandlung graphischer Notation in Klänge ausgeht (aber auch die Transformation eingegebener Klangmaterialien erlaubt, wovon Xenakis selbst allerdings in Produktionen wie Mycènes Alpha oder in den elektronischen Klangstrukturen zum Hörspiel Pour la Paix keinen Gebrauch machte).

Zu den wichtigsten Komponisten, die in den späten fünfziger Jahren in Pierre Schaeffers Studio kamen und ihm anschließend jahrzehntelang verbunden blieben, gehören Ivo Malec, Bernard Parmegiani und Francois Bayle. Während Malec hauptsächlich als Instrumentalkomponist in Erscheinung getreten ist und nur relativ wenige Tonbandkompositionen realisiert hat (sowie einige Kompositionen für Tonband in Verbindung mit Instrumentalensembles oder live-Solisten), haben Parmegiani und Bayle sich auf die reine Lautsprechermusik konzentriert. Seit den siebziger Jahren realisieren sie große Werkzyklen, in denen mit neuen Studiotechniken (auf der Basis der sogenannten Spannungssteuerung) neuartige großangelegte Formprozesse gestaltet werden. Einen dieser Werkzyklen haben Bayle und Parmegiani gemeinsam gestaltet: In einem 1972 vollendeten Dante-Triptychon La Divine Comédie hat Bayle den ersten Teil übernommen (Purgatoire), Parmegiani den zweiten (Enfer, Die Hölle); im dritten Teil (Paradis) überlagern sich zwei Klangschichten, wobei die eine von Bayle, die andere von Parmegiani realisiert wurde.

Als Angehörige einer jüngeren Generation sind im Pariser Studio seit den siebziger Jahren vor allem Jacques Lejeune, Jean Schwarz und Michel Chion hervorgetreten. Diese Komponisten haben, auf jeweils individuell verschiedene Weisen, versucht, die abstrakte Montageästhetik zu überwinden und spontan verständliche Formprozesse zu gestalten. Zu den bekanntesten Exponenten dieser Generation, die gegen Ende der sechziger Jahre ins Pariser Studio gekommen sind, um es nach relativ kurzer Zeit wieder zu verlassen, gehören Francoise Barrière und Christian Clozier. Sie haben 1972 ein eigenes Studio ein Bourges gegründet, das sich internationales Ansehen erworben hat durch eine intensive Produktionspraxis (an der sich häufig auch eingeladene ausländische Gäste beteiligen können), durch die Organisation internationaler Festivals und Wettbewerbe. Seit den achtziger Jahren sind noch jüngere Komponisten wie Philippe Mion, Denis Dufour, Francois Donato und Christian Zanesi hinzugekommen - jüngere Komponisten, unter denen besonders Zanesi hervorsticht mit subtilen, an Francois Bayle geschulten Klanggestaltungen. Alle diese Komponisten sind den praktischen Erfahrungen und der Produktionspraxis ihres Studios verpflichtet. Ihre Position im Wechsel der Generationen macht deutlich, in wie hohem Maße es gelungen ist, eine Musikart, die ursprünglich nur von einem einzigen Musiker erfunden worden ist, über Jahrzehnte hinweg weiter zu entwickeln.

Seit den achtziger Jahren haben sich auch digitale Verfahren in der Produktionstechnik im GRM-Studio durchgesetzt. Daß auch in dieser neuen Technologie die experimentellen Prinzipien der konkreten Musik aufrecht erhalten werden konnten, zeigt das 1985 realisierte Gemeinschaftsprojekt Germinal mit Einzelbeiträgen zahlreicher Komponisten, die nicht mit synthetisch erzeugten Klängen arbeiten, sondern mit vielfältigen digitalen Transformationen eines einzigen, für ein bestimmtes Stück jeweils verbindlichen Klanges. (Es beteiligten sich u. a. die Komponisten Mailliard, Geslin, Teruggi - mit der Verarbeitung einiger Stimmlauten seines kleinen Sohnes, Savouret - mit virtuosen Klangmanipulationen des gesprochenen Namens "Don Quixote", Mion, Dufour und Zanesi.) In diesem Projekt bezogen die konkreten Musik eine dezidierte Gegenposition zu der auf synthetische Klänge oder auf live-Elektronik ausgerichteten Produktionsarbeit des IRCAM.

Das Studio IRCAM -

eine konstruktivistische und live-elektronische Alternative zur experimentellen Musik

1969 beschloß der französische Staatspräsident die Gründung des französischen Kulturzentrums, das heute seinen Namen trägt. Im November 1970 erklärte Pierre Boulez sich bereit, in diesem Kulturzentrum die Leitung eines musikalischen Forschungsinstituts zu übernehmen. In den folgenden Jahren bereitete er, in Zusammenarbeit mit den Komponisten Luciano Berio, Vinko Globokar, Jean-Claude Risset, Gerald Bennett und Michel Decoust die Institutsgründung vor, dessen Aufgaben von akustischer Grundlagenforschung über die Studioarbeit bis zur modernen Aufführungspraxis reichen sollten. Die Akzente im letzteren Bereich wurden dadurch bestimmt, daß 1976, ebenfalls unter der Leitung von Boulez, das instrumentale "Ensemble Intercontemporain" gegründet wurde, das nicht nur rein instrumentale Neue Musik spielen, sondern auch zur Aufführung von Werken zur Verfügung stehen sollte, in denen instrumentale und elektroakustische Klangmittel kombiniert sind. Nach mehreren Jahren der kooperativen Leitung in weitgehend gleichberechtigten Sektionen wurde das Institut 1980 unter verstärkter Verantwortlichkeit seines Leiters zentralisiert.

Arbeitsschwerpunkte des Instituts waren einerseits im Bereich der Klangforschung, unter Anknüpfung an die neuesten amerikanischen Forschungen, computergenerierte Klänge, andererseits im Bereich der musikalischen Praxis die Förderung der Entstehung neuer Werke durch Erteilung von Kompositionsaufträgen, durch Produktionshilfen und durch Aufführungen (etwa unter Beteiligung des Ensemble Intercontemporain). Unter den Klangforschungen, deren wichtigste Resultate - in Verbindung mit repräsentativen Musikbeispielen - in Demonstrationsbeispielen auf einer Porträt-Schallplatte des IRCAM veröffentlicht wurden, wurden vor allem die synthetischen Nachbildungen instrumentaler Klänge und die synthetischen Transformationen einer bekannten Klangfarbe in eine andere bekannt; unter den Beispielen synthetischer Vokalklänge wurde der synthetische Gesang von Mozarts "Königin der Nacht" populär (der, zumal in der Maskierung einer unterlegten "echten" Klavierbegleitung, weitgehend naturgetreu klingt). Im Bereich der klanglichen Realisation von Kompositionen ergibt sich ein international vielseitiges Repertoire u. a. mit Jean Claude Risset (Inharmonique 1977, Songes 1979), York Höller (Arcus 1978, Résonance 1982), Tod Machover (Light 1978, Soft morning city 1980, Fusione Fugace 1982, Electric Etudes 1983), Klarenz Barlow (Cogluotobusisletmesi 1980), John Cage (Roaratorio 1981), Morton Subotnick (The double life of amphibians 1982), Pierre Boulez (Répons 1981 ff.), Horatiu Radulescu (Geyond´s aura op. 44 1982, Incandescent Serene 1982), Kaija Saariaho (Verle blanc 1982, Jardin secret II 1986), Philippe Manoury (Zeitlauf 1983, Pluton 1988, La partition du ciel et de l´enfer 1989), Tristan Musail (Désintegrations 1983), Francois Bayle (Aéroformes 1984), Gérard Grisey (Les chants d´amour 1984), Karlheinz Stockhausen (Kathinkas Gesang als Luzifers Requiem 1985), Michael Obst (Kristallwelt 1985/1986), Magnus Lindberg (Ur 1986) und anderen.

Die Arbeitskonzeptionen des GRM (und vieler anderer ihnen verbundener Studios, vor allem in Frankreich, und Franco-Canada) und des IRCAM unterscheiden sich vor allem im Stellenwert, der der reinen Lautsprechermusik zuerkannt wird (im GRM ist die Verbindung der Tonbandwiedergabe mit live-Partien und die live-Elektronik keineswegs ausgeschlossen, spielt aber in Relation zu den reinen Tonbandproduktionen eine weitaus geringere Rolle als im IRCAM) und in der Einschätzung rein synthetisch erzeugter Klänge (die in Klangforschung und Produktionspraxis des IRCAM eine wichtige Rolle spielen, während im GRM, auch im Kontext neuer digitaler Techniker, die Verwendung und Verarbeitung konkreter Klänge nach wie vor eine wichtige Rolle spielt). Vor allem unter dem letzteren Aspekt erschienen GRM und IRCAM zeitweilig in ähnlicher Weise als Antipoden wie das von Pierre Schaeffer geleitete Pariser konkrete Studio und das von Herbert Eimert geleitete Kölner elektronische Studio in den frühen fünfziger Jahren. In der konkreten Pr oduktionspraxis hat sich allerdings bald herausgestellt, daß in den klanglichen Produktionen selbst diese Unterschiede sich häufig verwischten (nicht zuletzt deswegen, weil in beiden Studios "musique mixte" für gespeicherte und live gespielte Klänge entstand und weil einige Komponisten, z. B. Francois Bayle oder Jean Claude Risset, in beiden Studios gearbeitet haben); auch dies läßt sich vergleichen mit Entwicklungen in den späteren fünfziger Jahren, in denen die anfangs extremen Unterschiede zwischen konkreter und elektronischer Musik mehr und mehr an Bedeutung verloren hatten. Damals wie heute hat sich herausgestellt, daß solche und ähnliche Differenzen weniger bedeutsam sind als die Frage, welchen Stellenwert die technisch produzierte Musik jetzt und künftig in der Konkurrenz mit den nach wie vor mächtigen Traditionen der Vokal- und Instrumentalmusik haben kann.

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