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3.2.6 Im Sog der Klänge


Rudolf Frisius

IM SOG DER KLÄNGE

Musik jenseits der (Musik-)Sprache(n) -

"Transgrammatische Musik"

Diesseits und jenseits der Musiksprache:

Klänge als Tonstrukturen - Klänge als Bewegungsspuren

Im ersten Satz seiner zweiten Kantate hat Anton Webern einen Text von Hildegard Jone vertont, der auf eine eigentümliche Paradoxie des Klanglichen verweist. Es heißt dort:

"Wenn das beweglich Farbige verschwindet,

tritt das Bewegende im Klang hervor."

Dem Gesang des Textes folgt - gleichsam als abschließendes Satzzeichen und zugleich als musikalisches Symbol des im Text angesprochenen Zentralbegriffes - ein Zwölfklang. Er bildet den Abschluß einer harmonischen Entwicklung, die zuvor sich keimhaft in der kurzen Instrumentaleinleitung ausgebildet hat und die anschließend auch den gesamten orchestralen Begleitsatzes des Baß-Solos bestimmt: Akkorde, die harmonischen Symbole des "Klanges", erscheinen Markierungen und Akzentuierungen des melodischen Geschehens, der "Bewegung". Die Tendenz der Formentwicklung ergibt sich aus den Schlußworten des Textes: Zwölftonmelodien verwandeln sich in die allumfassende Zwölftonharmonie, deren Töne sich , in der Mischung aller Instrumentengruppen, weit über den Tonraum spannen.

Das Prinzip der Entwicklung, die bis in diesen Zwölfklang führt, wird deutlich, wenn man ihn vergleicht mit den beiden Sechsklängen, die das Stück eröffnen: Der erste, das Stück eröffende Sechsklang wird von Bläsern gespielt: Mit dumpf timbrierten Tönen, die relativ eng im Tonraum zusammengepreßt sind - mit einfachen, in ihrer Symmetrie leicht erfaßbaren Intervallkonstellationen: A-c-d, b-cis1-es1. Weiche, behutsam gesetzte Valeurs hört man in den Intervallen nicht nur zwischen benachbarten Tönen (kleine Terz und große Sekunde; kleine Sexte), sondern auch zwischen dem höchsten und dem tiefsten Ton (A-es1: Tritonus, um eine Oktave erweitert); schärfer profilierte Intervallgebungen finden sich nur zwischen weiter entfernten, nicht direkt benachbarten Tönen (chromatisch gespannte Intervalle: A-b, c-cis1, d-es1). -

Im zweiten Sechsklang, der von Streichinstrumenten gespielt wird, finden sich größere und in ihren Spannungswerten reichere Intervallkonstellationen: H1-B-es-a-d1-c2. Man findet hier beziehungsreiche Kontraste zwischen Intervallen: Mit minimal, um einen einzigen Halbton veränderten Tonabständen, die gleichwohl den Spannungswert des Intervalls grundlegend verändern - sei es zwischen tiefen und hohen Akkordtönen (H1-B, d1-c2: große und kleine Septime), also in den "Randlagen"; sei es im Inneren des Akkordes (ein Tritonus eingerahmt von zwei Quarten: B-es a-d1). -

Der Kontrast zwischen den ersten beiden Akkorden des Stückes markiert die Pole einer Formentwicklung, die - schrittweise und in größerer Ausdehung - vom Anfang zum Ende des gesamten Satzes führt: von den einleitenden, verschiedene Einzelfarben (Bläser-Streicher) in chararakteristisch umgrenzten Intervallen und Lagen vorstellenden Sechsklängen zum abschließenden, vielfarbigen, invervallisch reichen und weit gespannten Zwölfklang (Solo-Geige -

8 Bläser - Harfe und Celesta). Die Tendenz zur Ausweitung im Tonraum und zur reicheren Ausfärbung verschiedenartiger Intervalle, die sich schon beim Wechsel vom ersten zum zweiten Sechsklang abzeichnet, prägt auch das gesamte Stück - zunächst in getrennten Entwicklungen verschiedener Instrumentengruppen, schließlich in ihrer Zusammenführung: Die Akkorde wechseln zwischen verschiedenen Instrumentengruppen (Bläser - Saiteninstrumente arco - an wenigen, besonders exponierten Stellen Saiteninstrumente pizzicato). Im Nachspiel zur ersten Textstrophe und, nachdrücklicher noch, am Schluß des Stückes wird zusammengeführt, was sich zuvor getrennt entwickelt, vor allem Schritt für Schritt im Tonraum ausgebreitet hatte: Bläserakkorde - Streicherakkorde - Kurztonakkorde (Pizzikati bzw. - im letzten Takt - Harfe und Celesta). Schon im Zentrum des Stückes, am Schluß der ersten Strophe, kommt es dazu, daß alle zwölf Töne zu hören sind - hier aber noch in zwei deutlich getrennten Gruppen: Mit einem ausgehaltenen Sechsklang der Bläser und mit einem später einsetzenden, seinen Abschluß markierenden Pizzicato-Sechsklang. Erst am Schluß des Stückes sind alle zwölf Töne verschmelzen in der Einheit der Vielfarbigkeit - im stehenden, aber in seiner schillernden Komplexität innerlich bewegten Klang.

Webern erzeugt in diesem Satz den Klang als Tonstruktur: Das Wesen des Klanges erschließt sich durch das bewußte Erleben seiner Komponenten, der einzelnen Töne und Intervalle. Noch in seinem letzten, an die Schwelle zu neuen Klangkonzeptionen gelangten Werkes zeigen sich Spuren eines von festen Elementen ausgehenden Reihendenkens, wie es für sein gesamtes Spätwerk charakteristisch ist - nicht zuletzt auch für sein Konzert op. 24, das später Karlheinz Stockhausen anregen sollte zu seiner ersten Realisation elektronischer Musik ("Studie I"): Der späte Webern entdeckte den Klang als Ableitung aus einfachsten, vielfältig variierten und kombiierten Zellstrukturen - aus Intervallzellen, die bereits vorausweisen auf die Intervallproportionen in Stockhausens erster Studie: aus Intervallstrukturen, die in Weberns Konzert fast überdeutlich zu erkennen sind (im zweiten Satz als einzelne Intervalle, im dritten und vor allem im ersten Satz als Dreitonakkorde, die sich selbst im Sechsklang noch ihr eigenes Gepräge behalten). Der Klang ergibt sich hier im komplexen Zusammenhang einer wohl definierten Musiksprache: Die Töne und Tongruppen bilden klar erkennbare Einheiten ähnlich Lauten, Silben, Wörtern und Sätzen einer Sprache.

In früheren Werken Weberns finden sich ganz andere Ansätze der Arbeit mit dem Klang. Vor allem in frei-atonalen Werken interessiert er sich für den Klang als Bewegungsspur - in Ansätzen, die sich in späteren Jahrzehnten weiter entwickeln sollten (weniger bei Webern selbst als bei Musikern, die die Ansätze der abendländischen Musik radikal in Frage zu stellen begannen, etwa bei Edgard Varèse und bei führenden Exponenten der "musique concrète"). Wie stark sich der frühe und der späte Webern unter diesem Aspekt unterscheiden, zeigt sich besonders sinnfällig am Beispiel komplexer, vieltöniger Akkorde: Während im ersten Satz der zweiten Kantate op. 31 die komplexe Tonstruktur, der Zwölfklang, den Abschluß der gesamten Formentwicklung bildet, erscheint die vieltönige Akkordballung am Schluß des Orchesterstückes op. 6 Nr. 4 lediglich als letztes Übergangsstadium in einer Formentwicklung, die schließlich im extrem lauten, den Tonraum breit ausfüllenden komplexen Geräusch mündet - dem Gegenbild zu den leisen, dumpfen Geräuschen, mit denen das Stück beginnt. Auch im Gesamtzusammenhang des Stückes wird deutlich, daß alle Tonkonstellationen, alle melodischen und akkordischen Gestalten - mit ihren chromatisch gespannten Intervallen, mit ihren extremen Klangfärbungen und Tonlagen - hier nicht für sich stehen, sondern eingebunden sind in Formprozesse, die weit hineinführen in geräuschhafte Bereiche. Die Formentwicklungen führen, vor allem in den Schlagzeugpartien, an den Rand dessen, was sich in traditioneller Notation noch angemessen darstellen läßt. Hier läßt sich - wie auch später noch im Anfangssatz der zweiten Kantate - verfolgen, wie die Klänge sich allmählich im Tonraum ausbreiten. Während aber im späten Kantatensatz dieser Prozeß ausschließlich in den Grenzen wohl definierter Töne und Tongruppen sich abspielt und im leisen, ausgehaltenen Zwölfklang seinen Abschluß findet, öffnet sich das frühe Orchesterstück zur dynamischen Expansion und zum Geräusch - zu Klang- und Formwirkungen jenseits des musiksprachlich Wohldefinierten, zum irreversiblen Sog der Klänge.

Ungehörte Klänge

"Eine Probe des noch Ungehörten: nicht nur bislang niegehörte Klänge, sondern auch Klangverbindungen, von denen sich nicht sagen ließ, ob sie vorherbestimmten Gesetzen von Komponisten folgten, oder ob sie einfach dem Zufall entsprungen waren. Und wenn von dieser neuen Sprache ein Bann ausging, so war sie doch auch befremdlich, um nicht zu sagen ungehörig. Handelte es sich überhaupt noch um eine Sprache?"

"Diese Musik hat mich erschreckt, und ich bin ihr mit großen Zweifeln begegnet, zweifellos wegen ihres abrupten Charakters, und auch deswegen, weil sie keine Sprache war... Man spürt etwas, man wird ergriffen von Beklemmung, von Angst, von Emotion, von Erwartung; man existiert, man lebt mit dieser Musik."

Pierre Schaeffer, der 1948 die "musique concrète" entdeckte und 2 Jahre später zusammen mit Pierre Henry die "Sinfonie für einen einsamen Menschen" ("Sinfonie pour un homme seul"), ein Hauptwerk dieser Gattung, zur Uraufführung brachte, war der erste Musiker des 20. Jahrhunderts, der in seiner praktischen Arbeit auf eine ebenso überraschende wie schwierige Paradoxie gestoßen ist: In der scheinbar abseitigen, von der lebendigen Musikerfahrung entfernten Praxis des Tonstudios entdeckte er vollkommen neuartige Ausdruckskräfte des Klanglichen und der Musik. Seine eigene Arbeit - und, mehr noch, die Arbeit von Pierre Henry, seines kompositorischen Partners in den ersten Jahren der musique concrète - hat ihn deswegen ebenso fasziniert wie erschreckt. Ihn verstörte, wie Pierre Henry "sein Heil in der Flucht nach vorn suchte, im Außer-Sich-Geraten des Klangs, in der Heftigkeit, in den schreckenerregenden Wirkungen einer Freisetzung des musikalischen Unbewußten."

Die technisch-expressive Ambivalenz der elektroakustischen Musik hat die Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts entscheidend beeinflußt. Sie ermöglichte eine Entdeckung der explosiven Kraft des Klanglichen gerade dadurch, daß Klänge aus live-Situationen herausgelöst und im Studio der technischen Konservierung und Verarbeitung zugänglich gemacht wurden. Die folgenreiche Paradoxie dieses Ansatzes hat Pierre Henry in prägnanten Thesen herausgearbeitet:

"Wir müssen die Musik zerstören... Ich glaube, daß das Aufnahmegerät gegenwärtig das beste Instrument des Komponisten ist, der tatsächlich mit dem Ohr und für das Ohr schaffen will.

Wenn wir gegen das Mechanische kämpfen wollen, müssen wir mechanische Methoden verwenden; dann wird sich die Maschine gegen sich selbst werden. Ein aufgenommener Klang ist nichts Maschinelles mehr."

Die Zerstörung der Musik, der Rückgang auf im Studio technisch isolierte und manipulierte Klänge, ist für Henry die unerläßliche Voraussetzung ihrer Wiederbelebung. Sie soll "sich selbst... zerstören, um zu leben".5 Damit verschwinden "die musikalischen Konventionen, die Harmonie, die Komposition, die Regeln, die Zahlen, der mathematische Aspekt und die Formen".5 Henry plädiert für eine Musik jenseits aller musiksprachlichen Regeln - für eine Musik "der Schreie, des Lachens, der Sexualität, des Todes"5: "Wir müssen unverzügliche eine Richtung einschlagen, die zum rein Organischen führt."5 In dieser Musik verlieren die freigesetzten Klänge den anekdotischen Kontext des alltäglichen Geräusches, und sie sperrt sich hartnäckig gegen alle überkommenen kompositionstechnischen und ästhetischen Prämissen. Hier artikuliert sich erstmals radikaler Einspruch gegen überlieferte kompositorische Vorstellungen, die sich am Modell einer in Grammatik und Syntax (womöglich auch Semantik) wohlstrukturierten Musiksprache orientieren. Gerade die aufs äußerste durchrationalisierten Verfahren der technisch produzierten Musik können am ehesten Möglichkeiten erschließen, die musikalische Klang- und Formgestaltung vom Leitbild des rationalen Diskurses zu lösen. Daraus ergeben sich neue Aspekte im Verhältnis zwischen Musik und Sprache - nicht nur im strukturellen Vergleich beider Bereiche, sondern auch in den Möglichkeiten ihrer Verbindung, ihrer Annäherung oder auch ihrer Entfernung. In den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren, in den Anfangsfangsjahren der Lautsprechermusik, ist deutlich geworden, daß gerade in der Abwendung von tradierten musiksprachlichen Leitbildern um so intensivere Kräfte nonverbaler Expression freigesetzt werden können.

Klanggrammatik als konkrete Utopie

Ein konkreter Klang ist bekannt und unbekannt zugleich: Als Aufnahme eines klanglichen Ereignisses verweist er auf Stattgefundenes - allerdings nicht auf die Realität selbst, sondern als deren technisch konserviertes Abbild. Das Klangbild des Ereignisses unterscheidet sich vom Ereignis selbst, es gewinnt seine sinnliche Realität auf einer anderen Ebene. Das in der Aufnahme fixierte Klangobjekt ist wesensverschieden vom aufgenommenen Klangereignis. Wenn man es genauer zu bestimmen versucht, kann man allerdings wiederum auf schwierige Probleme stoßen:

Was hören wir eigentlich, wenn uns ein Klangobjekt vorgespielt wird?

Das Verhältnis des Klanglichen zum Musiksprachlichen hat sich seit der Etablierung der Lautsprechermusik grundlegend verändert - so weitgehend, daß seine Neubestimmung sich in Worten nur schwer beschreiben läßt. Spätestens dann, wenn von der Klangwirkung die Rede ist, drängen sich wieder Vergleiche mit der sprachlichen Kommunikation auf: Stimmt die bildhafte Formulierung, daß auch diese Klänge uns eine quasi-sprachliche Mitteilung machen?

Als Pierre Schaeffer zusammen mit Pierre Henry am 18. März 1950 in Paris das erste Lautsprecherkonzert der Musikgeschichte veranstaltete, teilte er seinen Hörern in einer Programmnotiz seine produktiven Zweifel an den sprachlichen und expressiven Qualitäten der neuen Klangkunst mit; er verstand sie als Herausforderung, sich neuen experimentellen Hörsituationen zu stellen:

"Es geht nicht so sehr darum, uns vor einer Zuhörerschaft auszudrücken, sondern sie zur Prüfung des Objekts zu veranlassen. Vielleicht hat uns dieses Objekt etwas zu sagen."

Wie unterscheidet sich das Hören und Verstehen von Klängen und Klangobjekten vom Hören und Verstehen musikalischer Strukturen? Gibt es neue Aspekte des Hörens und Verstehens von Klängen, die uns neue Wege eröffnen können auch zum Hören und Verstehen von Musik?

Pierre Schaeffer war der Auffassung, daß die Probleme des Hörens und Verstehens sich am besten dann erschließen, wenn man das musikalisch intendierte Hören in erster Annäherung beschreibt in der Abgrenzung zum Hören in zwei anderen Erfahrungsbereichen: Im Bereich der gesprochenen Sprache und des situativen Geräusches:

"Man kann den Klang als Zeichen oder als Bedeutung, die er trägt, betrachten, oder aber ihn um seiner selbst willen hören, und zwar in einer ganz besonderen Haltung, die wir reduziertes Hören nannten. Dieses Hören bezieht sich nur auf die Wirkungen des Klangs: die Form, den Objektstoff, die wir wahrnehmen. Wir wollen jedoch die drei so unterschiedlichen Absichten, die unsere Neugier entweder auf die Geräuschquelle oder auf die Bedeutung der Sprache oder aber auf den eigentlichen Wert der Klänge lenkt, nicht vorwegnehmen."

Die drei verschiedenen Hörweisen erläutert Schaeffer an einem collagierten Hörbeispiel, in dem man zunächst Stimmen hört (Menschen- und Tierstimmen: Rufen und einige Sätze einer Frauenstimme - Gesang einer Nachtigall), dann einen Geräusch-Ablauf (Abfahren eines Autos - Verkehrsunfall) und schließlich Instrumentalmusik. Schaeffer erläutert:

"Für die menschliche Sprache geht es darum, das Gesprochene zu verstehen - für die Vogelsprache ist es uns leider verwehrt; für die Musik weiß man sehr wohl, daß man sie um ihrer selbst willen hört und nicht aufgrund einer Mitteilung, die sie nur weitergeben könnte; das Geräusch enthält wie die Sprache ein Gesatz, das durch die Zeichen, die es liefert, auf eine Geschichte hinweist, die es erzählt."7

Den verschiedenen Hörweisen entsprechen verschiedene Sinneinheiten, die Schaeffer in Ausschnitten aus den entsprechenden Aufnahmen vorstellt: Das Wort in der Sprache der Menschen, die einzelne Figur im Gesang des Vogels; der Ton in der Musik (es sei denn, man begnügte sich mit dem Rückgang auf den Akkord oder das Motiv); das einzelne Geräusch (z. B. das Gasgeben in der Aufnahme des abfahrenden und anschließend kollidierenden Autos). Aber auch diese Sinneinheiten lassen sich in kleinere Gliederungen zerlegen, was sich ebenfalls im Tonbandschnitt verdeutlichen läßt (z. B. die Reduktion, die vom Wort zur einzelnen Silbe führt). Je feiner die Zerlegungen, desto weiter treten die Unterschiede zwischen Sprache, Geräusch und Musik zurück, und statt dessen treten typische elementare Klangmerkmale hervor, die allen drei Bereichen gemeinsam sind - z. B. das Merkmal "Glissando" in einem Ruf, als Vogellaut und im Geräusch eines anfahrenden Autos, Unterscheidungen zwischen rasch verklingenden oder ausgehaltenen, zwischen tonischen oder geräuschhaften, zwischen gleichbleibenden oder sich verändernden Klängen. Wenn diese Bestimmungen in charakteristischer Weise miteinander kombiniert sind, entsteht der Typus eines bestimmten Klangobjektes (z. B. ein kurzer Geräuschimpuls als Konsonant, als Trommelschlag oder beim Tuckern eines Motors). Schaeffer dachte, daß solche Klangtypen als Grundeinheiten der elektroakustischen Musik angesehen werden könnten. Zahlreiche Klangbeispiele ließ er, nach diesen Typen geordnet, in seinem Studio sammeln und archivieren - als hätte er die Hoffnung, hier ein universelles, für künftige Komponistengenerationen nützliches Klangreservoir bereitstellen zu können - gleichsam die Laute, Silben oder Wörter der Sprache technisch produzierter Musik. Auch Schaeffer war sich allerdings der Tatsache bewußt, wie weit der Weg von diesen quasi-sprachlichen Elementen zur Quasi-Sprache selbst sein konnte:

"Die Typologie ist noch nicht die Musik. Sie ist ein Lastwagen, der das Material führt. Auf diese Weise gelangen riesige Materialmengen an die Baustelle des Komponisten...

Müssen wir hinzufügen, daß der Komponist auf seiner Baustelle nur Banales und Alltägliches finden würde, wenn er nicht selbst sein Material schaffen würde?...

Wer wird je diese berühmte Metasprache kennen, die die Musik erfassen kann?

Wagen wir... somit zu behaupten, daß die Beschreibung der Musikobjekte nicht die Musik erklärt,

genauso wenig wie die Akustik die Werte dieser selben Objekte vorbestimmt...

Wenn auch unsere allgemeine Klanglehre unerläßlich ist, um die elementaren Objekte zu beschreiben und zu benennen, so ist es ihr gleichwohl nicht möglich, ohne weiteres den Schlüssel zu diesen Gebilden zu geben. Aber die Sprache ist eben glücklicherweise eine der instinktivsten Erscheinungen."

Es ergibt sich die paradoxe Situation, daß Schaeffer nach sprachähnlichen Gliederungselementen sucht für eine Musik, die sich in ihren avancierten Kompositionen denkbar weit vom Modell der Sprache entfernt. Wie schwierig sein Unterfangen ist, läßt sich nicht zuletzt daran ablesen, daß seine Klang-Typologie sich weder mit einem Vokabular vergleichen läßt noch mit einer Grammatik - geschweige denn mit einer Syntax oder gar einer Semantik. Dies ist schon deswegen nicht möglich, weil, wie Schaeffer selbst betont, eindeutige typologische Abgrenzungen gar nicht in jedem Falle möglich sind:

"Wir hoffen, daß aus unseren Ausführungen hervorgeht, wie unvollkommen die typologische Einstufung bleibt, wie sehr sie nur eine Einordnung darstellt, die dem Musikalischen und der eigentlichen Morphologie des Klanglichen vorausgeht.

Es wäre ein letztes Mißverständnis, von der Typologie eindeutige Spalten zu verlangen, in denen der Klang ein für alle Male eingestuft würde. Wir behaupten demnach, daß ein Klangobjekt ohne weiteres von einer Spalte in eine andere überwechseln kann, je nach dem Aufmerksamkeitsgrad, den man ihm entgegenbringt, und je nach dem Niveau an Komplexität, das es durch den Zusammenhang erhält."

Schaeffers Typologie entstand auf dem Erfahrungshintergrund einer Musik, die im Studio entsteht aus kleinsten Klangfragmenten, die montiert, transformiert und gemischt werden - einer Musik also, wie sie in den meisten elektroakustischen Studios während der fünfziger und auch noch in den sechziger Jahren produziert wurde. Im Kontext dieser Musik hat Schaeffer sich vor allem für sinnfällige, klar zu erfassende Montage-Einheiten interessiert - für Klänge, die sich in knapper Zeitdauer mit prägnanten Merkmalen präsentieren. Es ist klar zu erkennen, daß seine ausführlich ausgearbeiteten Klangtabellen für die von ihm bevorzugten "ausgewogenen Objekte" "eine optimale Dauer postulieren, und zwar jene Dauer, die am besten dem auditiven Gedächtnis entspricht"9 . Davon abweichende Klangtypen betrachtet Schaeffer als sekundär - z. B. hinsichtlich ihrer Dauer dann, "wenn sie zu kurz oder zu lang sind."

So erklärt es sich, daß Schaeffer seine "ausgewogenen Objekte" abgrenzt einerseits von "redundanten", d. h. zu kurzen oder sich längerfristig nur wenig verändernden, und andererseits "exzentrischen", besonders dichten und komplexen Objekten.

Diese Musiklehre, die sich konzentriert auf das Phänomen der "guten Form", geht in wesentlichen Schritten hinaus über die traditionelle Musiktheorie und ihre avantgardistischen Fortschreibungen, die sich weitgehend beschränken auf feste Tonhöhen und Tondauern; wenn sie sich allerdings auf das Phänomen der "guten Form" konzentriert, hält auch sie noch in wesentlichen Bereichen am Ideal einer Musiksprache fest, wie es uns aus älteren Musikauffassungen überliefert ist und auch in verschiedenen Strömungen der Neuen Musik noch eine wichtige Rolle spielt. Für viele Kompositionen Schaeffers und für von seinem Denken angeregte Werke anderer Komponisten (z. B. Ivo Malec und Luc Ferrari) erscheint diese Betrachtungsweise angemessen. Schwierig wird sie allerdings in Musikstücken, in deren Erscheinungsbild redundante oder exzentrische Klangobjekte eine größere Rolle spielen. Solche Stücke entstanden schon in den Anfangsjahren der elektroakustischen Musik; man findet sie zunächst bei Pierre Henry ("Musique sans titre", "Le Voile d´Orphée", "Haut Voltage"), später auch bei Iannis Xenakis ("Diamorphoses", "Concret PH") und in einem Falle sogar bei Mauricio Kagel ("Transicion I"). Mit besonderer Radikalität artikulieren sich Alternativen zur Musik der wohl ausgewogenen Klangobjekte in den beiden ersten Tonbandmusiken von Iannis Xenakis - in "Diamorphoses" als Musik der beständig gleitenden Übergänge, in "Concret PH" als Musik der dicht akkumulierten Impulsschwärme. In diesen Musikstücken scheinen alle Erinnerungen an sprachähnliche Prinzipien musikalischer Gestaltung fast vollständig getilgt zu sein; an ihre Stelle treten mathematisch kalkulierte Massenstrukturen und großflächig angelegte Formprozesse. Bei Henry tritt demgegenüber der Aspekt einer vom quasi-Sprachlichen emanzipierten, nonverbalen Expressivität stärker hervor - so stark, daß seine freigesetzten Klänge sogar in der Konfrontation mit gesprochenen Texten ihre sprachlose Sprachgewalt behalten. So werden gleichsam die Klänge selbst zum Sprechen gebracht. Dieser Umschlag technischer Rationalität in unverhüllte Expression konkretisiert sich bei Henry in radikaler Konsequenz - als Realisierung von Visionen, wie sie schon Busoni verfolgte (und wie sie nach ihm Varèse der Verwirklichung näher zu treiben versuchte - Varèse, der schließlich 1954 seine erste elektoakustische Realisation, die Tonband-Einschübe zu "Déserts", gemeinsam mit Pierre Henry vollenden sollte).

Sprache der Klänge als Negation der Musiksprache(n)

"Das Werk will nicht nur die Wirkung jenseits der Sprache nutzen, sondern auch durch Übung des Hörens eine psychologische Wirkung hervorrufen, eine Veränderung in Wesen und Fassungsvermögen der Aufmerksamkeit, einen wahrhaften inneren Umsturz der Fähigkeiten des Fühlens und Verstehens, der die Tür zu neuen Beziehungsfeldern, neuen Arten von Musik, zu einer Trans-Musik öffnet. Dies jedenfalls wünscht sich der Autor, der den Hörer durch das ´Abenteuer des Schreis´, die ´Sprache der Blumen´ führt, ihn der ´Prüfung durch den Sinn´, der ´Prüfung durch den Klang´ und der ´Philosophie des Nein´ aussetzt."

Diese Worte entstammen der Beschreibung eines Werkes, das in seiner ursprünglichen Planung gigantische Dimensionen annehmen sollte. Der Komposition lagen ursprünglich "als Plan fünf musikalische Kapitel zugrunde, die 49 Stücke unterschiedlicher Dauer von drei bis zu dreißig Minuten enthalten sollen; das ganze Werk ist also auf fast zehn Stunden projektiert."12 Der Komponist gab diesem Projekt den Namen "L´Expérience acoustique". Zwischen 1968 und 1972 entstanden vierzehn Sätze, die insgesamt länger als zwei Stunden dauerten; seitdem existiert das Werk als gigantisches Fragment, das in späteren Aufführungen und in der Veröffentlichung auf Tonträgern merkwürdigerweise mehr und mehr den Charakter des de facto vollendeten Werkes angenommen hat - insoweit vergleichbar den 1967 uraufgeführten "Hymnen" von Karlheinz Stockhausen, deren weiträumige Klang- und Formgestaltung Bayle stark beeindruckt und zu eigenen, technisch und musikalisch die Entwicklung der elektroakustischen Musik noch weiter vorantreibenden Konsequenzen angeregt hat. - Sowohl in Stockhausens Hauptwerk als auch bei Francois Bayle findet man eine Konzentration auf den Klang selbst, die sich von der traditionellen Musiksprache entfernt in zwei vollkommen gegensätzlichen, dem ersten Anschein nach miteinander unvereinbaren Richtungen: Einerseits öffnet sich die Musik zu den Klängen der Außenwelt - als Seismograph der unruhigen späten sechziger Jahre, besonders sinnfällig im Lärm der Volksmassen und in Radiogeräuschen, im kollektiven Gesang der ´Internationale´ (bei Stockhausen), in Dokumentaraufnahmen von den Pariser Mai-Unruhen (bei Bayle); andererseits nähert sich der Musik in völlig neuartiger Weise der Innenwelt des reinen Klanges, etwa in endlos kreisenden, dichten Glissandofluten über einem ruhig pulsierenden Baßklang in der letzten Region von Stockhausens "Hymnen" oder im noch weiter gespannten, aus einem einzigen Klang über fast 25 Minuten zusammenhängend entwickelten vierten Kapitel der "Expérience acoustique". - Sowohl Stockhausen als auch Bayle machen in ihrer Musik unmißverständlich klar, daß nach außen und nach innen gewendetes Hören keineswegs unversöhnliche Gegensätze sind, sondern in vielfältiger Weise sich durchdringen und kompositorisch miteinander vermittelt werden können. Vor allem deswegen wachsen der Musik Bedeutungsdimensionen zu, die zugleich ihren überlieferten Sprachcharakter aufheben - etwa in den abgründigen, vielfach abschattierten Verfremdungen der vielfältig aufgebrochenen, mit Musik-und Geräuscheinschüben durchsetzten "Marseillaise" oder in den gigantischen elektronischen Modulationen und Spreizungen der sowjetischen Hymne bei Stockhausen, in kreisenden und vielschichtigen Entwicklungen innerlich vibrierender Klänge bei Bayle (auch in späteren Werken wie "Toupie dans le ciel", "Motion-Emotion" oder "Couleurs dans la Nuit"). Die Herkunft der Klänge wird sekundär - seien es Nationalhymnen bei Stockhausen, Geräusche von Volksmassen, Rufe des brasilianischen Totenvogels Uirapuru oder rein elektronische Klangfiguren und -texturen bei Bayle. Die paradoxe polare Einheit des extravertierten und introvertierten Hörens konkretisiert sich bei Bayle sogar in verschiedenen Beschreibungsmodellen: In getrennten Spalten seiner Notizen zu "L´expérience acoustique" notiert er einerseits Allusionen an die reale Hörwelt (z. B. "Vogelrufe - entfernte Antworten"12), andererseits innermusikalische Charakterisierungen (z. B. "Spiel der (Klang-)Ebenen"12). Verschiedene Hörweisen sind so aufeinander bezogen, daß sie bald sich ergänzen, bald sich gegenseitig produktiv in Frage stellen können.

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Das Ideal einer Sprache der Klänge selbst, die gleichsam über ihre eigenen Grenzen hinaustreibt, hat in der Entwicklung der elektroakustischen Musik auch über das oeuvre von Pierre Henry, Karlheinz Stockhausen und Francois Bayle hinaus eine wichtige Rolle gespielt - bis in die neunziger Jahre hinein.

Paul Dolden hat in seiner 1993 entstandenen Komposition "L´ivresse de la vitesse" ("Intoxication") sowohl die technischen Prozesse der Klangproduktion als auch die Ideen der formalen Gestaltung über tradierte studiotechnische und musiksprachliche Modelle hinausgetrieben. Die Möglichkeiten der kontinuierlichen Klangentwicklung, die in der elektroakustischen Musik seit den siebziger Jahren vor allem mit neuen Techniken der Spannungssteuerung ausgenutzt wurden, ergänzt er durch neue Techniken des Multi-Sampling, der extrem raschen und dichten Akkumulation:

"Der Titel ´Geschwindigkeitsrausch´ ist eine Anspielung auf meine üblichen künstlerischen Absichten, d. h. die Beschleunigung eines Exzesses musikalischer Ideen, so daß die Komposition und ihre Materialien in kürzestmöglicher Zeit erschöpft sind.

Der berauschende Aspekt der Geschwindigkeit verlangt die Verwendung meist schneller Tempi und raschen Wechsel von Orchestrierung, Dichte und Dynamik. Diese Elemente können im digitalen Studio extrem beschleunigt werden, bis zu einem Punkt der Erschöpfung und Berauschung, der grenzenlos oder ´virtuell´ in den Möglichkeiten seiner Dichtegrade oder Farben ist. Um das Gefühl von Sensibilität und Rausch zu steigern, erscheinen hunderte von musikalischen Partituren gleichzeitig, strukturiert durch digitale musikalische Systeme."

Selbst scheinbar wohlbekannte Ausgangsmaterialien (z. B. Fragmente folkloristischer Musik) können so in den Sog vollkommen neuartiger Klangeigenschaften und Klangprozesse geraten. Der Rausch des vollständigen Eintauchen in den Fluß der Klänge wird möglich als Resultat differenzierter studiotechnischer Prozesse. Musik, die sich die modernsten Möglichkeiten der Produktion und Transformation von Klängen zunutze macht, bringt neuartige Klänge und Klangkomplexe gerade dadurch zum Sprechen, daß sie diese über bereits bekannte Musiksprache(n) hinausführt.

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