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3.3.3.2 SCHAEFF4.DOC

Rudolf Frisius

EIN SKEPTISCHER PIONIER DER AKUSTISCHEN KUNST

Zum Tode von Pierre Schaeffer

Am 19. August 1995, nur wenige Tage nach der Vollendung seines 85. Lebensjahres, ist Pierre Schaeffer gestorben: Der wichtigste Pionier einer neuen Hörkunst im Zeitalter der technisch produzierten Klänge - als Aufnahmeleiter und Hörspielregisseur seit den dreißiger und vierziger Jahren; als langjähriger Leiter eines weltberühmten Experimentalstudios am französischen Rundfunk, der in Theorie und Praxis neue Konzeptionen des Hörspiels, der Musik, des Hörens und des Umgangs mit Technik im Zeitalter der Massenmedien entwickelt hat.

Schon in den frühen vierziger Jahren gründete Schaeffer ein Versuchsstudio, in dem neue Formen der radiophonen Vermittlung von Literatur und der Hörspiel-Produktion entwickelt werden sollten - in politisch finsteren Zeiten, zur Zeit der deutschen Besetzung Frankreichs. Die praktische Radioarbeit war für ihn damals unlösbar verbunden mit dem aktiven Engagement im Widerstand gegen die deutsche Besatzungsmacht - z. B. mit heimlich aufgenommenen Gedichten, in denen prominente Dichter wie Louis Aragon oder Paul Eluard aufriefen zur Resistance und zum Kampf für die Freiheit. Auch die Hörspielarbeit in Schaeffers Studio d´Essai war damals ausgerichtet auf die erhoffte Befreiung. Produktionen wurden vorbereitet, die so rasch wie möglich im wieder befreiten Frankreich ausgestrahlt werden sollten, zum Beispiel "Nachtflug" von Antoine de Saint-Exupéry. Neue Wege einer modernen Radiokunst, die sich der politischen Realität stellt, suchte Schaeffer auch in seiner eigenen Hörspielarbeit: In den Jahren 1943 und 1944 entstand sein Hörspiel "Die Planetenmuschel" - eine Produktion,die an zentraler Stelle unmißverständlich anspielt auf traumatische Kriegserfahrungen jener Jahre.

Im August 1944 sorgte Schaeffers Team dafür, daß die Pariser, 5 Tage vor dem Eintreffen der republikanischen Truppen, zum Aufstand aufgerufen wurden, und in den folgenden Tagen hat seine Mannschaft dafür gesorgt, daß wichtige Ereignisse während der Befreiung von Paris in eindrucksvollen Tondokumenten festgehalten worden sind.

Die Schlüsselrolle, die der Radiopionier Pierre Schaeffer bei der Befreiung von Paris gespielt hat, sicherte ihm auch in der Folgezeit wichtige Positionen im Rundfunk der vierten Republik - Positionen, die ihm Spielraum gaben zur Entfaltung unkonventioneller, ästhetisch revolutionärer Aktivitäten. So wurde es möglich, daß Schaeffer einige Jahre später das erste Versuchsstudio der technisch produzierten Musik gründen konnte - ein Studio, das bis heute existiert und eine zentrale Rolle in Produktion, Verbreitung und wissenschaftlicher Erforschung dieser Musik spielt; ein Studio, das sich inzwischen fast fünfzige Jahre lang behauptet hat als Zentrum der experimentellen Musik und der Akustischen Kunst.

Pierre Schaffer, der wichtigste Exponent der Akustischen Kunst in unserem Jahrhundert, erforschte die Sprache der niegehörten Klänge: die Sprache einer neuen Medienkunst, einer aus der Radiopraxis entwickelten Kunst der im elektroakustischen Studio produzierten Klänge. 1948 erfand er eine neue Klangkunst, die er als Kontrastmodell aller bis dahin komponierten Musik definierte - als Musik neuer Art, als "Musique concrète". Diese Musik unterscheidet sich von traditioneller instrumentaler und vokaler Musik ebenso grundlegend wie der Film vom Theater: Als "Musik, die man nur am Lautsprecher hören kann" (wie Karlheinz Stockhausen später formulierte) - als Musik der unsichtbaren, im Studio vorproduzierten Klänge, in denen sich die verwirrende, allen Versuchen der kompositorischen Vorausbestimmung spottende Vielfalt der modernen Hörwelt artikuliert. Schon vor John Cage entdeckte er, in mehrjähriger intensiver Zusammenarbeit mit Pierre Henry, die ästhetisch revolutionierende Kraft des Zufalls. Er war der erste, der sich intensiv um Theorie und Praxis einer universellen Klangkunst bemühte und an seinem Studio eine Forschungsgruppe installierte, die die radikalen Veränderungen der Wahrnehmung im Zeitalter der Massenmedien untersuchte. In seinem Studio arbeiteten Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen, Olivier Messiaen und Edgard Varèse, Iannis Xenakis und Luc Ferrari, Francois Bayle, Bernard Parmegiani und viele andere. Ihm ist es zu danken, daß nicht nur die Musik, sondern auch das Hörspiel in ihrer Entwicklung sich von tradierten Vermittlungsformen lösten, ihre Grenzen erweiterten und den Weg freigaben zu neuen Wegen der Akustischen Kunst, die hineinwirken bis in die neuesten Tendenzen der Medienpraxis (auch über Musik und Hörspiel hinaus, zum Beispiel in experimentellen Film- und Fernsehproduktionen).

Die bis dahin in der Musikgeschichte entstandenen Kompositionen könnte man charakterisieren als "abstrakte Musik", die zunächst nur in der Vorstellung eines Komponisten entsteht und die dann in der Partitur notiert werden muß, damit sie, den Angaben der Partitur entsprechend, von Musikern aufgeführt, d. h. in ein konkretes, tatsächlich hörbares Klangereignis verwandelt werden kann. Schaeffer ging genau den umgekehrten Weg: Im Tonstudio versuchte er Klänge zu finden, aus denen sich ein Stück "komponieren", d. h. zusammensetzen ließ. Seine Kompositionen gehen vom konkreten Klangeindruck aus. Charakteristische Klangfragmente findet er teils in vorhandenen Archivaufnahmen, teils bei der Auswahl aus neu aufgenommenen Materialien.

Konkrete Klänge regen an zur technischen und kompositorischen Verarbeitung - zur Fragmentierung, zur Verfremdung und zur Mischung; zur Vewandlung des konkret Wahrnehmbaren, zu seiner Einschmelzung in abstrakte musikalische Zusammenhänge. In diesen Ansätzen einer universellen Klangkunst können rätselhafte neuartige Klänge entstehen, die sich sperren gegen traditionelle Abgrenzungen etwa zwischen Musik, Sprache und Geräusch.

Schaeffer hat seit den späten vierziger Jahren realisiert, was in den frühen sechziger Jahren Theodor W. Adorno forderte: Eine "musique informelle" - eine Musik aus Klängen, von denen wir nicht wissen, was sie sind. Die zahllosen Rätsel, die die Hörwelt uns aufgibt, erschienen ihm so komplex, daß er es für unmöglich hielt, Klänge und Klangstrukturen im voraus zu konstruieren. Deswegen hat er von Anfang an gegen die serielle Musik rebelliert - eine moderne Weiterentwicklung der traditionellen, von der Partitur ausgehenden Kompositionsweise, die vor allem in den frühen fünfziger Jahren viele jüngere Komponisten fasziniert hat. Eine auf selbstgewissen Konstruktivismus festgelegte Avantgardemusik erschien Schaeffer ebenso verdächtig wie jede andere leicht zu klassifizierende Musik - mag sie der klassischen Tradition entstammen oder der modernen Massenkultur. Die "musique concrète" placiert Schaeffer im Unbekannten - im Niemandsland zwischen erstarrten Fronten.

Eine der schillerndsten und farbigsten Produktionen der frühen "musique concrète" ist die 1948 entstandene "Etude pathétique". Realisiert wurde sie zunächst mit denkbar einfachen technischen Mitteln. Damals gab es in Schaeffers Studio noch nicht einmal Tonbänder, die man in bestimmten Montagerhythmen hätte schneiden können; alle Klangmischungen mußten mit Plattenspielern realisiert werden, mit vier Reglern und acht Schaltern. Die abenteuerlich primitiven Produktionsbedingungen brachten Schaeffer auf die Idee einer Klangkunst der Paradoxien: Unbekannte Klänge und Klangstrukturen entstehen daraus, daß Bekanntes entdeckt, fragmentiert, collagiert und gemischt wird. So entstehen, in originellen Montagerhythmen, überraschende Zusammenhänge zwischen unterschiedlichsten Klänge, zum Beispiel dem Tuckern eines französischen Schleppkahns, munteren Kadenzen einer amerikanischen Akkordeonmusik, dem feierlichen Gesang eines balinesischen Priesters, Bruchstücken einer Rezitation und dem störenden Husten eines Scriptgirls.

Das erste groß angelegte Werk der "Musique concrète" war eine Sinfonie neuer Art: Die "Sinfonie für einen einsamen Menschen", die Schaeffer gemeinsam mit Pierre Henry realisierte und 1950 in dem ersten Lautsprecherkonzert der Musikgeschichte zur Uraufführung brachte. Schon in den ersten Klängen dieser Musik wird deutlich, worum es geht: Die unheimlich pochenden Geräusche, die dumpfen Schläge und die rätselhaften Stimmen sind nicht nur surrealistische Hörbilder, sondern auch Spuren der realen Hörwelt, etwa des nächtlichen Gestapo-Terrors während der Besatzungszeit. Diese Klangkunst der rätselhaften Stimmfetzen, Geräusche und Musikfragmente, der technisch manipulierten, collagierten und gemischten Aufnahmen artikuliert sich im Niemandsland zwischen Musik und Hörspiel - als das Hauptwerk der Akustischen Kunst dieses Jahrhunderts.

Die dramatische Bilderkraft in Schaeffers Produktionen ist unwiderstehlich - und dies nicht zuletzt deswegen, weil er sie immer wieder in Kontrast setzt zur rigorosen Strengen seiner Klangmontagen, in denen jedes Klangobjekt genauestens analysiert werden kann. Seit den späten fünfziger Jahren hat Schaeffer eine umfassende Systematik aller im elektroakustischen Studio produzierbaren Klänge entwickelt. Die Ansätze seiner Theorien werden deutlich nicht nur in wissenschaftlichen Veröffentlichungen, sondern auch in den Klangstrukturen seiner "Etude aux objets" und in den witzigen Klangexperimenten seines Hörspiels "L´aura d´Olga".

Die Kunst der rätselhaften Klänge und ihre Wissenschaft haben sich bei Schaeffer stets im unverhüllten Konflikt präsentiert - und dies schon deswegen, weil er sich niemals mit einer einzigen Rolle begnügt hat: Er arbeitete als Aufnahmeleiter und Hörspielregisseur, als Schriftsteller und als Komponist, als Musiktheoretiker und als Klangforscher, als Studioleiter und als Medientheoretiker. Schaeffer wußte, daß nur auf diesen vielen verschiedenen Wegen die Revolutionierung der Hörerfahrung in unserem Jahrhundert bewußt gemacht werden konnte.

In seinem letzten Tonbandstück hat Schaeffer deutlich gemacht, wie schwer ihm die Suche nach neuen Wegen gefallen ist: Er präsentiert die Funde seiner konkreten Musik als Zerstörer der von ihm geliebten traditionellen Musik, als deren Repräsentanten er ein Bach-Präludium erklingen, anschließend verfremden und in den Kontext unbekannter Klänge geraten läßt: Als Rückschau auf das Verlorene und dennoch nicht Vergessene.
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