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1.2.19 XENRHY.DOC


Rudolf Frisius

XENAKIS UND DER RHYTHMUS

Der Rhythmus in der Neuen Musik

Was hat die Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts Neues gebracht? Welche Bereiche der Musik haben sich in ihr grundlegend verändert? Wer solche und ähnliche Fragen stellt, könnte versuchen, in einer ersten Annäherung grundlegende Veränderungen zu benennen, die die erste und zweite Hälfte dieses Jahrhunderts geprägt haben - die Suche nach Alternativen zur tradierten Dur-Moll-Tonalität und die Suche nach neuen Klangmitteln. Schlagworte wie "Atonale Musik" und "Technisch produzierte Musik" verweisen darauf, daß in der Musik dieses Jahrhunderts Probleme in den Vordergrund gerückt sind, die in älterer Musik in dieser Form noch nicht existierten.

Andererseits gibt es auch Perspektiven der musikalischen Entwicklung, die nicht vollständig neu sind, sondern die sich als wichtig erweisen auch für den Vergleich Neuer Musik mit der Musik früherer Zeiten (und überdies mit anderer Musik dieser Zeit, die meistens nicht als "Neue Musik" im engeren Sinne angesehen wird - zum Beispiel Musik nicht-abendländischer Kulturkreise). Wie wichtig das hiermit Angesprochene werden kann, wird besonders deutlich unter dem Stichwort "Rhythmus": In der abendländischen Musik blieb dieser Begriff problematisch bis weit in das 20. Jahrhundert hinein, weil er sekundär erschien unter dem Blickwinkel einer Musik, die sich in erster Linie als "Tonkunst" definierte. Dies führte so weit, daß in der Frühzeit des 20. Jahrhunderts auch radikale Veränderungen der rhythmischen Faktur oft nicht als selbständige Phänomene in Erscheinung traten, sondern als Konsequenzen komplizierterer Tonbeziehungen: Je dissonanter die Musik, desto besser schien sie sich zu eignen für Komplikationen auch im rhythmischen Bereich. Beispiele hierfür lassen sich finden in der Musik Schönbergs, Bergs und Weberns, vor allem in ihren sogenannten "frei atonalen" Werken. Spuren dieser Entwicklung finden sich selbst bei Igor Strawinsky, vor allem in "Le Sacre du Printemps". Die radikalen rhythmischen Innovationen dieser Partitur verbinden sich mit einer scharf dissonanten Tonsprache. Andererseits wird gerade in diesem Stück auch deutlich, daß Abweichungen von der konventionellen Taktrhythmik sich auch durchaus ambivalent präsentieren können - als Signale nicht nur der Innovation, sondern auch der Rückbesinnung auf Archaisches. Diese Ambivalenz zeigt sich bei Strawinsky auch in den Tonbeziehungen, in der Verbindung komplexer Dissonanzbildungen mit einfachen melodischen Ostinati oder ostinaten Akkordwiederholungen - z. B. in den berühmten "Stampfrhythmen", bei denen ein einziger dissonanter Akkord in stets wechselnden Akzentuierungen wiederholt wird. Der stets wiederholte Akkord wirkt wie ein stilisiertes Geräusch. So zeigen sich Ansätze, die von der Emanzipation der Dissonanz zur Emanzipation des Geräusches führen - zunächst bei Strawinsky selbst (vor allem in den Schlagzeugpartien der "Geschichte vom Soldaten"), später in gesteigerter Radikalität bei Edgard Varèse (vor allem im Schlagorchestersatz der "Ionisation"). Olivier Messiaen zeigte, daß aus der Rhythmik des "Sacre" auch andere Konsequenzen entwickelt werden konnten: Er entwickelte eine Kompositionstechnik, in der rhythmische Innovationen zentrale Bedeutung erhielten, so daß Neuerungen der Melodie und Harmonie nicht mehr als deren Ursache erscheinen mußten, sondern als ihre logische Konsequenz. Dies machte den Weg frei für neue Entwicklungen in der 2. Jahrhunderthälfte, an denen prominente Schüler Messiaens maßgeblichen Anteil haben: Pierre Boulez und Stockhausen als Pioniere der seriellen Musik, Iannis Xenakis als Promotor einer nach mathematischen Prinzipien formalisierten Musik.

Der Rhythmus in der kompositorischen Entwicklung von Iannis Xenakis

In der Entwicklung der seriellen Musik ist die Bedeutung neuer rhythmischer Prinzipien eher in Erscheinung getreten als in der formalisierten Musik von Iannis Xenakis, da dort Prinzipien der Zwölfton-Reihenstruktur gleichsam auf die Ordnung der Tondauern übertragen wurden. In den komplexen Massenstrukturen der ersten Werke, mit denen Xenakis in den fünfziger Jahren an die Öffentlichkeit trat (in den Orchesterstücken "Metastaseis" und "Pithoprakta", in den elektroakustischen Kompositionen "Diamorphoses" und "Concret PH") spielten serielle Strukturen nur noch ausnahmsweise eine Rolle. Eine serielle Rhythmisierung von Tönen wurde vor allem dann unmöglich, wenn Xenakis auf ausgehaltene Töne vollständig verzichtete und statt dessen dichte Geräuschwolken oder Glissandoknäuel einführte. Letzte Spuren einer Rhythmik im traditionellen (tonalen oder auch seriellen) Sinne finden sich noch in einzelnen Schlagzeugakzenten, die etwa zu Beginn von "Metastaseis" den Fluß der Streicherglissandi gliedern wie eine unregelmäßig tickende Uhr oder die in "Pithoprakta" einen dichten Streicherakkord mit rhythmischen Pulsationen beleben. Dies sind erste Anzeichen einer Neubestimmung der Funktion des Rhythmus in späteren Werken. Vor allem in den sechziger Jahren verändert sie sich in Werken, in denen instrumentale Strukturen sich mit Deklamation oder Gesang antiker (altgriechischer oder lateinischer) Texte verbinden: In "Polla ta dhina" verbinden sich orchestrale Massenstrukturen mit dem Gesang eines Kinderchores, der den Text des berühmten Standliedes aus der "Antigone" des Sophokles rhythmisch auf einem Ton deklamiert. In der "Oreisteia" verbindet sich der Instrumentalsatz mit Chorgesang von Texten des Aischylos. Quasi archaische Muster der Melodik, des Begleitsatzes und der Rhythmik finden sich hier nicht nur im Chorsatz, sondern auch in instrumentalen Partien - nicht zuletzt auch in quasi-folkloristischen, ostinaten Schlagzeugrhythmen, in deren Variationen sich erste Spuren der späteren Schlagzeugmusik von Xenakis erkennen lassen. In "Medea" wird der Gesang eines Männerchores begleitet nicht nur von gleitenden und gehaltenen Tönen einiger Instrumente, sondern auch von sparsam gesetzten rhythmischen Akzenten, die nicht nur der Schlagzeuger produziert, sondern auch die Chorsänger (mit gegeneinander geschlagenen Steinen - gleichsam archaischen Schlaginstrumenten).

Das erste Werk, das Xenakis ausschließlich für Schlaginstrumente bestimmt hat, ist die 1969 entstandene Komposition "Persephassa" für 6 Schlagzeuger. Das Werk wurde für die "six percussionistes de strasbourg" geschrieben, denen es auch gewidmet ist. Jeder der sechs Solisten, die in einem Sechseck rings um das Publikum postiert sind, spielt Fellinstrumente in sechs verschiedenen Ton- bzw. Geräuschlagen, Metall- und Holzinstrumente, Steine (die Xenakis zuvor, wie gesagt, schon in "Medea" verwendet hatte) und Sirenen (ein Lieblingsinstrument des von Xenakis bewunderten Varèse, das Xenakis selbst auch schon zuvor, in der "Oresteia", eingesetzt hatte). Mit diesem reichen Instrumentarium realisiert Xenakis erstmals eine Komposition, die ganz im Zeichen des Rhythmus steht. Alle Formprozesse des Stückes entwickeln sich aus Modifikationen des für Xenakis maßgeblichen Prinzips der Periodizität - in vielfältigen Nuancierungen innerhalb eines breiten Spektrums, das von regelmäßigen Schlagfolgen bis zu völlig unregelmäßigen Gestaltungen reicht. Dabei verwendet Xenakis nicht nur verschiedene Instrumentenfamilien, deren wechselnde Dispositionen die Gliederung der Großform bestimmen, sondern auch verschiedene Klangtypen, die eine plastische Ausformung der Details und der Prozesse ihrer Verwandlung ermöglichen: Wirbel (extrem rasche regelmäßige Repetion bei der nicht mehr einzelne Schläge gehört werden, sondern ein zusammenhängender, "aufgerauhter" Klang) - Klangpunkte (einzelne Anschläge) - rhythmische Gestalten (Gruppen aus mehreren Schlägen in regelmäßiger Abfolge).

Wie aus Übergängen zwischen diesen verschiedenen Klangtypen sich klar durchhörbare Formprozesse entwickeln können, zeigt sich besonders eindrucksvoll am Anfang des Stückes (hierzu Beispiel 1, T. 1-42, und Beispiel 2, T. 136-148): Es beginnt (Beispiel 1, T. 1-6) mit einem Wirbel aller 6 Spieler, in einer charakteristischen dynamischen Hüllkurve von 6 Fellinstrumenten: 2 Takte Anschwellen und dynamischer Höhepunkt - 1 Takt Abschwellen - 3 Takte erneutes Anschwellen und abschließendes Ausklingen (Nachhall). Dieser Wirbel, von dem die Musik zunächst ausgegangen ist, wird später wieder erreicht als Höhepunkt einer groß angelegten Beschleunigung (Beispiel 2): Alle 6 Spieler spielen in extrem rascher Periodizität (5 oder 6 Unterteilungen je halber Takt, T. 138-144); man hört einen ständigen Wechsel der Überlagerungen von Hüllkurven, der Ton- und Geräuschlagen, und im größeren Zusammenhang eine rhythmische Verdichtung (längere Dauern und Pausen werden mehr und mehr aufgesaugt von den rascheren Periodizitäten), die anschließend umschlägt in eine extrem laute Klangwolke (extrem rasche und unregelmäßige Schlagfolgen, T. 145 f.) und in die Wiederkehr des Wirbels mit einer charakteristischen Hüllkurve (T. 147). Die Entwicklung, die vom Anfang bis zu dieser variierten Wiederkehr führt, zeichnet sich in ersten Ansätzen bereits auf den ersten beiden Partiturseiten (Beispiel 1) ab: Zunächst (T. 7-15) sind einzelne Schläge in wechselnden Abständen zu hören: 2 Takte - 4 Takte - 3 Takte; dem dritten Solo-Anschlag folgt sogleich ein Tutti-Akzent aller 6 Spieler, ein erster Ansatz für die Ablösung der isolierten Klangpunkte durch rhythmische Gestalt (hier zunächst eine Gruppe von 2 Anschlägen). Auch der folgende Abschnitt (T. 16-21; Unterteilung:

1 ½ Takte - 2 ½ Takte - 2 Takte) schließt mit einem Tuttiakzent, der zum vorigen deutlich kontrastiert: Als extrem leiser und kurzer Wirbel. Die Rückkehr zum leise einsetzenden Wirbel wird in den folgenden Takten noch deutlicher - in Wirbeln zunächst einzelner Spieler (T. 22-27), dann auch mehrerer gleichzeitig, mit verschiedenen Hüllkurven (T: 30-33, 38-42). Die Wirbel überlagern sich mit Klangpunkten, die sich mehr und mehr zu Gruppen zusammenschließen, rhythmische Gestalten bilden (z. B. T. 23-27 in folgender Gruppierung der Schläge bei Spieler A: 1 - 4 - 2 - 3 - 5). Danach ist erstmals eine rhythmische Gestalt im Tutti zu hören (T. 28; man vgl. die vorausgegangenen gliedernden Tuttiakzente T. 13, 20); zusammen mit der Fortsetzung durch Spieler A ergibt sich in T. 28-32 die Schlagfolge 2-3-1. Danach ist erstmals eine durchgängige Bewegung in Vierteln zu hören - zunächst allein und gleichmäßig von einem Spieler (A), dann im Wechsel zwischen Solo und Tutti, zwischen Schlägen und kurzen Wirbeln, schließlich auch mit eingefügten Pausen oder mit wechselnder Klangdichte, indem ein Spieler gelegentlich auch 2 oder 3 Instrumente gleichzeitig anschlägt (Spieler A ab T. 33 Ende). Später setzen sich mehr und mehr feinere rhythmische Unterteilungen durch: Neben oder anstatt von Viertelnoten (2 Einheiten pro halber Takt) hört man Vierteltriolen, Achtel, Quintolen oder Sextolen (3, 4, 5 oder 6 Einheiten). Maximale Geschwindigkeiten werden erreicht entweder in Klangwolken oder in Wirbeln.

"Persephassa" ist eines der ersten und wichtigsten Beispiele für grundlegende Veränderungen in der Neuen Musik seit 1968. Xenakis gestaltet hier Formprozesse, deren Tendenz der Hörer klar erfassen und mitverfolgen kann - Beschleunigungen und Verlangsamungen, Verdichtungen, Übergänge zwischen verschiedenen Klangtypen (einzelne Schläge als Klangpunkte - Gruppen von Schlägen als rhythmische Gestalten - Wirbel - Klangwolken) - verschiedene Klangfarben und Klangfamilien in charakteristischen Abfolgen und Schichtungen - Bewegungen von Klängen und Klangstrukturen im Raum. Mit dieser Komposition beginnt eine neue Entwicklungsphase der Neuen Musik, in der neue Zusammenhänge zwischen dem vom Komponisten Konstruierten und dem vom Hörer Wahrgenommenen deutlich werden. Das hier Begonnene hat Xenakis in der Folgezeit weiter entwickelt - in Kompositionen nicht nur für Schlagzeugensembles ("Pleiades" für 6 Schlagzeuger; "Okho" für 3 Schlagzeuger), sondern auch für Schlagzeug solo ("Psappha", "Rebonds"), für Schlagzeug in Verbindung mit anderen Instrumenten (Schlagzeug und Cembalo: "Komboi", "Oophaa"; Schlagzeug und Männerstimme: "Kassandra").

Bedeutsam auch für spätere Schlagzeugkompositionen von Xenakis wurden die schon für "Persephassa" wichtigen Techniken, verschiedene Periodizitäten und Geschwindigkeiten miteinander zu verbinden und zu überlagern. Am sinnfälligsten werden sie dann, wenn alle Spieler synchron mit einer periodischen Schlagfolge beginnen und wenn dann ein Spieler nach dem anderen aus dem gemeinsamen Tempo ausschert und in seinem eigenen metronomischen Tempo weiterspielt (Beispiel 3, Persephassa T. 191-205). An manchen Stellen führt diese Technik so weit, daß alle Spieler komplexe Rhythmen in verschiedenen Tempi spielen (Persephassa T. 220-226; an anderen Stelle, T. 250 und T. 296-297, spielen alle Spieler denselben Rhythmus, aber jeder in einem anderen Tempo). Im Schlußteil des Stückes, der aus im Raum kreisenden, zunehmend stärker anschwellenden Tremoli und einigen markanten Klangwolken gebildet ist, werden die Änderungen des metronomischen Tempos von allen Spielern synchron ausgeführt - in einer groß angelegten Beschleunigung (von 30 auf 360 Schlageinheiten pro Sekunde). - Eine andere Technik der Geschwindigkeitsänderung sind Änderungen der Unterteilungseinheit bei gleichbleibendem metronomischen Tempo. Im einfachsten Falle kommt es dazu, daß einzelne Spieler aus dem synchronen Spiel ausscheren, indem sie ihre Einsätze jeweils um eine Vierteltriole oder um eine Achtelquintole früher bringen - also schneller, in kürzerer Periodizität weiterspielen als die anderen (Persephassa T. 162-124). In späteren Stücken wird diese Technik in wesentlich komplizierterer Weise angewendet - zum Beispiel in "Pleiades" (zu Beginn des Satzes "Métaux") in einer Beschleunigung, bei der die Metallinstrumente synchron beginnen, sich ihre Rhythmen anschließend asynchron verschieben und danach wieder treffen in doppelter Geschwindigkeit (T. 1-7, Beispiel 4). Wichtig für "Pleiades" ist überdies, daß Xenakis seine rhythmischen Verwandlungen und Schichtungen nicht nur mit Instrumenten (mehr oder weniger) unbestimmter Geräuschlagen darstellen läßt (z. B. mit abgestimmten Fell- oder Metallinstrumenten), sondern auch mit präzisen Tonhöhen. Diese Möglichkeit wird in späteren Werken weiterentwickelt, in denen Schlaginstrumente kombiniert werden mit präzisen Tonhöhen einer Singstimme ("Kassandra") oder eines Instrumentes (des Cembalos in "Komboi" und "Oophaa").

In der Entwicklung seiner Schlagzeugmusik seit den späten sechziger Jahren ist Xenakis ähnlich vorgegangen wie zuvor in seiner Instrumentalmusik: Neue Techniken wurden zunächst in größeren Besetzungen erprobt, bevor sie später auf ein Soloinstrument übertragen wurden. Dies gilt auch für das für Sylvio Gualda komponierte Schlagzeugsolo "Psappha" (1975). In diesem Stück ebenso wie in den zweisätzigen "Rebonds" (1987-1989) konzentrieren sich die rhythmischen Konstruktionen (aus naheliegenden instrumentatorischen Gründen) weniger auf komplexe Schichtungen als auf Transformationen der Periodizität in ständigen Verwandlungen rhythmischer Figuren, die in einfachen Fällen an altgriechische Rhythmen erinnern (Figuren, die übrigens, in anderem instrumentatorischen Kontext, sich auch in Ensemblestücken wie den "Pleiades" und dem 1989 entstandenen Trio "Okho" finden).

In der Schlagzeugmusik von Iannis Xenakis realisiert sich eine musikalische Sprache, die zurückreicht bis auf archaische Wurzeln, die aber - in ihren konstruktiven Ideen (etwa basierend auf der mathematischen Siebtheorie) - auch verweist auf Gegenwart und Zukunft.

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