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7.1 Schaeffer: Rundfunkpionier und Musiker wider Willen


@Titelzeile:Rundfunkpionier und Musiker wider Willen

@Untertitel:Porträt des französischen Komponisten Pierre Schaeffer

@Autor:von Rudolf Frisius

@Absatz:Pierre Schaeffer hat in seiner Radioarbeit viele verschiedene Rollen gespielt:

@Normal: als Realisator von Radiosendungen

als Gründer eines Experimentalstudios

als Schöpfer experimenteller Radioproduktionen

als Gründer einer Forschungsgruppe

als Schriftsteller, dessen literarische Phantasie sich häufig auch von autobiografischer Erfahrung inspirieren ließ

als Verkünder neuer Theorien und Ästhetiken des Radios und der modernen Medienkultur.

Die Aktivitäten des Radiopioniers Pierre Schaeffer präsentieren sich in einer Vielfalt des scheinbar Disparaten - in einer Vielfalt, wie sie für die moderne Medienkultur charakteristisch ist.

Schaeffer ist ein Pionier der Radiokunst, der die falsche Exklusivität verabscheut. Er ist kein Radiomacher, der sich einfach hinter technisch perfekten Ergebnissen verschanzt. Er möchte vielmehr seinen Hörern auch zeigen, wie Radio gemacht wird.

Die Arbeit für das Radio, die Schaeffer in rund vier Jahrzehnten geleistet hat, war Pionierarbeit nicht nur für Schaeffer selbst, auch nicht nur für die professionellen Radiomacher. Schaeffer hatte ein ehrgeizigeres Ziel: er wollte das Publikum an seinen Entdeckungen möglichst direkt beteiligen. Seine nie erlahmende professionelle Neugier sollte ansteckend wirken. In diesem Zusammenhang konnte sogar das Radiohören selbst zum radiofonen Thema werden.

Der Radiomacher Schaeffer will das Interesse der Radiohörer aktivieren. So bleibt es auch im Hörspiel nicht bei fertigen Resultaten. Der Hörer soll auch einmal Schritt für Schritt miterleben können, wie eine Hörspielinszenierung entsteht. Es gibt Versuche, Kritik, Revisionen: Schritt für Schritt entwickelte Resultate.

Über die verschiedenen Stationen in Schaeffers Lebensweg sind wir ausführlich unterrichtet. Viele Radioproduktionen, die er veranlaßt oder selbst realisiert hat, sind erhalten geblieben, wir wissen auch ziemlich genau, wie diese Produktionen zustande gekommen sind: es gibt zahlreiche Bücher, die über Schaeffers Arbeit berichten. Die meisten davon hat Schaeffer selbst geschrieben. Schaeffer, der seine Radioarbeit nie isoliert sehen wollte; er der sich weder mit administrativer Radioarbeit noch mit der rein pragmatischen Produktionsarbeit für das Radio begnügen wollte, ist fast zwangsläufig immer wieder zwischen die Fronten geraten:

In Frankreich kennt man ihn nicht nur als Radiopionier, sondern auch als Schriftsteller, auch als Musiker oder als experimentellen Klangforscher. Darüber hinaus hat er auch in der Administration des Rundfunks eine wichtige Rolle gespielt. Für kurze Zeit, von August bis Oktober 1944, amtierte er sogar als Generaldirektor des französischen Staatsrundfunks. Damit wurde - wenigstens für einige Monate - honoriert, was Schaeffer im August 1944 bei der Befreiung der Hauptstadt Paris von deutscher Okkupation geleistet hat. Schaeffer war es damals, der die Radioberichterstattung vom Pariser Aufstand organisierte.

Die Radioarbeit und das gesamte Lebenswerk Schaeffers sind entscheidend geprägt von den Erfahrungen jener Jahre: von der militärischen Katastrophe des Jahres 1940; von verschiedenen, immer wieder gefährdeten Versuchen, sich in Opposition zum Vichy-Regime zu engagieren für eine alternative Radiopraxis und Radiokunst in der Résistance.

1942 gründete Schaeffer ein radiofones Versuchsstudio in Beaune. Hier wurden die Weichen für die Wiedergeburt des französischen Rundfunks nach der Befreiung gestellt. Was damals produziert wurde, durfte natürlich in der Besatzungszeit nicht gesendet werden. Dennoch wurde unablässig produziert. Schaeffer selbst verfaßte in der Résistancezeit ein Hörspiel, das in Beaune fast ein Jahr lang produziert wurde - in den Jahren 1943 und 1944: "La Coquille à Planètes" (Die Planetenmuschel). Auch dieses Stück reflektiert die finstere Kriegszeit, in der es entstand.

Der Schrecken der Okkupationsjahre wirkt noch nach in den traumatischen Klangfantasien eines Stücks, das erst Jahre später fertig wurde: In der "Symphonie pour un homme seul", die Schaeffer in den Jahren 1949 und 1950 gemeinsam mit Pierre Henry realisierte. Es sollten allerdings fast dreißig Jahre vergehen, bevor Schaeffer die politischen Implikationen dieser Musik einmal offen aussprach. Erst im vorgerückten Alter hat Schaeffer an mehreren Details die politische Verschlüsselung dieser Musik erläutert: <I> In der "Symphonie pour un homme seul" gab es diese furchtbaren Schritte auf der Treppe, diese Schläge gegen die Tür, die geradewegs von den Schrecken der Gestapo herkommen, genauso wie die Herzschläge; es gab den großen Schrei am Anfang: "Ohé o", der von einer amerikanischen Schallplatte zur Feier des Sieges entwendet war: On a note of triumph.<P>

Die "Symphonie pour un homme seul" hat Schaeffer, der gelernte Rundfunkingenieur, zusammen mit einem Komponisten realisiert: mit Pierre Henry. Die ersten Ideen zu diesem Werk waren Schaeffer allerdings schon eingefallen, bevor er Henry begegnet war. Die Gesamtkonzeption dieses Stückes ist stark von Ideen Schaeffers geprägt. Andererseits ist es auch aufschlußreich zu beobachten, daß schon in diesem Stück die Teamarbeit eine wichtige Rolle gespielt hat. Das ist für die gesamte Radioarbeit Schaeffers typisch: Schaeffer hat rechtzeitig erkannt, wie wichtig die Gemeinschaftsarbeit gerade für die moderne Medienpraxis ist und dies nicht nur bei der Produktion selbst, sondern auch bei der kritischen Auswertung dessen, was sich in diesen Produktionen an neuen Erfahrungen ergeben hat. Nur durch kritische Reflexionen, wie sie Schaeffer mit großer Intensität initiiert hat, ist es möglich geworden, Erfahrungen zu verallgemeinern - Erfahrungen, die sich in Stücken wie der "Symphonie" zunächst intuitiv ergeben hatten; Erfahrungen einer experimentellen Radiopraxis, die die Hörwelt bis in ihre kleinsten Bestandteile zerlegt, um daraus durch Synthese neue Zusammenhänge wiederaufzubauen.

Schaeffer hat sich nie eindeutig auf eine bestimmte Rolle festlegen lassen - weder auf die Rolle des bloßen Praktikers noch auf die Rolle des praxisfernen Theoretikers, weder auf die Rolle des wissenschaftsfeindlichen Künstlers noch auf die Rolle des kunstfremden Wissenschaftlers. All dies gehört nach seinem Verständnis von Radiokunst zusammen und ist für Schaeffer auch Konsequenz eigener Lebenserfahrungen.

Der Sohn eines Geigers und einer Sängerin hat nicht Musik studiert , sondern er hat sich für eine polytechnische Ausbildung entschieden. Dennoch blieb sein künstlerisches Interesse wach - nicht nur für Musik, sondern auch für Literatur. Der Techniker und Radiomacher Schaeffer ist sein ganzes Leben lang auch als Schriftsteller aktiv gewesen. Er sah seine wichtigste Lebensaufgabe darin, seine verschiedenen Talente möglichst gleichwertig zu entfalten - als ein literarisch interessierter, musikalisch engagierter Wissenschaftler.

Schaeffer selbst hat vermutet, daß sein Schwanken zwischen Kunst und Wissenschaft seine Arbeit stark geprägt hat - daß sie aber dennoch kein biografischer Zufall, sondern ein Symptom unserer Zeit war.

<I>Es ergeben sich ... zwei neue Typen: der des in die Wissenschaft hineinpfuschenden Musikers und der des in die Musik pfuschenden Wissenschaftlers ... Der Verfasser dieser Zeilen bekennt sich zum Typ zweiter Art. Vielleicht wird es ihm sogar leicht fallen, zu zeigen, wieso das Schicksal ihm diese Zweideutigkeit auferlegte. Normalerweise sind angeborenes Talent und besondere Fähigkeiten einander entsprechend; wie aber, wenn eines Menschen Begabung auf wissenschaftlichem Gebiet liegt, sein Instinkt ihn aber auf Musik und Dichtkunst hinweist? Wird ihn nicht höhere Gewalt zwingen wollen, diese verschiedenen Welten, die seine Neigungen und Betätigungen grausam erschweren, zu verbinden?<P>

Schaeffer gehört zur Gründergeneration der Rundfunkpioniere. Radiopraxis und Radiokunst sind für ihn die exemplarische Erfahrung seiner Generation, deren Weitergabe auch für künftige Generationen wichtig sein könnte.

<I>Keine andere Generation ist so genau in die Zeit der Entstehung, der Verbreitung, vielleicht auch schon des Verfalls der Massenmedien hineingeraten.

Schaeffer hat erfahren, daß der Überfluß der heutigen Medienkultur sich erst allmählich entwickelt hat. Nicht ohne Ironie annonciert er, daß er auch noch andere Zeiten miterlebt hat - vor der zwiespältigen Blütezeit der Medien im Atomzeitalter. In verschiedenen Epochen seines Leben hat er die moderne Medienkultur in immer neuen Perspektiven kennengelernt: als technischer Mitarbeiter und Aufnahmeleiter zunächst am Straßburger Rundfunk, dann am Pariser Rundfunk in den dreißiger Jahren; als Promotor alternativer Radioarbeit in den Kollaborationsjahren nach der Kriegsniederlage, im Jahr der Befreiung, drei Monate lang als Generaldirektor des französischen Rundfunks; in der Folgezeit mit vielfältigen Funktionen und internationalen Missionen am Rundfunk tätig, wobei die eigene praktische Studioarbeit immer wie durch äußere Anlässe unterbrochen wird; seit den fünfziger Jahren als Studioleiter und Betreuer wissenschaftlicher Projekte; seit den sechziger Jahren vor allem als Schriftsteller, der nicht nur Belletristisches veröffentlicht, sondern auch akustisch-musikalische Untersuchungen, autobiografisch gefärbte Erfahrungsberichte und Reflexionen, Arbeiten über Theorie und Praxis der Massenmedien. Schon in den Kriegsjahren hat Schaeffer die Weichen gestellt, daß Frankreich zum international führenden Zentrum der experimentellen Hörspielarbeit werden konnte. Aus mühsamen Anfängen sich unter seiner Leitung das "Studio d'Essai", dann der "Club d'Essai" entwickelt - Institutionen, mit deren Namen sich überaus wichtige Innovationen der Hörspielgeschichte verbinden.

Noch stärker als das Hörspiel hat Schaeffer die Musik revolutioniert: Durch die Erfindung der musique concrète in den späten vierziger Jahren, der ersten technisch produzierten Musik, durch die Institutionalisierung dieser Erfindung in einem Studio und in einer Arbeitsgruppe - dem "Groupe de Musique Concrète", später dem "Groupe de Recherches Musicales". Sogar zur Etablierung experimentellen Fernsehens hat Schaeffer Maßgebliches beigetragen.

Schaeffer hat wichtige Epochen der Radiogeschichte nicht nur miterlebt, sondern auch mitgestaltet,

In der internationalen Öffentlichkeit ist Schaeffer vor allem dadurch bekannt geworden, daß er die Musik radiofonisch revolutioniert hat; 1948 schuf er das erste Stück, das nicht aus Noten komponiert ist, sondern aus Bruchstücken radiofoner Aufnahmen: Die "Etude aux chemins de fer", die "Eisenbahnetüde". Die "Etude aux chemins de fer" ist die erste Produktion der musique concrète: Musik, die nicht von der Klangvorstellung und von der Partitur ausgeht, sondern vom gehörten Klang selbst.

Diese Musik entsteht nicht auf dem Papier, sondern vor den Mikrofonen und im Aufnahmestudio. Sie ist das klassische Beispiel einer technisch produzierten Musik.

Das erklärt zugleich, warum schon die ersten Produktionen der musique concrète die Grenzen der traditionellen Musik überschreiten: Diese Radiostücke sind nicht nur experimentelle Musik; sie sind auch experimentelle Hörspiele - vergleichbar jenen "Hörbildern" und "Hörfilmen", von denen uns die deutsche Radiogeschichte der zwanziger Jahre berichtet: Produktionen, in denen gleichsam "Klänge zum Sprechen gebracht" werden sollten, wie es Schaeffer später formulierte: <I>Klänge aus der täglichen Umwelt, zum Leben erweckte Geräusche; aber auch klingende Stimmen von Tieren und Menschen; konservierte und technisch manipulierte Wahrnehmungssplitter aus den Bereichen der täglichen Hörwelt, der Sprache, sogar der Musik im traditionellen Sinne.<P>

Schaeffer wußte, daß seine experimentelle Radiokunst die Prophezeiungen berühmter Vorläufer erfüllte: Schon vor dem ersten Weltkrieg hatten Futuristen wie Russolo und Pratella die Grenzen der überlieferten Musik gesprengt, als sie in Manifesten eine Musik der Geräusche im eiste des modernen Maschinenzeitalters propagierten, als Luigi Russolo mit einem Geräuschorchester Aufsehen erregte.

Vorläufer der experimentellen Radiokunst von Schaeffer findet man nicht nur in der Musik; Schaeffer hat mehrfach darauf hingewiesen, daß seine markante Prophezeiung sich auch in klassischer französischer Literatur nachweisen läßt: eine poetische Vision der technisch konservierten Sprache hat schon Rabelais aufgeschrieben, als er die zu Eis gefrorenen Worte erfand, die sich mit einiger Mühe wieder auftauen lassen. Schaeffer hat an diese literarische Prophezeiung in einer Hörspielproduktion erinnert: die "Paroles dégélées", die aufgetauten Wörter" sind Radiokunst der befreiten Wörter und Stimmen - ein Gegenstück zur Radiokunst der befreiten Alltagsgeräusche, wie man sie in verschiedenen Produktionen der ältesten musique concrète findet.

So präsentiert sich Schaeffer als Vollstrecker alter Prophezeiungen. E erfüllt diese in einer Radiopraxis, die sich von ästhetischen Konventionen der Sprache und der Musik befreit hat.

Radio im Widerstand

Das Jahr 1940 ist eines der schwersten Jahre in der französischen Geschichte: Es ist das Jahr der militärischen Niederlage gegen Deutschland.

Uns sind Tondokumente aus dieser Zeit erhalten geblieben; einige davon wurden 1980, 40 Jahre später, zur Erinnerung nochmals auf Schallplatte veröffentlicht. Diese Dokumente illustrieren eine vierjährige Krise Frankreichs und gleichzeitig einen der wichtigsten Abschnitte im Leben von Schaeffer.

Das Versuchsstudio das Schaeffer 1942 in Beaune gegründet hatte, verstand sich vor allem als Forum der literarischen Rezitation - einer Rezitation allerdings, die auch die aktuelle, politisch engagierte Gegenwartsliteratur mit einschloß.

Die in Beaune gemachten Aufnahmen wurden vorsorglich für die Zeit nach der Befreiung vorbereitet: Als Zeichen des Protestes und der Hoffnung auf bessere Zeiten entwickelte sich eine intensive Studioarbeit.

Schriftsteller wie Eluard und Aragon sprachen offen aus, was auch Schaeffer selbst bewegte - und was in Schaeffers Hörspiel "La Coquille à Planètes", das damals produziert wurde zumindest indirekt deutlich wird:

Widerstand gegen Okkupation und Unterdrückung, Abscheu gegen die Schrecken des Krieges.

1944 ist das Jahr der französischen Befreiung. Die aliierte Invasion setzt der deutschen Okkupation ein Ende.

Das Radio des befreiten Paris war das Werk Schaeffers. Mit der Gründung des Versuchsstudios in Beaune hatte er die Voraussetzungen dafür geschaffen. Schaeffers Studio d'Essai sendete am 22. August 1944 den ersten Radioaufruf zum Aufstand, und es informierte in Reportagen über die Barrikadenkämpfe in der Stadt. Die wichtigsten Tondokumente jener Tage stammen aus Schaeffers Studio.

Es versteht sich von selbst, daß Schaeffer noch heute diese Aufnahmen zu den wichtigsten Ergebnissen seiner lebenslangen Radioarbeit rechnet. Sie waren der Abschluß einer wichtigen Epoche seines Lebens. Darüber hinaus erklären sie auch, warum Schaeffer auch in der Folgezeit eine so wichtige Rolle im Pariser Rundfunk spielen konnte: 1944, in der Zeit des französischen Umschwungs, stieg Schaeffer für kurze Zeit sogar zum Generaldirektor des gesamten französischen Staatsrundfunks auf. Jean Guignebert, dem Schaeffer kurz zuvor noch den ersten Radioappell im freien Rundfunk ermöglicht hatte, wurde als Informationsminister Schaeffers Vorgesetzter.

Die Harmonie hielt allerdings nicht lange. Schon im Oktober 1944 kam es zum Streit, und Schaeffer wurde als Generaldirektor entlassen. Dennoch wurden ihm auch in der Folgezeit die Verdienste honoriert, die er sich in der Resistance erworben hatte: Schaeffer blieb weiterhin am ORTF in wichtigen Funktionen tätig, und er arbeitete dort bis 1974 - bis zu dem Jahr also, als Giscard d'Estaing, der damals neugewählte Staatspräsident, den staatlichen Einheitsrundfunk in verschiedene Organisationen aufspaltete.

Der Konflikt, der im Oktober 1944 zu Schaeffers Entlassung aus der Generaldirektion des Rundfunks führte, war nicht der erste dieser Art und sollte auch nicht der letzte bleiben. Schon vor dem 2. Weltkrieg hat sich Schaeffer, der stets unbequeme und eigenwillige Einzelgänger, oft und heftig mit Kollegen und Vorgesetzten am Rundfunk zerstritten. Auch nach dem 2. Weltkrieg ist er immer wieder in Konflikte hineingeraten. Oft hat Schaeffer dabei bittere Niederlagen hinnehmen müssen. Aber meistens hat er es dann später doch verstanden, nach Rückschlägen wieder neu anzufangen, vielleicht sogar neue, bessere Wege zu finden, die er ohne die vorausgegangenen Enttäuschungen wahrscheinlich gar nicht gefunden hätte.

Vieles spricht dafür, daß Schaeffer als Pionier der Radiokunst nicht zuletzt deswegen so wichtig geworden ist, weil er aus den Chefetagen des Rundfunks relativ rasch wieder herunterkam. Wahrscheinlich hätte ihm letztlich die Zeit zur weiteren produktiven Radioarbeit gefehlt, wenn er an der administrativen Spitze allzu lange geblieben wäre

Erste Ansätze einer neuen Radiotheorie

Auf längere Sicht hat sich herausgestellt, daß die zweijährige Studioarbeit in Beaune für Schaeffer wesentlich wichtiger und folgenreicher geblieben ist, als seine dreimonatige Amtszeit als Rundfunkchef. Die Experimentalarbeit in Beaune hat einer grundlegenden Reform der Radiopraxis den Weg bereitet - auch über den Rahmen der politischen Tagesaktualität hinaus. Die Schallplattendokumentationen über Schaeffers Experimentalarbeit, die 1952 und 1955 publiziert wurden, enthalten repräsentative Ausschnitte auch aus der Versuchszeit von Beaune - präsentiert und kommentiert von Pierre Schaeffer selbst. Die Aufnahmen jener Jahre dokumentieren vielfältige Versuche, neue Formen und Inhalte der radiofonen Vermittlung zu finden.

Schaeffer ist nicht nur ein einfallsreicher Praktiker, sondern auch ein scharfsinniger Theoretiker der Medienkultur. Schon 1938, mit 28 Jahren, hat er einen Aufsatz publiziert, der sich erstmals mit Fragen der radiofonen Praxis und Theorie befaßt. Sein damaliger Text orientiert sich an beruflichen Erfahrungen, die Schaeffer damals Tag für Tag als Aufnahmeleiter im Pariser Rundfunk machen konnte. Im Vordergrund stehen aufnahmetechnische Probleme, vor allem bei Musikaufnahmen. <I>Wie ist es möglich, ein weit im Raum verteiltes Orchester so aufzunehmen, daß man auch in der monofonen Wiedergabe Violinen und Trompeten noch genügend deutlich unterscheiden kann? Wie viele Mikrofone man auch immer bei einer Aufnahme verwerten mag - läßt sich bei monofoner Wiedergabe überhaupt ein adäquater Klangeindruck etwa in einer Musikübertragung erreichen? Läßt sich die Raumakustik eines großen Orchesters ins Wohnzimmer transferieren? Muß nicht im Radio die dynamische Spannweite der originalen Musik komprimiert werden - schon deswegen, damit die Nachbarn des Radiohörers nicht gestört werden?<P>

Schaeffer begnügt sich vorerst damit, diese Probleme nur kurz zu streifen; ihre ausführlichere Behandlung wird für einen späteren Zeitpunkt angekündigt. So bleibt der Aufsatz aus dem Jahre 1938 weitgehend ein kurzes Exposé über verschiedene technische Aspekte der Radiopraxis. Ästhetische Fragen spielen noch keine wesentliche Rolle. Die Nüchternheit der technischen Detaildiskussion wird nur durch Schaeffers belletristischen Stil ein wenig aufgelockert, der hier vor allem mit humoristischen Anspielungen an eine Molière-Komödie gewürzt ist.

Der nächste Anlaß, sich intensiver mit Fragen der Radiotheorie zu befassen, war eine politische Zäsur die sich auch auf Schaeffers Radioarbeit entscheidend auswirkte: Die Organisation "Jeune France", die nach der Niederlage der künstlerischen Zusammenarbeit in beiden Zonen Frankreichs und in Französisch-Nordafrika dienen sollte - diese Organisation mußte sich schon 1941 auflösen. Schaeffer nutzte die Zwangspause, die ihm dadurch auferlegt wurde, für theoretische Arbeiten. Eine damals entstandene Abhandlung nimmt vieles voraus, was erst viel später in der praktischen Radioarbeit eingelöst werden sollte - vor allem in der konkreten Musik.

Die Grundgedanken Schaeffers lassen sich relativ einfach zusammenfassen:

<I>Kino und Radio, die neuen ästhetischen Medien,

haben vor allem neue Möglichkeiten

des konkreten Ausdrucks entwickelt.

Dies unterscheidet diese Medien von der Sprache.

In ihren konkreten Ausdrucksmöglichkeiten und in ihrer

konkreten Wirkung sind Kino und Radio der Sprache überlegen,

andererseits fehlen ihnen jedoch wichtige Möglichkeiten der Abstraktion, wie sie die Sprache bereitstellt.

Film und Radio gehen den umgekehrten Weg wie die Sprache:

Vom Konkreten zum Abstrakten.<P>

Mit seinen Überlegungen über Konkretion und Abstraktion in Kino und Radio einerseits, der Sprache andererseits, bereitet Schaeffer Alternativen vor, die später auch einer Neubestimmung radiofoner Musik zu Gute kommen sollten: Radiofone Musik muß, wenn man Schaeffers Gedanken weiterdenkt, ebenfalls vom Konkreten ausgehen; radiofone Musik muß also zur musique concrète werden - das heißt zu genau derjenigen Musik, die Schaeffer wenige Jahre später dann auch tatsächlich erfinden sollte.

Die Erfahrungen der praktischen Arbeit in Beaune hat Schaeffer auch später im Zusammenhang weiterführender theoretischer Überlegungen ausgewertet. Ein erster Ansatz hierfür war ein Aufsatz aus dem Jahre 1946, der vor allem Probleme der Mikrofonästhetik behandelt - und zwar weitgehend im Vergleich mit ihrem cineastischen Äquivalent, mit der Kameratechnik. Im Zusammenhang dieses Aufsatzes kam Schaeffer auch auf ein besonderes Problem der radiofonen Praxis zu sprechen, das ihn auch nach der Befreiung noch lebhaft interessiert haben dürfte: es ging um das Problem der offenen oder versteckten Mikrofonaufnahme.

Indem Schaeffer dieses Problem in seine theoretischen Überlegungen miteinbezog, erweiterte er zugleich den Horizont seiner Radiotheorie: erste Ansätze einer Konzeption, die über den Primat des literarischen Radios hinausführte, begannen sich zu entwickeln - Ansätze, die Schaeffer später noch wesentlich weiterentwickeln sollte, vor allem in den Kommentaren zu seinen Schallplattendokumentationen der fünfziger Jahre.

Der Anlaß, über offene oder verdeckte Mikrofonaufnahmen nachzudenken, war einfach: Schaeffer hatte Interviewaufzeichnungen gemacht, in denen die Beteiligten auch nach der "offiziellen" Aufnahme noch ungezwungen weitergesprochen hatten - und zwar ohne zu wissen, daß die Mikrofone noch eingeschaltet waren. Schaeffer bemerkte sofort, daß diese heimlich aufgenommene Sprache eine Lebendigkeit ausstrahlen kann, die dem offiziellen Interview und der offiziellen Radiodiskussion meistens fehlt. Das war der Anstoß für weitere Forschungen: die Entdeckung, daß die vor den Mikrofonen inszenierte Sprache sich von der ungezwungenen, "natürlichen" Sprache wesentlich unterscheiden kann; die Entdeckung, daß freie, nicht inszenierte Sprache vor dem Mikrofon dem Hörer vor dem Lautsprecher ganz andere, unersetzliche Qualitäten vermitteln kann, die in der "offiziellen" Radiosprache womöglich niemals erreicht werden.

Diese Entdeckung war weitreichend; ihre Bedeutung wurde auch nicht dadurch geschmälert, daß sie sich aus der literarisch orientierten Radioarbeit ergeben hatte - nämlich bei der Aufnahme eines Gesprächs mit Paul Claudel. Gerade die "inoffiziellen" Passagen dieser Aufnahme zeigen Qualitäten, die über den Bereich des Literarischen und des schriftlich Fixierbaren weit hinausweisen - eben radiofone Qualitäten.

Daß die Experimentalarbeit in Beaune weitgehend auf den literarischen Bereich beschränkt blieb, hing sicherlich auch damit zusammen, daß sie unter extrem schwierigen politischen und technischen Rahmenbedingungen zu leiden hatte. Dennoch kann man sagen, daß selbst diese Arbeit schon umfassend genug war, um der theoretischen Reflexion auch weiterreichende Perspektiven zu eröffnen. Insbesondere die Konzeption des "Museums der literarischen Rezitation" ergab sich hier mit einer Konsequenz, die auch weiterreichende Möglichkeiten im Keim enthielt. Damit war der Boden bereitet für weiter reichende Überlegungen, die Schaeffer dann später, in den fünfziger Jahren, anstellte.

<I>Was die eigentlichen Funkformen angeht,

über die man so viel diskutiert hat,

daß man sich schließlich fragt,

ob es überhaupt eine, oder gar mehrere, gibt -

so haben wir ...

darzustellen versucht, daß das Radio

aus allen Blüten Honig saugen kann;

daß das Mikrofon glücklicherweise

gut ausgewählte Texte vermitteln kann,

ohne daß an ihnen ein einziges Komma verändert wird.

Was für Texte?

Spiele, zweifellos. Aber nicht nur.

Essays, Romane, Poesie, Klassisches, Modernes, Antikes;

Verse, Prosa -

vorausgesetzt, daß sie eine innere Qualität,

einen tieferen Sinn,

kurzum: Geist haben.<P>

Vor allem die historische Spannweite der Konzeption des "literarischen Museums" hat Schaeffer stark hervorgehoben:

<I>Daß das Mikrofon sich heute

den ältesten Prosatexten öffnen kann

und Versen, die die Patina von Jahrhunderten tragen -

das ist wirklich dem Wunder der Buchdruckerkunst vergleichbar.<P>

Schaeffer hat ausdrücklich betont, daß diese Konzeption erst in einem relativ fortgeschrittenen Stadium der Radiogeschichte vorstellbar geworden war.

<I>Wer hätte es z.B. in den ersten 20 Jahren des in seinen Möglichkeiten noch sehr unsicheren Rundfunks gewagt, Texte von Pascal, Rabelais, Chateaubriand, und warum nicht auch von Platon vors Mikrofon zu bringen?<P>

Schaeffer betont, daß die Funkrezitation erst durch "Studio d'Essai" und "Club d'Essai" in die französische Radiopraxis eingeführt worden sind, während zuvor die Praxis des Funktheaters, der Textaufteilung auf mehrere Stimmen, vorherrschte. Das waren andere Voraussetzungen, als sie beispielsweise in der deutschen Hörspielgeschichte der zwanziger Jahre bestanden hatten; dennoch war die Situation in beiden Ländern insofern ähnlich, daß das deutsche ebenso wie das französischen Radio erst nach einiger Zeit seine eigenen Präsentationsformen gefunden hatte, die sich von außerfunkischen Vermittlungsformen hinreichend deutlich abhoben.

Man kann bezweifeln, ob es Schaeffer letztlich gelungen ist, Homer, Shakespeare und Proust durch das Radio einem größeren Publikum zugänglich zu machen. Dennoch kann man feststellen, daß mit diesen Bemühungen eine neue Ära des politischen Lebens eingeleitet wurde - eine Ära, die vollkommen neuartige Möglichkeiten eröffnete, Kunst im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit zu "demokratisieren" - sie Zielgruppen zugänglich zu machen, die bis dahin weitestgehend ausgeschlossen geblieben waren. Die Verdienste, die sich Schaeffer in diesem Zusammenhang erworben hat, gehören zu seinen wichtigsten Pionierleistungen für die Radiokunst.

Radiokunst der befreiten Geräusche und Stimmen: die Geburt der musique concrète

<I>Ich komme ins Studio, um "Geräusche sprechen zu lassen", um das Maximum aus einem "dramatischen Klangdekor" herauszuholen - und ich stoße dabei auf die Musik.<P>

In den ersten Monaten des Jahres 1948 hat Schaeffer die musique concrète erfunden - die erste konsequent radiofone Musik.

Schon die ersten Produktionen der musique concrète markieren einen radikalen Neubeginn - einen Neubeginn nicht nur in der persönlichen Radioarbeit Schaeffers, sondern auch in der Musik und in der gesamten Radiokunst. Hier entsteht plötzlich Musik aus Klängen, die zuvor in einer Komposition undenkbar gewesen wären - aus Klängen, die sich von den bekannten Qualitäten der Musikinstrumente und der menschlichen Stimme deutlich abgrenzen, die auch in den Bereich der gesprochenen Sprache und in den Bereich der alltäglichen Umweltgeräusche hineinreichen.

Schaeffer hat sich später selbst darüber gewundert, daß ihm damals diese Erfindung gelang. Rein äußerlich gesehen, war sie das Ergebnis eines biografischen Zufalls: erst zu Beginn des Jahres 1948 war für Schaeffer wieder einmal die Zeit für längere, ungestörte Arbeiten im Studio gekommen - unbelastet von auswärtigen Missionen, mit denen ihn der Rundfunk zuvor so häufig betraut hatte und die ihn auch künftig immer wieder aus der Studioarbeit herausreißen sollten.

Die kontinuierliche Studioarbeit über mehrere Monate hinweg bot Schaeffer genügend Zeit, um nach völlig neuen Wegen der Radioarbeit zu suchen. Die Gewißheit, für längere Zeit ungestört praktisch arbeiten zu können, erleichterte ihm den Zugang zu neuen Erfahrungen. In der Radioarbeit wollte er nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten suchen, wie er sie zuvor, in seiner Arbeit als Schriftsteller, noch nicht hatte verwirklichen können.

<I>Manchmal, wenn ich schreibe, wünsche ich mir ein Medium, in dem ich mich noch intensiver ausdrücken könnte.

Dann ergreift mich eine nostalgische Sehnsucht nach der Musik<P>

Schaeffer, der literarisch engagierte Radiomacher, entwickelt schöpferisches Interesse an der Musik. Das bedeutet nicht, daß Schaeffer sich der traditionellen Komposition zuwenden möchte. Er sucht nur nach Worten dafür, daß ihm plötzlich Einfälle kommen, die er als Schriftsteller nicht realisieren kann: Stimmlaute jenseits der bekannten Sprache - Geräusche - Vorstellungen von Klängen und Bildern.

Die Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache erscheinen Schaeffer allzu stark fixiert, allzu eindeutig festgelegt für sein Vorhaben. Er begibt sich deswegen auf die Suche nach einer Sprache jenseits der Sprache. Im Januar 1948 wagt er den ersten Schritt.

<I>Seit einem Jahr bin ich mit Schreiben beschäftigt. Ich brauche Abwechslung. Ich schreibe immer, um etwas auszusagen. Plötzlich sehe ich nun, daß ich eigentlich einmal schreiben müßte, ohne die Absicht, etwas auszusagen.

Wenn ich schreibe, dann muß ich wohl

moralisch oder unmoralisch sein,

komisch oder tragisch, symbolisch oder naturalistisch.

Eben darum ergreift mich jetzt die Sehnsucht nach der Musik, von der Roger Ducasse sagt, daß er sie liebt, weil sie nichts aussagen will.<P>

Schaeffer wendet sich also von der Literatur ab, und er entwickelt neue Pläne. Ein erstes Projekt schält sich heraus.

<I>Ich habe damit begonnen, aufgenommene Klänge zu sammeln. Ich habe eine "Geräuschsymphonie" vor Augen. Eine "Psalmensymphonie" hat es ja schon gegeben.<P>

Schaeffer erlaubt sich hier eine legere Anspielung an Strawinsky Psalmensymphonie. Was er vorhat, stellt allerdings alles, was man bisher unter "Sinfonie" verstand, in Frage - viel radikaler als es Strawinsky in seiner "Psalmensymphonie" je beabsichtigt haben mag.

Die Arbeit an der "Geräuschsymphonie" beginnt nicht auf dem Notenpapier, sondern mit der Sammlung von realen, in Schallplattenaufnahmen zugänglichen Klängen. Schaeffer weiß, daß solche Klänge im Rundfunk leicht zu beschaffen sind.

<I>Ich gehe ins Geräuschmacherarchiv des französischen Rundfunks. Dort finde ich Kinderklappern, Kokosnüsse, Hupen von Autos und Fahrrädern.

Ich stelle mir eine Tonleiter von Hupen vor<P>

Schaeffer war damals nahe daran, Musik mit Autohupen zu komponieren. Es kam nicht soweit. Immerhin ist Schaeffer schon damals auf eine Idee gekommen, die dann erst sehr viel später ein anderer experimenteller Radiokünstler realisieren sollte: Pierre Henry. Er, der kurz nach Schaeffers ersten Produktionen in sein Studio kam und dort mehrere Jahre lang intensiv mit Schaeffer zusammenarbeitete - er hat 1975 in einem großen Werk an markanter Stelle auch mit Hupen Musik gemacht: in der "Futuristie" - einer Huldigung an die musique concrète und an ihren wichtigsten Vorläufer, den Geräuschmusiker und Futuristen Luigi Russolo. In dieser "Hommage à Russolo" hat Henry zugleich eine alte Idee Schaeffers reaktiviert: Musik eines Hupenorchesters als Lautsprechermusik.

Schaeffer versorgt sich rasch mit mehr oder weniger ungewöhnlichen Klangerzeugern. An Material mangelte es nicht; schwieriger war die Frage, was für Radiostücke eigentlich mit diesem Material produziert werden sollten. Die Zweideutigkeit dieser Materialien prägte auch den Charakter der Aufnahmen, die man mit ihnen machte: Alltagsgegenstände in der Funktion unkonventioneller Musikinstrumente ergaben merkwürdige Zwitterformen zwischen Geräuschhörspiel und Musik.

<I>Entscheidend ist zunächst, daß den Forscher nicht nur die Unsicherheit, sondern auch die Zweideutigkeit seines Weges überrascht. Er versucht sich an allen Arten von Geräuschen. Nach Schrotkörnern und Windmaschinen, nach Drehkreuzen und Kasserollen bringt er andere, weniger unwürdige Klangkörper ins Studio: Röhren von unterschiedlichem Durchmesser, Holz- oder Metallblöcke, sogar Orgelpfeifen.<P>

Schaeffer kommt hier darauf zu sprechen, daß er sogar mit den Wrackteilen einer im Krieg zerbombten Orgel Musik zu machen versuchte.

Sein Klangmaterial war mannigfaltig genug. Schwer zu finden war allerdings eine klare ästhetische Konzeption, nach der mit derartigen Materialien komponiert werden konnte. Der Komponist, der im Grenzgebiet zwischen realistischen Geräuschen und musikalischen Klängen arbeiten muß, ist - wie Schaeffer ausdrücklich hervorhebt - in einer überaus schwierigen Lage.

<I>Er richtet sich ... in einer widersprüchlichen Welt ein,

sieht sich zwischen zwei Abgründen;

denn alle diese Gegenstände haben eine Seele,

die gleichermaßen natürlich und künstlich,

wild und zivilisiert, "crue et cuite" ist,

wie Lévi-Strauss sagt.

In der Tat ruft alles, jede Geräuscherzeugung,

die Assoziation eines realen Ereignisses herauf,

während noch der geringste Instrumentalklang

sich der Musik zuordnet.

Die Situation ... ist zum Verzweifeln.

Es geht nicht um "Geräuscheffekte";

denn es gibt keinen Text.

Aber wie steht es mit einem Radiomacher, der Geräusche ohne Text zu "komponieren" riskiert?<P>

Schaeffer glaubt selbst nicht daran, daß die Gerätschaften der Geräuschemacher, die er sich im Rundfunk besorgt hat, für sein Projekt letztlich geeignet sind. Dennoch nimmt er mit, was er bekommt. Sein Versuchsstudio beginnt sich zu füllen. Erste Einfälle für Geräuschstrukturen werden notiert.

<I>Über einen rhythmischen Orgelpunkt, der manchmal durch eine logarithmische Verlangsamung unterbrochen wird, werden Geräusche gelegt, die immer wiederkehren.

Eine Kadenz von reinen Geräuschen.

Dann eine Fuge von Differentialgeräuschen.

Abschließend mit einer Reihe von Anschlägen,

abwechselnd locker und dicht.

Das Ganze wie ein Andante behandeln.

Keine Angst vor Länge oder Langsamkeit.<P>

Schaeffer sucht nach Möglichkeiten, die Vielzahl der Geräusche zu systematisieren. Er wünscht sich ein Geräuschklavier oder eine Geräuschorgel. Diese Vorstellungen sind noch einigermaßen unbestimmt. Sie nehmen aber Möglichkeiten voraus, die erst seit den frühen fünfziger Jahren praktisch ausprobiert werden konnten - mit einem Gerät namens Phonogène,

auf dem man vorgegebene Klänge und Geräusche in verschiedene Tonlagen versetzen kann: gleichsam im Klavierspiel nicht nur mit normalen Tönen, sondern auch mit komplexeren Klängen oder Geräuschen.

1940 war an ein Geräuschklavier noch nicht zu denken. Schaeffer hatte lediglich einfachste Geräte zur Verfügung. Selbst Tonbandgeräte gab es damals noch nicht - er mußte mit Plattenspielern auskommen. Die Auswege, von denen Schaeffer damals träumte, waren unter den damaligen Voraussetzungen noch weitgehend utopisch.

<I>Ich bin ganz schön in Schwierigkeiten mit meinen Plattenspielern, wenn jeder nur einen Klang wiedergibt. Wie in einer prophetischen Kinoversion à la Hollywood sehe ich mich umgeben von zwölf Dutzend Plattenspielern, von denen jeder einen einzigen Klang wiedergibt. Das wäre dann, wie die Mathematiker sagen würden, das allgemeinste Musikinstrument, das man sich denken kann.<P>

Je mehr sich Schaeffers Notizen auf musikalische Überlegungen konzentrieren, desto weiter schießen sie über das hinaus, was damals, zur Anfangszeit der musique concrète, tatsächlich technisch realisierbar war. Erst eine Reduzierung der ursprünglichen, weit ausgreifenden Planungen, gibt schließlich den Weg für realisierbare Ergebnisse frei. Erste Ansätze für praktische, nicht allzu aufwendige Lösungen ergeben sich, als Schaeffer ergiebige Möglichkeiten der technischen Manipulation entdeckt.

<1>Beim Anschlag einer Glocke habe ich den Klang erst nach dem Einschwingvorgang aufgenommen. Wenn man dem aufgenommenen Glockenklang seinen Einschwingvorgang wegnimmt, dann wird aus ihm ein Oboenklang. Ich spitze die Ohren.<P>

Am Beispiel des Glockenklanges entdeckt Schaeffer den Effekt der Mikromontage, der für seine späteren Forschungen sehr wichtig werden sollte: wenn der vollständige Klang durch Schnitt zerstört wird, zum Beispiel durch Wegschneiden des Anfangs, dann kann ein qualitativ ganz anderer Klang daraus entstehen.

Mit der Entdeckung "amputierter Klänge" war Schaeffer erstmals auf die Idee gekommen, in die Mikrostruktur eines Klanges einzugreifen und dadurch die Klangstruktur vollkommen zu verändern. Die Bedeutung dieser Entdeckung sollte in der Folgezeit noch deutlicher werden - vor allem nach der Einführung des Tonbandes und des Bandschnittes in die Radiotechnik, wie sie am französischen Rundfunk Ende 1950 begann.

Eine andere Entdeckung Schaeffers ließ sich schon 1948??? leicht ausnutzen: die Entdeckung, daß für die Radiopraxis auch die rückläufige Wiedergabe der aufgenommenen Klänge von Nutzen sein kann. Schaeffer war der erste, der dies festgestellt und unverzüglich daraus praktische Konsequenzen gezogen hat. Auch die grundsätzliche Bedeutung dieses Phänomens und seiner kompositorischen Verwertung war ihm von Anfang an deutlich bewußt.

<I>Jedermann hat schon einmal einen aufgenommenen Klang rückwärts ablaufen lassen. Aber meines Wissens hat niemand diese Sache jemals verallgemeinert. Immerhin verdoppelt sich durch die Rückwärtswiedergabe die Anzahl der vorhandenen Instrumentalfarben zumindest a priori.

Die Musiker alle kümmern sich nicht darum; aber seit zwanzig Jahren schon kann man diese Erfahrung tagtäglich machen.<P>

Schaeffer läßt in diesen knappen Bemerkungen eine Fähigkeit erkennen, die ihn von vielen seiner Zeitgenossen unterscheidet:

Die Fähigkeit, sich über scheinbar Selbstverständliches zu wundern. Nicht zuletzt diese Fähigkeit hat Schaeffer zu einem der originellsten Pioniere der Radiokunst gemacht.

Je mehr sich Schaeffer vom ausufernden Plan einer Geräuschsymphonie distanziert, je mehr er sich auf begrenzte Einzelprojekte konzentriert, desto leichter fallen ihm weitere technische Entdeckungen zu. Sobald Schaeffer ein konkretes Einzelthema gefunden hatte, war der Weg zur ersten abgeschlossenen Produktion der musique concrète frei. Schaeffer entschied sich für ein "Konzert der Lokomotiven". Unverzüglich machte er sich an die Arbeit.

<I>3. Mai.

Jetzt bin ich unterwegs zum Bahnhof Batignolles - ausgerüstet mit einem Aufnahmewagen und mit zärtlichem Stolz auf meine falsche gute Idee.<P>

Schaeffer läßt sechs Lokomotiven auf dem Gare de Batignolles herumfahren. Er läßt die Lokomotivführer gleichsam improvisieren - der eine soll beginnen, die anderen sollen antworten. Lokomotiven funktionieren in diesen Versuch als Musikinstrumente - oder auch als Sänger, jeder mit einer anderen, ganz persönlichen Stimme. Schaeffer interessiert sich hier für akustische Erfahrungen, die noch heute Fans von Dampflokomotiven auf Demonstrationsschallplatten erfreuen.

Das Lokomotivkonzert, das Schaeffer sich vorgenommen hatte, begann sich zum radiofonen Hörbild zu entwickeln: zum Geräuschstück ohne Worte - Musik aus Geräuschen. Schaeffer wußte wohl, wie ehrgeizig sein Unterfangen war, aus Geräuschen eine auch musikalisch überzeugende Struktur zu entwickeln. Vor allem deswegen verfuhr er überaus gründlich und skrupulös. Auch die Außenaufnahmen für sein Lokomotivkonzert befriedigten ihn schließlich nicht; die Faszination, die ihn während der Aufnahme gepackt hatte, verflüchtigte sich später beim kritischen Abhören. Die Aufnahmen erschienen ihm rhythmisch allzu chaotisch - unbefriedigend also vor allem unter musikalischem Aspekt.

Schaeffer versuchte, neue Ideen für sein Stück zu entwickeln - Ideen, die nicht nur die musikalische, sondern auch die radiofone Qualität des Stückes verbessern sollten. Er wollte nun kein reines "Lokomotivkonzert" mehr produzieren, sonder einen komplexen "Hörfilm", der das Thema "Eisenbahn" aus verschiedenen Perspektiven beleuchtete. Man sollte beispielsweise nicht nur Lokomotiven hören, sondern auch die Geräusche rollender Eisenbahnwaggons.

Schaeffer wollte gleichsam mit verschiedenen Einstellungen eines akustischen Filmes arbeiten. Die Musik sollte nicht nur einen Außeneindruck vermitteln - als Musik der Lokomotiven, wie man sie auf dem Bahnhof hört, sondern auch einen Inneneindruck - aus dem Inneren des Zuges heraus, als Musik der rollenden Eisenbahnwaggons.

Im Geräuscharchiv des Rundfunks hatte Schaeffer verschiedene Schallplatten mit Waggongeräuschen entdeckt. Das brachte ihn auf die Idee, verschiedene Waggongeräusche in Schnitt und Montage zu kombinieren - im Wechsel verschiedener Waggongeräusche, und im größeren Zusammenhang des Stückes auch im Wechsel zwischen Waggons und Dampflok. Schaeffer berichtet von Versuchen, die Abfolge der verschiedenen Geräusche in einer Partitur zu ordnen. Diese Versuche können ... [Satz unleserlich.]

<I>Ich habe eine Partitur komponiert.

Acht Takte Anfahren.

Accelerando für eine Lokomotive solo,

dann Tutti der Waggons.

Rhythmen.

Es gibt sehr schöne darunter.

Ich habe eine bestimmte Anzahl von Leitmotiven isoliert,

die nacheinander oder kontrapunktisch montiert werden müßten.

Dann Verlangsamung und Anhalten.

Kadenz der Kolbenstöße.

Da capo und Reprise der vorigen Elemente,

heftiger als zuvor.<P>

Diese Beschreibung wimmelt vor musikalischen Ausdrücken: es gibt "Takte", "Accelerando", "Solo" und "Tutti", Leitmotive, Kontrapunkte und eine Reprise. Die Musik, die hier entsteht, arbeitet jedoch ausschließlich mit. Klängen, die zuvor in der Musik tabu waren. Die Partitur ist nicht mit Noten komponiert, sondern mit Schallplattenfragmenten.

Wie Schaeffer bei der Komposition vorging, kann man auch heute noch weitgehend rekonstruieren, indem man die Prozeduren, die er in seinem Tagebuch beschrieben hat, mit den heutigen technischen Möglichkeiten "nachstellt".

Als musikalische Elemente, die ähnliche Bedeutung haben wie in der traditionelle Musik die Töne, erscheinen in Schaeffers Stück kurze Ausschnitte aus Geräuschaufnahmen mit rollenden Waggons. Durch einen technischen Trick ließen sich solche kleinen Geräuschfragmente mehrmals hintereinander abspielen: es war der Trick der "geschlossenen Schallplattenrille": ein bestimmtes kurzes Fragment wiederholt sich ständig, die Schallplatte transportiert die Nadel nicht weiter, sondern kommt immer wieder auf denselben Anfangspunkt zurück.

Im gesamten Stück werden diese mehr musikalischen Ordnungen an anderer Stelle wirksam durch eher hörspielartige Effekte ergänzt. Man hört beispielsweise gleich zu Beginn des Stückes wie der Zug anfährt. Später führt Schaeffer dann noch eine charakteristische technische Veränderung ein: die Zeitlupe. Der Anfang des Stückes wird später noch einmal aufgegriffen, diesmal aber in verlangsamter Wiedergabe. Er klingt tiefer und zugleich langsamer, er ist durch totale Transposition verfremdet.

Das gesamte Stück entwickelt sich aus dem Wechselspiel dramatischer und musikalischer Elemente, natürlicher und technisch verfremdeter Geräusche: als akustischer Film, der sinnlich Wahrgenommenes aus dem Bereich der alltäglichen Hörerfahrung nicht einfach bloß akustisch abfotografieren (bzw. abfilmen), sondern auch produktiv umgestalten will. Die "Etude aux chemins de fer", die Eisenbahnetüde, ist die erste Produktion der musique concrète, die im Jahre 1948 abgeschlossen wurde. Sie ist bis heute eines der frischesten und lebendigsten Beispiele dieser Musik geblieben. Mit diesem Stück war die musique concrète geboren.

Der Etüde aus rohen Alltagsgeräuschen folgte ein diametral entgegengesetzter Versuch: eine Etüde der musique concrète, die Ausgangsmaterial aus dem Bereich der traditionellen Musik nach ihren Methoden verarbeitet. Jean Jacques Grunenwald, ein renommierter Hörspielmusiker aus Schaeffers Versuchsstudio, improvisiert bei einem Aufnahmetermin in der Reaktion auf technisch verfremdete Musikeinspielungen, die Schaeffer ihm über Lautsprecher anbietet. Das Ergebnis, die "Etude pour piano et orchestre" und das "Concerto diapason", bleibt allerdings in diesem ersten Versuch noch einigermaßen disparat.

Dem ersten Versuch, dem Zusammenschnitt aus halb improvisatorischen Aufnahmeergebnissen, folgte ein gründlich geplanter. Diesmal arbeitete Schaeffer mit Pierre Boulez zusammen und bat ihn, eine gegebene Melodie - sie stammte von dem Musiker Gurdijeff - in verschiedenen Stilen zu harmonisieren. So entstand aus Klavieraufnahmen abgeleitete musique concrète, Musik, in der erstmals auch die Rückwärtswiedergabe kompositorisch genutzt wurde.

Wohl die gelungenste Produktion der frühen musique concrète ist ein Stück, das 1948 als letzte Produktion in einer Reihe von Etüden entstand, und das gleichzeitig viel rascher produziert wurde als alle übrigen. Schaeffer kam hier auf die Idee, verschiedene Klangmaterialien, die auch als geschlossene Rillen zu hören waren, durch Mischung miteinander zu verbinden. So entstand ein vielschichtiges Radiostück, in dem sich Umweltgeräusche, Sprachaufnahmen und Fragmente aufgenommener Musik miteinander verbinden:

Aus verschiedenen Schallplatten, die sich mehr oder weniger zufällig in seinem Studio zusammengefunden hatten, hat Schaeffer hier durch Schnitt, Montage und Mischung ein klanglich reiches, assoziativ buntes Musikstück geschaffen - eines der geglücktesten Beispiele für die Verschmelzung von Alltagsgeräusch, Sprache und Musik, für die Verschmelzung der Musik im bisherigen Sinne mit dem Hörspiel, als vielschichtiges Radiostück. Mit der " Etude pathétique" hatte die Entwicklung der musique concrète ihren ersten Höhepunkt erreicht. Damit gelang erstmals eine vollkommen neuartige Verschmelzung der drei grundlegenden Dimensionen der Radiopraxis: Stimme, Umweltgeräusch und Musik. In dieser Verbindung konnte Schaeffer Geräusche und Musikfragmente gleichsam "zum Sprechen bringen". Andererseits ließen sich die Stimmlaute nicht nur als sprachliche Mitteilung verstehen, sondern ebenso sehr auch als musikalische Klänge - oder auch als atmosphärisch einfärbende Hörspielgeräusche. Hier hört man, daß eine Stimme sich auch dann mitteilen kann, wenn sie keine verständlichen Worte ausspricht: man hört wortlose Musik mit Stimmen, Geräuschen und Musikfragmenten, die sich gegenseitig ergänzen, oft in verwandten Rhythmen. Die Grenzen zwischen den verschiedenen radiofonen Dimensionen verwischen sich; der Hörer wird eingeführt in eine alles umfassende Klangwelt des Radiostückes.

Nach der Vollendung der "Etude pathétique" trat eine längere Zäsur in der Entwicklung der musique concrète ein, denn Schaeffer hatte über ein Jahr lang keine Gelegenheit im Studio zu arbeiten - er mußte an internationalen Konferenzen zur Aufteilung der Rundfunkfrequenzen teilnehmen. Als Schaeffer im August 1949 aus Amerika wieder nach Paris zurückkehrte, brachte er immerhin ein Instrument mit, das ihn zu einer neuen Produktion der musique concrète inspirieren sollte: eine mexikanische Flöte.

Die "Variations sur une flûte mexicaine" sind nicht nur Variationen im traditionellen Sinne, denen ein auf der Flöte gespieltes Thema zugrundeliegt, sie sind auch Variationen über Klänge eines bestimmten exotischen Instrumentes - also Variationen, die, ganz im Sinne der musique concrète, nicht von gedanklichen Vorstellungen ausgehen, sondern von einem konkret vorgefundenen Klangmaterial, das sich zur technischen Verarbeitung im Studio eignet.

Das Ausgangsmaterial des Stückes ist relativ einfach: es handelt sich um eine kurze Phrase, die auf der mexikanischen Flöte gespielt wird und insofern einem klassischen Variationsthema vergleichbar ist. Allerdings ist die Flötenphrase viel kürzer als ein klassisches Thema, so daß die Variationen um so drastischer auch in die technische Veränderung hineinreichend ausfallen müssen, wenn die Musik vor Monotonie bewahrt bleiben soll.

Sowohl das "Thema", als auch die "Variationen" sind direkt im Studio aufgenommen. Das Stück geht nicht davon aus, daß Einfälle in Noten aufgeschrieben werden, sondern daß ein bestimmtes Klangmaterial im Studio aufgenommen und technisch verarbeitet wird. Wie Schaeffer dabei vorgegangen ist, hat Monique Rollin, seine Assistentin, wenig später in einer Rundfunkanalyse erläutert, die Schaeffers Arbeitsaufzeichnungen auswertet. Aus diesen Informationen geht hervor, wie Schaeffer verschiedene musikalische Fragmente nicht nur aneinandergereiht, sondern auch überlagert hat. Mehrstimmige, mehrschichtige Musik entsteht hier aus winzigen einstimmigen Melodiezellen - gleichsam in einem klanglich manipulierenden Playbackverfahren.

Aus Aufnahmen mit einer mexikanischen Flöte entsteht technisch produzierte Klangfarbenmusik, der die originale Instrumentalfarbe durch technische Veränderung vielfältig abgewandelt wird. Dennoch bleibt das Ausgangsmaterial so deutlich erkennbar, daß das Stück sich auch aus einer anderen Perspektive begreifen läßt - als Grenzfall eines Hörspiels: dieses Stück präsentiert sich auch als Ausarbeitung einer winzigen Folkloreimpression, als ein akustischer Film, der aus der einfallsreichen Ausarbeitung einer winzigen Ausgangsszene entsteht.

Natürlich bekam Schaeffer auf seinen Auslandsreisen auch Kontakt zu Radioanstalten anderer europäischer Länder. Das hat sich auch in seiner musique concrète niedergeschlagen.

Eine Produktion, die Schaeffer im Jahre 1950 realisierte, verarbeitet das Pausenzeichen des italienischen Rundfunks. Dieses Pausenzeichen wiederum war ideales Ausgangsmaterial für konkrete Musik - nämlich ein Vogelruf. Schaeffer arbeitete also mit mehrdeutigem Material: mit radiofonen Klängen, die zugleich "Musik mit Stimmen", Vogelmusik waren. Aus dem Vogelmotiv entwickelt sich konkrete Musik nach einfachen Grundsätzen: durch Veränderungen der Wiedergabegeschwindigkeit entstehen gleichsam Zeitraffer- und Zeitlupeneffekte. Die Vogelfiguren werden auch rückwärts wiedergegeben. Diese Techniken verbinden sich mit anderen Verfahren z.B. Verhallungen; es entsteht gleichsam ein akustischer Trickfilm aus Vogelmusik.

Die meisten Produktionen der frühen musique concrète waren kurze Studien, die sich in relativ kurzer Zeit herstellen ließen. Solche Stücke konnten auch dann realisiert werden, wenn Schaeffer nur relativ wenig Studiozeit zur Verfügung stand oder er wegen auswärtiger Verpflichtungen immer wieder aus der Studioarbeit herausgerissen wurde. Schaeffer fand Gefallen an seinen kurzen Studien; dennoch kam er immer wieder auf seine ursprünglichen Pläne zurück, die eigentlich auf eine größere Produktion gezielt hatten.

Die Arbeit an der musique concrète hatte ja mit der Absicht begonnen, eine Geräuschsymphonie zu komponieren Im Jahre 1948 waren dann jedoch zunächst nur kleinere Projekte fertig geworden, mehrere kurze Geräuschetüden, die dann schließlich in mehr oder weniger lockerer Folge zu einem "Geräuschkonzert" zusammengestellt wurden. Die letzte Etüde dieser Reihe, mit der Schaeffer auch am zufriedensten war, hatte neue Wege aufgezeigt: konkrete Klangmaterialien ließen sich - mit Schnitten und Mischungen - so komponieren, daß Ansätze einer neuen musikalischen Produktionsweise erkennbar wurden.

1949, nach über einjähriger Produktionspause, kam Schaeffer mit der Absicht zurück, nun ein längeres Stück zu machen, das genau den umgekehrten kompositorischen Weg verfolgte: er wollte jetzt versuchen, ob man, statt konkreter Musik im Wortsinn zu "komponieren", - vielleicht auch traditionell komponierte Musik in konkrete Musik verwandeln könnte. Mit anderen Worten: Schaeffer wollte selbst eine Partitur schreiben und nach dieser im Studio Musik aufnehmen lassen. Die eigentliche Komposition aber sollte erst danach beginnen: aufgenommene Materialien sollten nach den Techniken der musique concrète zerlegt, umgeformt und in neue Zusammenhänge eingefügt werden.

Pierre Schaeffer und Pierre Henry

Die "Symphonie pour un homme seul" die in den Jahren 1949 und 1950 entstand, ist eine der wichtigsten Radioproduktionen dieses Jahrhunderts. Dieses Stück ist ein Musterbeispiel konsequenter radiofoner Praxis - einer Praxis jenseits herkömmlicher Abgrenzungen zwischen Musik und Sprache, zwischen Programmusik und Hörspiel. Auch die traditionelle Rollentrennung zwischen Künstler und Techniker wird in der "Symphonie pour un homme seul" nachdrücklich in Frage gestellt: Schaeffer, der gelernte Radiotechniker, entschließt sich hier zur Kooperation mit einem professionellen Komponisten: Pierre Henry, einem Absolventen der Kompositionsklasse von Olivier Messiaen; eine Musiker, der auch als unorthodoxer Solist präpariertes Klavier und Schlagzeug spielte.

Schaeffer und Henry schufen mit ihrer "Symphonie" ein Gemeinschaftswerk im wahrsten Sinne des Wortes: Die Klänge dieses Stückes wurden von beiden gemeinsam realisiert: von Henry, dem Klangexperimentator, im Aufnahmeraum, und von Schaeffer, der die Klänge in der Regiekabine technisch manipulierte.

Henry war 1949 zu Schaeffer ins Studio gekommen, um ihm eine experimentelle Filmmusik vorzuführen: "Voir l'Invisible". Henry hat später über diese Begegnung berichtet, daß Schaeffer ihm gleich bei der ersten Begegnung Möglichkeiten zeigte, die Schallplattenaufnahme seiner Filmmusik klanglich zu verändern - insbesondere durch Wiedergabe in anderen Geschwindigkeiten, durch Zeitlupe und Zeitraffer. Der Kontakt zwischen Henry und Schaeffer entwickelte sich besser als die nur vorübergehenden Beziehungen, die Schaeffer zuvor mit Berufsmusikern angeknüpft hatte. Henry war der erste professionelle Komponist, der aus dem Kontakt mit Schaeffers Studioarbeit die radikalsten kompositorischen Konsequenzen zog: er hat sich seitdem definitiv der Lautsprechermusik zugewandt und nie wieder traditionell notierbare Musik komponiert.

In den ersten Jahren war Henry vor allem im Bereich der experimentellen Klangproduktion tätig. Wenn er hierbei mit Schaeffer zusammenarbeitete, so konnte dies die Produktionstechnik wesentlich erleichtern, vor allem dadurch, daß Schaeffer bestimmte Klänge nicht nur aufnahm, sondern zugleich auch schon während des Aufnahmeprozesses technisch manipulierte. Da Schaeffer und Henry sich in den ersten Jahren auch in ihren ästhetischen Auffassungen weitgehend einig waren, entwickelte sich rasch eine intensive Zusammenarbeit, die sich am deutlichsten in gemeinsam realisierten Werken dokumentierte.

Erstes Ergebnis der gemeinsamen Studioarbeit war eine kurze Etüde: "Bidule en ut" ("Ding in C"), ein kleines, effektvolles Stück für präpariertes und technisch manipuliertes Klavier - eine Musik übrigens, die Schaeffer damals auch seinen Radiohörern durchaus leger und humorvoll präsentierte, als er einmal seine erkrankte Schülerin Monique Rollin im Radio vertrat. Im lockeren Gespräch mit einer jungen Dame mußte er erst einmal klarstellen, daß diese merkwürdige Bezeichnung tatsächlich ein Werktitel ist. Um so leichter fiel es Schaeffer, bei der Präsentation auf lange technische Erklärungen zu verzichten.

In "Bidule en ut" hört man Klänge des präparierten Klaviers auf verschiedenen Stufen: zunächst in mehreren Einsätzen, bei denen das Thema in zunehmend stärkerer Zeitraffertechnik immer höher, rascher und brillanter wird, dann in einem Zeitlupeneinsatz schließt. Das Stück entwickelt sich wie eine Fuge ohne Begleitstimmen: das Thema wandert nach und nach durch verschiedene Tonräume. Dabei ändert sich jedesmal seine Geschwindigkeit und seine Klangfarbe. Mit einem effektvollen Schlußpunkt endet das Stück.

"Bidule en ut" war eine Vorstudie zum ersten großen Gemeinschaftswerk von Schaeffer und Henry, zur "Symphonie pour un homme seul". Sie ist wohl eines der gelungensten Beispiele für die Erneuerung von Musik und Hörspiel im Geist der Radiofonie und stellt die erste Großform der musique concrète dar. Produziert in den Jahren 1949 und 1950 handelt es sich um eine Sinfonie der Klänge und Geräusche, die der Mensch allein hervorbringen kann: mit seinem Körper, seiner Stimme, mit Instrumenten und schließlich, last not least, mit technischen Manipulationen aller aufgenommenen Klänge.

Der Titel ist doppeldeutig: einerseits bezeichnet er eine Instrumentenangabe. Das klangliche Ausgangsmaterial ist vom Menschen hervorgebrachter Klang: Herzschlag, Schritte, Atem, Lachen, Worte, Melodien, die er summt oder pfeift, Musik der Instrumente, auf denen er spielt. Andererseits kann das Wort "seul" aber auch auf Einsamkeit verweisen: diese Musik ist auch zu verstehen als Sinfonie für einen <I>einsamen<P> Menschen, als gleichsam experimentelle Programmusik.

Die "Symphonie pour un homme seul" bedeutete für Schaeffer gleichsam die Rückkehr von der Welt der Musik (im engeren Sinne) zur Welt der Geräusche. Seine Vorstellung hatte sich inzwischen präzisiert: "organische" Geräusche sollten das Ausgangsmaterial der Sinfonie bilden, Geräusche, die ein einzelner Mensch hervorbringen kann. Erste Ideen werden notiert, die sich später teilweise tatsächlich im Stück wiederfinden.

<I>Der einsame Mensch

sollte seine Sinfonie in sich selbst finden -

und zwar nicht allein dadurch,

daß er die Musik abstrakt entwarf,

sondern dadurch,

daß er sein eigenes Musikinstrument war.

Ein einziger Mensch besitzt viel mehr als die zwölf Töne, die eine in unserer Musiklehre geschulte Stimme kennt.

Er schreit, er pfeift, er schlägt mit der Faust, er lacht, er stöhnt.

Sein Herz schlägt, sein Atem beschleunigt sich, er spricht Wörter aus, er ruft, und andere Rufe antworten ihm.

Nichts gibt ein besseres Echo auf den Schrei eines Einsamen als das Geschrei der Massen.<P>

Offensichtlich nähert sich Schaeffer mit solchen Entwürfen wieder der Domäne des Hörspiels. Wieder schwankte er zwischen dessen Anforderungen und den musikalischen Ansprüchen, die er an sich stellte.

<I>Es ist wahrscheinlich, daß ich ohne eine gewisse Erfahrung im Bereich der musique concrète die "Symphonie" im Geiste der Poesie oder des Hörspiels komponiert hätte. Die mehr oder weniger üppige Ausstattung mit Geräuschen hätte aber in diesem Falle diesem Werk immer noch keinen Zugang zum musikalischen Ausdruck eröffnet. In Wirklichkeit zögerte ich aber durchaus zwischen beiden Erscheinungsformen, wie es die Notizen bezeugen, mit denen ich damals ein Projekt skizzierte.

Das Ausschwärmen in den poetischen Bereich ergab sich dann, wenn zum Text zurückgekehrt wurde - explizit oder implizit.

Das Drama ergab sich aus der Suggestivität - und zwar selbst dann, wenn der Text fehlte.<P>

Ein erster Entwurf ist weitgehend als Geräuschhörspiel angelegt: Nur wenige gliedernde und deutende Texte kommen hinzu. Der letzte dieser Texte versucht eine Deutung des gesamten Stückes:

<I>So endet die "Symphonie pour un homme seul"; sie ist aus den Geräuschen gemacht, die der Mensch selbst hervorbringen kann: ohne irgend ein Hilfsmittel, mit nichts in den Händen, nichts in den Taschen - so wie wir am Ende unseres Lebens sein werden, wenn wir allein werden spielen müssen, ohne irgend ein helfendes Gerät, selbst ohne Mikrofon. Amen.<P>

Damit war eine "Symphonie de bruits humains" skizziert, eine "Sinfonie der menschlichen Geräusche. Die offen hörspielartigen Elemente wurden jedoch im Verlauf der weiteren Arbeit mehr und mehr reduziert. Auch die Beschränkung auf Geräusche des Menschen wurde aufgegeben. In einer Sendung aus dem Jahre 1951 hat Schaeffer das endgültige Konzept erläutert:

<I>Sinfonie für einen einsamen Menschen - dieser Titel ist in sich widersprüchlich; denn es handelt sich um die Einsamkeit eines Menschen, der von der Vielfalt der Klänge umgeben ist. ... Grundsätzlich ist er allein, damit er sein eigenes Musikinstrument sein kann. Der Rahmen der ersten Ideen wurde erweitert. Die Autoren haben andere Klänge als "Antworten" hinzugefügt; den Klang der Masse ... rhythmisch verwandte Klänge aller Art, rhythmische Muster und auch Klänge bestimmter Musikinstrumente.<P>

Das fertige Werk existiert in mehreren Fassungen. Bereits die zweite Version, die 1951 in einer kommentierten Radiosendung verbreitet wurde, ist wesentlich kürzer als die erste; das ursprünglich 45minütige Werk ist hier auf 22 Minuten verkürzt. Noch radikaler kürzt eine Schallplattenfassung, die Henry wesentlich später, nämlich 1966, realisierte. Die vielen verschiedenen Versionen der "Symphonie", ebenso wie die unterschiedlichen Fassungen anderer konkreter Musikstücke aus jener Zeit, legen Zeugnis davon ab, daß hier völliges Neuland betreten wurde und durchaus unterschiedliche kompositorische Lösungen denkbar schienen. Schaeffer nahm dies jedoch in Kauf;

die experimentelle Erfahrung war ihm auch hohe Risiken wert.

<I> Ich stammelte eine Sprache, die unbekannt war, oder die, schlimmer noch, vielleicht gar nicht existiert; ... ich hatte meine Einheit der Zeit und des Ortes gefunden, ohne sie gesucht zu haben: der Ort, das war die ganze Welt, die Zeit, das war die Gegenwart.<P>

Die "Symphonie" ist eines der Schlüsselwerke der gesamten Radiokunst. Es gibt kaum eine andere Produktion, die so radikal mit allen vorgegebenen Ordnungen der Sprache und der Musik bricht, und die gleichzeitig so direkt verständlich ist, weil sie den Hörer unseres Jahrhunderts unmittelbar in seinem Erfahrungsbereich anspricht, mit Klängen, in denen sich Hörerfahrungen des technischen Zeitalters widerspiegeln. So viele musikalische Ordnungen man in dieser Musik auch immer entdecken mag: es bleiben immer wieder Bedeutungszusammenhänge erhalten, die über die Musik weit hinausreichen. Der expressive Reichtum dieses Radiostückes hätte sich nach Schaeffers Worten aus der Musik allein nicht ergeben können:

<I>Er ergab sich aus der Erweiterung jener dramatischen Kunst für Blinde, des Hörspiels nämlich, die ebenfalls im Rundfunk entstanden war. Denn in der Tat ist die "Symphonie pour un homme seul" eine Oper für Blinde, eine Handlung ohne Inhaltsangabe, eine Dichtung aus Geräuschen und Klängen, aus Splittern von Texten und Musik.<P>

Schaeffer hat klar herausgestellt, woraus sich diese Musik entwickelt hat: aus der Radiopraxis. In der Abgeschiedenheit des Studios entstanden versteht sie sich zugleich als Musik für die "einsame Masse" des Industriezeitalters.

<I>Die Bezeichnung "homme seul" hat ihre Berechtigung sowohl vom Rückgriff auf das vom Menschen imitierte Geräusch als einziger Quelle, wie von der Einsamkeit der Autoren her, die ein Widerhall der Einsamkeit des heutigen Menschen ist, der sich in der Masse verloren sieht."<P>

Zwei im Studio isolierte Menschen, Pierre Schaeffer und Pierre Henry, schaffen Musik für einen am Lautsprecher isolierten Hörer. Ihre Musik ist das Dokument einer Isolation, die dennoch Ansätze zur Kommunikation erkennen läßt: Henry, der die experimentellen Klänge im Aufnahmeraum produziert, und Schaeffer, der die Klänge in der Regiekabine technisch verarbeitet: beide arbeiten isoliert, aber dennoch in engster Kooperation, so kann eine der gelungensten Gemeinschaftsproduktionen der Musikgeschichte entstehen.

Im Rückblick, in einer Monografie über Geschichte und Theorie der musique concrète hat Schaeffer nochmals die kalkulierte Ambivalenz der frühen musique concrète betont, deren Produktionen in der "Symphonie pour un homme seul" kulminieren:

<I>Wenn diese Werke trotz der Unzulänglichkeiten ihrer Technik auch nach mehr als zwanzig Jahren lebendig geblieben sind, so deshalb, weil sie noch immer den spontanen Elan der Entdeckung ... an sich haben.<P>

Die verschiedenen Sätze der "Symphonie" haben nichts mit traditionellen sinfonischen Formen gemein. Sie präsentieren vielmehr ein kompliziertes, durch verschiedene Leitmotive verknüpftes Geflecht von Geräuschen und Instrumentalklängen, ähnlich wie verschiedene Sequenzen eines akustischen Films.

<I>Die von menschlichem Leben wimmelnde Welt, wo Stimmen, absichtlich durcheinandergewirbelt, einen Tanz vollführen ... , wo der Atem dem Lachen gegenübergestellt wird, und der Mann der Frau.

Apostroph, wo das Wort "absolut", ein aus dem Undeutlichen herausgehobener Augenblick, sich verflüchtigt und wieder in die Klangmasse eingeht ... ,

Intermezzo mit geheimnisvollem Eigenleben der Worte ... ,

Stretta, die das Werk schrill und wie von Jubel gesättigt, beendet.<P>

Die "Symphonie pour un homme seul" ist ein glücklicher Grenzfall in der Radiogeschichte, eine der gelungensten radiofonen Gemeinschaftsarbeiten. Schaeffer und Henry finden hier zu einer gemeinsamen Konzeption, in der die professionellen Anteile des Radiomachers und des Komponisten sich auf das Glücklichste miteinander verbinden.

Das zweite große Gemeinschaftswerk von Henry und Schaeffer war noch umfassender und ehrgeiziger angelegt, als die vorausgegangene "Symphonie". Als Nachfolgewerk der "Sinfonie des technischen Zeitalters" sollte nun eine Oper mit technisch produzierten Klängen entstehen. Das sujet beschwor ein Thema, das in der Operngeschichte eine zentrale Rolle gespielt hat und das darüber hinaus damals auch im Medium des künstlerischen Films berühmt geworden war: Orphée, die Orpheussage. Die Adaption dieses Stoffes für Zwecke der musique concrète war überaus mühsam. In mehreren Jahren entstanden verschiedene Versionen. Am bekanntesten wurde eine Fassung, die 1953 auf den Donaueschinger Musiktagen aus der Taufe gehoben wurde: "Orphée '53". Dieses Stück provozierte einen spektakulären Skandal, und dies nicht zuletzt deswegen, weil hier die Intentionen der beiden Autoren auseinanderzulaufen begannen. Das Projekt der konkreten Oper verstand Schaeffer hauptsächlich als Versuch, auch traditionelle musikalische Elemente in die musique concrète zu integrieren. Für ihn lag die Betonung auf dem Wort Oper: Belcantogesang sollte sich nach seiner Vorstellung verbinden mit rezitierten Texten, mit instrumentalen und konkreten Klängen. Daraus ergaben sich bei der Ausführung eigentümliche Zwitterformen zwischen traditioneller und Neuer Musik, die beim Publikum schließlich heftigen Widerspruch provozierten - und deren Vorführung just in Donaueschingen die Kritiker womöglich noch mehr erboste als das Publikum.

Henry verfolgte andere Interessen als Schaeffer: ihn interessierte gerade in einer Quasi-Oper mit Lautsprecherklängen nicht die traditionelle Rückversicherung, sondern die spektakuläre klangliche Radikalität. Für ihn lag der Akzent auf dem Wort "konkret". Henrys konkrete Schlußmusik zu "Orphée '53" schockierte das Publikum der Uraufführung zutiefst. Heftige Geräuschkaskaden aus dem Lautsprecher provozierten einen spektakulären Skandal. Das Publikum, welches der Aufführung bis dahin noch einigermaßen zurückhaltend gefolgt war, wurde zusehends unruhiger. Henry steuerte um so lauter aus und trieb damit sein Publikum in Scharen aus dem Saal. Die Donaueschinger Aufführung von "Orphée '53" endete in einem Debakel, das der musique concrète auch in der Folgezeit noch nachhaltig schaden sollte. Für Schaeffer war der Mißerfolg um so bitterer, weil er im Lande des einstigen Kriegsgegners stattfand und er die französische musique concrète gegenüber der jüngeren elektronischen Musik Westdeutschlands weit zurückwerfen sollte. Noch 1967, im halb ironischen Rückblick, verglich Schaeffer sein Scheitern mit einer napoleonischen Niederlage, für die womöglich Heinrich Strobel verantwortlich war, der damalige Musikchef des Südwestfunks.

<I>Die "Schlacht von Donaueschingen" im Jahr 1953 wurde zu einer Art Waterloo der musique concrète. Die Deutschen triumphierten ... Heinrich Strobel hatte uns möglicherweise eine Falle gestellt, als er uns aufs offene Feld lockte.<P>

Auch Schaeffers Bericht von der Aufführung selbst ist geprägt von der für ihn typischen Mischung von Selbstironie, Sentimentalität und Bitterkeit:

<I>Das entschieden barocke Werk ließ eine charmante Haitianerin (Eurydike) in einer Begräbnisdekoration zu den konkretesten Klängen tanzen; Philippe Arthuys, Träger venezianischer Obelisken, brachte, von elektronischem Gluckern begleitet, vor der Aschenurne ein Trankopfer dar, während Geigen nach reinster Zigeunermanier Krokodilstränen in die Kulissen vergossen. Das war zuviel für unsere Deutschen, die zunehmend entrüstet reagierten, aber mehr einiger herzhaft tonaler Modulationen als unserer konkreten Exzesse wegen. Der Wirbel war schon ganz schön im Gange, als das Finale hereinbrach: Le Voile d'Orphée. Dieses Stück, ein Hauptwerk von Henry, bleibt ohne Zweifel eine der nobelsten, rühmenswertesten Kühnheiten jener Zeit. Das änderte freilich nichts daran, daß es einen immer unausstehlicher werdenden Lärm zu übertönen hatte, was unseren Reglern bis zum Schluß gelang: wieviele Dezibel sind an diesem Tag vergeudet worden!

Die Schlacht endete aus Mangel an Kämpfern. Im Saal blieb am Schluß nur eine zurückhaltende und uns gewogene Mannschaft übrig: die französische Besatzungsarmee, die uns gratulierte.<P>

Erst nach längerer Zeit sollte sich die musique concrète, gleichsam auf Umwegen, von den Folge des Donaueschinger Skandals befreien: die "Symphonie pour un homme seul" und "Orphée" wurden von Henry später als Ballettmusiken für Maurice Bejart eingerichtet. Seit 1955 begann damit eine Entwicklung der musique concrète, die auch über den Bereich des Radiostücks hinausführen sollte. Trotzdem blieb "Orphée" ein merkwürdiger Grenzfall der musique concrète - janusköpfige Radiokunst zwischen Oper und Experimentalstück, Hörspiel und Lautsprechermusik, Vergangenheit und Zukunft.

Der Orpheusmythos, der berühmteste, immer wieder vertonte Stoff der Operngeschichte, war durch Jean Cocteau bereits für den Film adaptiert worden. Schaeffer, der sich in seinen Notizen ausdrücklich auf Cocteau bezieht, wollte wahrscheinlich dieses Thema deswegen als konkrete Oper ausarbeiten, weil ihm an einer traditionell-musikalischen Absicherung der musique concrète lag. Die Erfahrungen in diesem musikalischen Bereich waren inzwischen so vielfältig geworden, daß sie kaum noch überschaubar waren und sich die Idee einer thematisch gebündelten Zusammenfassung anbot.

Die konkreten Erfahrungen in der Studiopraxis hatten sich in den vorangegangenen Jahren beträchtlich erweitert, um so stärker traten damit aber auch schon im ersten Planungsstadium die Schwierigkeiten hervor, mit denen zu rechnen war.

<I>Wir wollen ein Werk machen, welches Ziel wollen wir damit verfolgen? Wollen wir uns anfangs mit irgendwelchen Materialien versehen und dann dem Instinkt überlassen? Was die Partitur angeht - mit welchen Mitteln wollen wir sie fixieren? Wie soll man sich a priori die tausend unvorhersehbaren Veränderungen des konkreten Klangs vorstellen? Wie soll man wählen unter Hunderten von Klangmustern, solange noch keine Klassifikation, noch keine Idee fixiert ist?<P>

Für die Produktion standen nur wenige Monate zur Verfügung, da die Uraufführung bereits im August 1951 angesetzt war. Schon aus zeitökonomischen Gründen stellte sich deswegen die Frage, ob man auch bereits vorhandenes Klangmaterial in das Stück einbeziehen könne. Allerdings war nach wie vor nicht allgemeingültig geklärt, nach welchen Gesetzen konkrete Klangmaterialien "komponiert" werden konnten. Es erschien zunächst weitgehend unsicher, wie sie sich als Elemente einer neuen Musiksprache würden verwenden lassen. Schaeffer zweifelte sogar daran, ob dies überhaupt möglich sei.

<I>Sind die Klangelemente, die wir entdeckt haben, nun Worte, die die Grundlage von Sätzen bilden können?<P>

Der knapp angesetzte Termin der Uraufführung läßt jedoch wenig Zeit für grundsätzliche Überlegungen. Schaeffer, der auch jetzt wieder auf die Zusammenarbeit mit Henry rechnen kann, entscheidet sich deswegen für ein pragmatisches Vorgehen: er beginnt nicht, wie bei der Sinfonie, mit einem Szenario, sondern zunächst mit einer Prüfung des vorhandenen Klangmaterials, mit der Suche nach bereits produzierten Klängen, die ihm für das neue Projekt als geeignet erscheinen. Die Schwierigkeiten des Projektes ergaben sich daraus, daß einerseits die bisherigen Studioerfahrungen gründlich ausgewertet werden sollten, andererseits aber auch Verbindungslinien zu traditionellen Aufführungsformen der szenischen Darstellung und der Oper gezogen werden sollten.

Die Schwierigkeiten, hier eine überzeugende stilistische Konzeption zu finden, waren nur in dem Falle zu umgehen, daß man bestimmte "Nummern" allein mit Lautsprecherwiedergaben versah. So setzt beispielsweise der von Henry komponierte "Prologue" als überzeugende Synthese traditioneller Opernouvertüre und konkretem Musikstück ein, ohne traditionalistische Konzessionen oder stilistische Widersprüche.

Schwieriger wurde es im weiteren Verlauf der Oper, wenn Schaeffer die konkreten Klänge mit Gesang verbinden sollte. Er war sich über die Problematik seines Unterfangens durchaus im Klaren:

<I>Wie soll ich Orpheus singen lassen, wo es hier doch weder Partitur noch Orchester gibt? Ich komme auf diesen Kompromiß zurück, nach dem sich - einer naiven Voraussetzung entsprechend - zwei Dinge überlagern: der Belcantogesang - warum denn nicht - und zerhackte sinfonische Fragmente.<P>

Eine weitere Konsequenz lag nahe: der singende Orpheus brauchte einen Text. Der Moment war gekommen, ein Opernlibretto in Angriff zu nehmen. Schon die erste Arie mit der Orpheus auftritt, hat einen weitgehend konventionellen Operntext. Schaeffer hat ihn verfaßt: er läßt Orpheus die Götter anflehen. Sie sollen ihm Eurydike zurückgeben: "Rendez-moi, justes dieux, Eurydice, Eurydice, que j'ai perdue."

Maria Ferès, welche die Titelrolle in der Uraufführung sang, war seinerzeit als Opernsängerin in Paris bekannt. Schaeffer hatte sie in der Kontraaltrolle des Orpheus von Gluck gesehen, und dies hatte ihn auf die ersten Ideen zu seinem Orpheusprojekt gebracht.

<I>Dem Kontraalt Orpheus muß ich die Schauspielerin Eurydike gegenüberstellen ... Es gibt ungewöhnliche Duos: Sprechstimme gegen Gesangsstimme ... Belcanto gegen konkretes Orchester, Autoduos: ich stellte mir vor, wie Orpheus zusammen mit seiner eigenen Stimme im Duett singt ...<P>

Diese Notizen bezogen sich auf die französische Urfassung, die am 6. Juli 1951 im Pariser Theatre de l'Empire uraufgeführt wurde. Was bereits hier skizziert war, wurde noch einen Schritt weiter getrieben, als Schaeffer und Henry später die Fassung für die Donaueschinger Musiktage herstellten. Diese deutsche Fassung mit dem Titel "Orphée cinquante-trois", "Orpheus '53", ergänzt die französischen durch deutsche Sprechtexte. So kommt es zu eigenartigen Dialogen in verschiedenen Sprachen. Für die mannigfaltigen Versuche, Sprache und Gesang mit konkreten Klängen zu kombinieren, entwickelte Schaeffer ein reges Interesse und - suchte immer wieder nach neuen Lösungen. Er schrieb Texte, er notierte Melodien und realisierte konkrete Klänge zur Begleitung des Gesangs. So entstand erstmals in der musique concrète die sogenannte "musique mixte", d.h. Musik, welche die Live-Interpretation, in diesem Falle den Live-Gesang, mit der Lautsprecherwiedergabe verbindet.

Schaeffer hat nicht verheimlicht, daß Henry, sein kompositorischer Partner, dieser Konzeption einigermaßen skeptisch gegenüberstand. Er wollte "natürliche", von der Aufnahmetechnik unberührte Klänge in seiner Musik nicht tolerieren. Deswegen übernahm er im "Orphée"-Projekt diejenigen Abschnitte, die ausschließlich für die Lautsprecherwiedergabe bestimmt sind und in denen die "lebendigen" Stimmen schweigen. Diese, von Henry verantworteten Passagen kontrastierten deutlich zu den klanglich "gemäßigten" Abschnitten Schaeffers.

Der Donaueschinger Skandal gab den ersten Anstoß zur Entfremdung zwischen Henry und Schaeffer, die schließlich zur endgültigen Trennung führen sollte. Danach realisierte Henry eine neue "Orphée"-Fassung in alleiniger Verantwortung. Auf die Anteile, die seinen Vorstellungen nicht entsprachen, hat Henry später mit bitterem Sarkasmus reagiert.

In der Folgezeit gingen Schaeffer und Henry ihre eigenen Wege. Aber keiner von ihnen wäre später wohl das geworden, was er heute ist, wenn es die Jahre ihrer intensiven Zusammenarbeit nicht gegeben hätte.

Ihr Bruch wird durch die Musik des "Orphée"-Projektes vorweggenommen - auch eine Ambivalenz in Schaeffers eigenem Denken. Schaeffer arbeitete weiter, aber anders als zuvor. Auch in seiner eigenen Arbeit ließ sich nicht rückgängig machen, daß der Schleier des Orpheus zerrissen war.

Die verschiedenen Gesichter der Radiokunst

Schon in den frühen fünfziger Jahren hatte Schaeffer damit begonnen. ein Resümee seiner bisherigen Arbeit zu ziehen, andererseits aber auch das Terrain für neue Aktivitäten abzustecken. Der zusammenfassenden Retrospektive und der theoretischen Reflexion diente die Dokumentation. "Dix ans d'essais radiophoniques", die Darstellung der zehnjährigen radiofonen Experimentalarbeit zwischen 1942 und 1952, die in Beaune begonnen und sich am Pariser Rundfunk ORTF ??? fortgesetzt hatte. Das Spektrum war weit: es umfaßte nicht nur Rezitation, Hörspiel und experimentelle Musik, sondern auch das archivierte Tondokument, die technische Demonstration und die exemplarische Inszenierungsanalyse, ja sogar die Analyse diverser alltäglicher Probleme der Radiopraxis (z.B. Untersuchungen über die Untermalungsmusik im Radio, "Das Radio und seine Sprecher" und Probleme der Aufnahmetechnik.

Schaeffer begnügte sich nicht mit dem dokumentarischen Rückblick und mit der rückblickend-zusammenfassenden theoretischen Reflexion. Er bemühte sich auch, in radiofones Neuland vorzustoßen, das sich in den ersten Jahren seiner experimentellen Radioarbeit noch nicht vollständig erschlossen hatte. Das Hauptinteresse Schaeffers richtete sich dabei auf die Grundbedingungen des radiofonen Hörens, des Hörens am Lautsprecher, von Dingen; die man nicht sieht. Schaeffer interessierte sich dafür, die Welt der experimentellen Lautsprecherklänge systematisch zu erforschen. Er sorgte dafür, daß in seinem Studio in jahrelanger Arbeit ein monumentales Klangarchiv entstand, ein reiches Panorama von Aufnahmen, die nicht nur den experimentellen Musiker interessieren, sondern auch die Freunde von Radiostück und Hörspiel.

Als Schaeffer damit begann, sich für die systematische Erforschung der Klangobjekte zu interessieren, setzte er Signale für eine vollständige Neuorientierung der radiofonen Praxis. Der Expressionismus der frühen musique concrète war verschwunden. Es entstanden streng strukturierte Tonbandetüden, die mit der frühen musique concrète kaum noch etwas gemein hatten.

Schon 1958, fünf Jahre nach dem Donaueschinger Skandal, hatte sich Schaeffers Stil vollständig gewandelt. Seine "Etude aux sons animés" (Etüde über belebte Klänge) leitet die radikale Abkehr von den Idealen der älteren musique concrète ein. Es gab äußere Gründe, die den Wandel zumindest teilweise erklären konnten: nicht nur der Schock von Donaueschingen spielte eine Rolle, nicht nur der Beginn einer Entfremdung zwischen ihm und Henry; von weitreichender Bedeutung waren auch wichtige Veränderungen in Schaeffers äußeren Lebensumständen: er mußte sein Studio für mehrere Jahre verlassen, nachdem der Rundfunk ihn mit organisatorischen Aufgaben in Übersee betraut hatte. So kam es dazu, daß Schaeffer in der Folgezeit vor allem Radioarbeit in afrikanischen Ländern leistete.

Währenddessen geriet die Studioarbeit der musique concrète ein wenig ins Stocken. Pierre Henry, der Schaeffers Nachfolge angetreten hatte, kümmerte sich vor allem um die eigenen Kompositionen. Andere im Studio arbeitende Komponisten beschäftigten sich vor allem mit Auftragsarbeiten der sogenannten "angewandten Musik" - beispielsweise mit radiofonen Untermalungsmusiken oder mit der Produktion eher populär-unterhaltsamer Stücke. Diese liebenswürdigen, aber eher harmlosen Effektstücke bereiteten den Boden für heftige Angriffe gegen die gesamte konkrete Musik. Vor allem Boulez, der zeitweise selbst in Schaeffers Studio gearbeitet hatte, fühlte sich zum Generalangriff herausgefordert. 1958 veröffentlichte er sein Verdammungsurteil in einer Enzyklopädie, sozusagen als lexikalisch hochgespielte Polemik:

"Das Wort 'konkret' verrät, wie sehr man sich irreleiten ließ, und mit welcher Naivität man das Problem betrachtete; das Wort weist darauf hin, daß es sich hier um die bloße Handhabung des klanglichen Materials handelt. Das Klangliche selbst suchte man weder zu definieren, noch einzugrenzen. Die Frage des Materials wurde ganz außer Acht gelassen, obwohl sie für ein solches Abenteuer von höchster Bedeutung ist; man hat sie ersetzt durch eine Art poetischen Gedränges, das auf der Linie der surrealistischen Bild- und Wortcollagen liegt ... Maschinen, die zumindest mittelmäßig sind und ein angenehm Schlendrian haben aus dem Studio der musique concrète einen klingenden Trödlerladen gemacht. Was die 'Werke' angeht, so haben sie der Nachwelt lediglich ihre Titel vorzuweisen: bar jeder schöpferischen Intention beschränken sie sich auf wenig erfinderische oder abwechslungsreiche Montagen, die immer dieselben Effekte auftischen, und bei denen Lokomotive und Elektrizität die Schlagzeilen bilden. Eine derart zusammenhanglose Methode führt zu nichts ... Die Komponisten, die die Probleme der Elektronischen Musik in Angriff nahmen, besaßen mehr Weitblick."

Schaeffer hat auf diese Attacke nur zurückhaltend geantwortet. Als er sich ab 1957 wieder der musique concrète zuwandte, leitete er aber eine Neuorientierung der Arbeit ein, die vieles von dem aufgab, wogegen der erst 1958 erschienene Artikel von Boulez noch polemisierte. Auch Schaeffer versuchte jetzt, das Anekdotische, die surrealistische Atmosphäre zu überwinden. Ebenso wie Boulez war er ohne Scheu bereit, sich von einem wichtigen ästhetischen Potential der musique concrète zu distanzieren: vom Potential der Integration von experimenteller Musik und experimentellem Hörspiel. Schaeffer spürte, von welcher Seite seine Arbeit angegriffen wurde: vor allem von avantgardistischen Musikern. Man verstand damals Schaeffers Arbeit vor allem als Erneuerung der Musik, weniger als Erneuerung der Radiopraxis. Schaeffer stellte sich darauf ein. Aus heutiger Sicht kann man allerdings bedauern, daß sich die Neue Musik damals allzu weit von der neuen Radiopraxis entfernte. Vor allem die deutsche Hörspielentwicklung bis hin zur Etablierung des "Neuen Hörspiels" wäre wahrscheinlich anders verlaufen, wenn man schon in den fünfziger Jahren auch die Arbeit des Radiopioniers Schaeffer stärker beachtet hätte - nicht nur die Arbeit des experimentellen Musikers. Schaeffer ist bei seinen Kritikern an die falsche Adresse geraten, und andererseits gerieten auch sie bei ihm an die falsche Adresse.

Diejenigen, die in Schaeffers Arbeiten musikalische Rigorosität vermißten, haben Schaeffer womöglich zur Überreaktion provoziert: Schaeffer hat sich vom Expressionismus seiner früheren Jahre radikal gelöst, nachdem er 1957, von seinen Radioaufträgen in Übersee entbunden, wieder die Leitung seines Experimentalstudios in die Hand genommen hatte. In diesem Sinne machte Schaeffer sich auch daran, die gesamte Studioarbeit umzuorganisieren. Die Zeit der surrealistischen Montagen und Effektstücke und der "angewandten" Untermalungsmusiken für Radio, Theater und Film sollte nun zu Ende gehen. Stattdessen sollte eine Epoche der musikalischen Grundlagenforschung beginnen, eine Phase der Reflexion und völligen Neuorientierung. Erst im Anschluß daran sollte wieder ein Weg zum freien Komponieren gefunden werden.

Für die Forschungsarbeit stellte Schaeffer schon 1957 mehrere grundlegende Postulate auf:

<I>Erstes Postulat: Vorrang des Ohrs. Das Entwicklungspotential ebenso wie die Begrenzungen jeglicher neuen Musik liegen in den Möglichkeiten des Gehörs.

Zweites Postulat: Bevorzugung der realen Quellen, für die unser Ohr weitestgehend geschaffen ist (und insbesondere Ablehnung einer ausschließlichen Zuhilfenahme elektronischer Klangquellen)

Drittes Postulat: Erforschung einer Sprache. Neue musikalische Strukturen müssen darauf abzielen, eine Kommunikation herzustellen zwischen dem, der sie entwirft, und dem, der sie aufnimmt.<P>

Das erste Postulat, "Vorrang des Ohrs", hat besonders weitreichende Bedeutung, nicht nur für die Musik, sondern auch für die gesamte Radiopraxis. Es bedeutet, daß die Produktionen in erster Linie klingende Resultate sind, nicht Realisationen vorgegebener schriftlicher Texte. Die musique concrète hat sich schon in ihren ersten Jahren vom Primat der Partitur gelöst; diesem Grundsatz ist Schaeffer auch in seiner späteren Praxis treu geblieben. Musik, die diesem Grundsatz folgt, gibt es seit den späten vierziger Jahren. Damals wagte man es aber noch nicht, entsprechende Neuerungen auch im Bereich des Hörspiels auszuprobieren, d.h. auch im Hörspiel auf den im voraus geschriebenen Text zu verzichten; die Zeit des experimentellen Originaltonhörspiels war damals noch nicht gekommen.

Auch das zweite Postulat, "Bevorzugung der realen akustischen Quellen", betrifft nicht nur die Musik, sondern darüber hinaus die gesamte radiofone Praxis. Das Mikrophon soll demnach in der radiofonen Praxis seine Bedeutung behalten. Der Generator, der die synthetische Klangerzeugung erlaubt, kann nach Schaeffers Überzeugung das Mikrofon nicht verdrängen. Die reale Hörwelt behält ihre Bedeutung gegenüber der synthetischen des Studios, insofern wird das Band zwischen Musik und Hörspiel nicht vollständig zerschnitten: das Mikrofon eignet sich für die Aufnahme von Umweltgeräuschen, gesprochener Sprache und Musik im traditionellen Sinne; es bleibt also für den Tonbandkomponisten ebenso wichtig wie für den Realisator eines Hörspiels.

Die musique concrète, die Schaeffer seit 1957 propagiert hat, unterscheidet sich denn auch vom Hörspiel nicht so sehr in ihrem Ausgangsmaterial, wie in ihren Verarbeitungstechniken. Geräusche und Stimmlaute behalten im Hörspiel meistens ihre naturalistische (oder auch illusionistische) Funktion; in der musique concrète aber werden sie schon durch Schnitt und Montage weitgehend deformiert, wenn nicht gar durch noch weitergehende Veränderungen.

Das dritte Postulat, "Erforschung einer Sprache", benennt ein Ziel, das die Musik mit der Literatur und mit der über Musik und Literatur hinausführenden Radiopraxis verbinden könnte. Gemeint ist in erster Linie eine Sprache der Musik. Die Frage nach ihrer Erforschung wird aber so grundsätzlich gestellt, daß sie zugleich auch weiter zielt, z.B. auch auf die Erforschung der Sprache des Radios. Dies hat Schaeffer selbst schließlich auch außerhalb der experimentellen Musik deutlich gemacht. Auch im unterhaltsamen Radiostück "L'aura d'Olga" bleibt allerdings nicht verborgen, daß Schaeffer sich grundsätzlich gewandelt hat. Der Radiomacher ist zum Klangforscher geworden, die Techniken von Schnitt und Montage interessieren Schaeffer kaum noch als Hilfsmittel der Komposition, wichtiger erscheinen sie ihm als Mittel der Analyse: Schaeffer seziert die Klangwelt wie ein Anatom der Psychophysik. Er möchte ihre Gesetzmäßigkeiten herausfinden und fragt nach den Zusammenhängen zwischen dem physikalisch Meßbaren und den Qualitäten der sinnlichen Wahrnehmung. Er bekundet Skepsis gegenüber vielen, scheinbar fest etablierten wissenschaftlichen Theorien und kompositorischen Praktiken. 1959 installierte Schaeffer am ORTF eine Forschungsgruppe, die im Teamwork die Grundlagen einer neuartigen Grammatik und Syntax des Akustischen zu entwickeln versuchte. Zwei Veröffentlichungen aus den Jahren 1966 und 1967 faßten die Ergebnisse langjähriger Forschungen zusammen: Schaeffers umfangreichstes Buch "Traité des Objets Musicaux" (Abhandlung über die musikalischen Objekte) und eine begleitende Schallplattendokumentation "Solfège de l'objet sonore" (Musiklehre des Klangobjekts).

Schaeffer und die Musiker seiner Schule verwenden meistens Klangmaterial, das sich mit dem Mikrofon aufnehmen läßt, also konkrete Klänge. Seit den späten fünfziger Jahren wird dieses Klangmaterial jedoch meist so behandelt, daß man seine natürliche Herkunft kaum noch erkennt. Zum Beispiel werden sehr kleine Bestandteile herausgeschnitten und häufig auch Partikel aus verschiedenen Aufnahmen so zusammengesetzt, daß ein neues, zusammengesetztes Klangobjekt entsteht. Die Aufgabe, solche Klangobjekte in größeren Mengen zu sammeln und wissenschaftlich zu ordnen, verlangt vom Komponisten einige Selbstverleugnung: er möchte vor allem Stücke komponieren; die Sammlung von Klangobjekten interessiert ihn in der Regel weniger. Die meisten Komponisten begnügen sich damit, Klangmaterialien allenfalls für ein bestimmtes Stück zu sammeln. Meines Wissens gibt es bis heute nur einen einzigen Komponisten auf der Welt, der sich in jahrelanger Arbeit ein riesiges Klangarchiv für seine gesamte Arbeit aufgebaut hat, und der dieses bis heute ständig erweitert und vielfältig kompositorisch ausgewertet hat: es ist Pierre Henry, der einstige kompositorische Partner von Schaeffer, der in den frühen fünfziger Jahren Schaeffers Anregung folgte und mit der Sammlung von Klangobjekten begann.

Schaeffer selbst war vor allem aus wissenschaftlichen Gründen daran interessiert, daß in seiner Gruppe ein Klangarchiv angelegt wurde. Die eigene kompositorische Praxis war für Schaeffer weniger wichtig. Er, der schon in den ersten Jahren seiner kompositorischen Praxis immer wieder an seiner Musikerrolle gezweifelt hatte, zog sich in den sechziger Jahren vollständig von der Komposition zurück. Sein Aufruf zur kompositorischen Askese ist von niemandem radikaler befolgt worden, als von ihm selbst. Die Veränderungen des Kompositorischen, die Schaeffer selbst angeregt hat, sind demgegenüber als langfristige Zielvorstellungen zu verstehen, die über die persönliche Arbeit weit hinausreichen.

Schon 1957 hat Schaeffer Forderungen aufgestellt, die auf eine völlige Revolutionierung des kompositorischen Handwerks hinauslaufen. Alle Mitglieder seiner Arbeitsgruppe, auch die professionellen Komponisten, sollten sich rigorosen Arbeitsmethoden und festen Regeln unterwerfen:

<I>Erste Regel

Eine neue Gehörbildung betreiben durch systematisches Hören von Klangobjekten jeder Art. Das einzig wichtige ist hier richtig hören lernen, wobei Anfangsgründe der akustischen und elektronischen Technik naturgemäß diese Lehrzeit erleichtern können.

Zweite Regel

Klangobjekte schaffen, das heißt, sich in der tatsächlichen Realisierung von Klängen üben, die so verschieden und ursprünglich wie nur möglich sein sollen.

Dritte Regel

Musikalische Objekte bilden, das heißt, Apparate zur Klangmanipulation handhaben lernen ... Magnetofone, Mikrofone, Filter, usw.

Vierte Regel

Vor der Konzeption von Werken Studien anfertigen (den Schulübungen der traditionellen Musik vergleichbar)

Fünfte Regel

Arbeit und Zeit - unerläßlich für jeden echten Aneignungsprozeß<P>

Schaeffer fordert eine systematische Vorbereitung und Grundlegung des experimentellen Komponierens. Der Komponist soll lange, aufwendige Vorarbeiten auf sich nehmen, bevor er sich an ambitionierte Kompositionen wagt. Jeder sollte gleichsam von vorn anfangen - auch Schaeffer selbst. Er hat sich daran gehalten: er, der zuvor eine Sinfonie und eine Oper der konkreten Musik versucht hatte, kehrte einige Jahre später wieder zur Kleinform der Etüde zurück, die er schon im Anfangsjahr der musique concrète bevorzugt hatte.

Zwei kurzen Etüden, die im Jahre 1958 entstanden, folgt 1959 ein längeres Stück, das seinerseits eine Aneinanderreihung mehrerer Etüden ist, wie schon sein Titel aussagt: "Etude aux objets". Den Ansatz dieses mehrsätzigen Werkes hat Schaeffer anschaulich und präzise beschrieben:

<I>Der gewählte Weg ist der eines Bergsteigers, der wieder umkehrt: absteigender Weg. L'Etude aux objets, das ist dieses schon luftige Gelände, in welchem der Autor, wenn schon

nicht den gesamten Verlauf, so doch wenigstens das Entscheidende zu vollbringen gedachte. Man entdeckt eine ausgedehnte Landschaft. Alle diese "musikalischen Objekte", die seit zehn Jahren so mühsam ausgebreitet wurden (wie ein Mineraloge Steine wählt), bilden das Basis-Klangmaterial, das niemals verraten wird. Die Aufstiegsregeln verbieten dem Autor jegliche elektronische Schwindelei: nur Scheren zum Schneiden des Tonbandes und Geräte zum Kopieren und Mischen und eventuell zur gelegentlichen Transposition in die höhere oder tiefere Oktave sind erlaubt.<P>

Nach Abschluß der "Etude aux objets" gab Schaeffer für lange Zeit das Komponieren vollständig auf. Er zog sich mehr und mehr auf die Leitung seines Studios und auf die Forschungsarbeiten seines 1959 neu installierten Arbeitsteams zurück: der "Groupe de Recherches Musicales". Ursprünglich war eine Forschungsgruppe geplant gewesen, die den gesamten audiovisuellen Bereich erforschen sollte. Der Generaldirektor des französischen Rundfunks, der Schaeffer die entsprechenden Zusagen gemacht hatte, wurde im entscheidenden Moment abgelöst, so daß dieses Projekt nicht im eigentlich geplanten Sinne realisiert wurde. Dies veranlaßte Schaeffer dazu, sich um so intensiver mit Klangforschungen zu befassen, während die Komponisten, mit denen damals Schaeffer zusammenarbeitete - Luc Ferrari, Iannis Xenakis, François Bernard Mâche, François Bayle und andere - sich mehr und mehr der kompositorischen Praxis zuwandten, und ihren Lehrmeister darin überflügelten, währenddessen verlagerte Schaeffer sein Interesse mehr und mehr auf die Entwicklung einer neuen Theorie des Hörens. Schon 1960 benannte er das Problem: es ging um eine neue Grundlage der Musiktheorie und der gesamten Hörtheorie:

<I>Das Gehör ist unser am wenigsten ausgenutzter Sinn. Die ihm dargebotenen Klangobjekte und die von ihm empfangene Sprache liegen bequem innerhalb seiner Fähigkeiten. Anstatt daß wir uns auf die traditionellen Klänge, die klassischen Tonleitern und die Notenschrift beschränken, sollten wir zu dem Eingeständnis kommen, daß deren Beschränkungen willkürliche sind: denn sobald das Gehör ein musikalisches Ereignis wahrnehmen kann - ungeachtet dessen, ob es sich aufschreiben läßt, oder nicht - ist die Notenschrift im Unrecht, wenn sie dem Gehör nicht dorthin folgt, wo dieses noch zu hören vermag.<P>

Damit waren Aufgaben gestellt, denen Schaeffer den Vorrang vor einer Fortsetzung seiner kompositorischen Versuche gab. Noch 1970, als eine Schallplatte mit seinen frühen und späteren Werken erschien, ging Schaeffer davon aus, die "Etude aux objets" sei endgültig seine letzte Komposition gewesen. Die Schallplatte mit den "Etudes de bruits" und einigen anderen älteren Stücken, sowie mit neueren konkreten Etüden der fünfziger Jahre betrachtete Schaeffer gleichsam als sein kompositorisches Testament eines Entdeckers, der nur mit Mühe das von ihm selbst Entdeckte aufzuarbeiten vermag.

<I>Der Autor war durch das, was er in den Jahren um 1948 gefunden hatte, entsetzt. Dennoch kehrte er um 1958 dorthin wieder zurück. Aber erst 1960 verdammte er sich ohne Hilferuf, indem er den Lärm seiner Worte jenen anderen Geräuschen vorzog, denen er als Erster die Sprache gegeben hatte.

Diese Schallplatte ist auch ein Testament, oder vielmehr eine Gruft, in welche der Autor mit aufrichtigem, aber grausamem Bedauern sein unvollendetes, in Wahrheit nie wirklich begonnenes Schicksal des möglichen Musikers eingemauert hat.<P>

Der zum Musiker gewordene Radiopionier hatte sich entschlossen, wieder zum Schriftsteller zu werden. Sein erstes Ziel war allerdings eine wissenschaftliche Abhandlung - die Zusammenfassung aller bisherigen Forschungen. Das war aber nur der Anfang einer noch weitergehenden Umorientierung. Seit den späten sechziger Jahren ist Schaeffer hauptsächlich als Schriftsteller aktiv - nicht selten mit Büchern, die auch autobiografische Reflexe seiner Erfahrungen als Radiopionier sind. In den siebziger Jahren hat sich Schaeffer nur noch zwei Mal kompositorisch betätigt: Einmal zum 25.Gedenkjahr der "Symphonie", ein anderes Mal in einem kurzen, ironischen Stück, das seine Arbeit der musique concrète resumiert. Schaeffer macht es dem Beobachter seiner Arbeit immer wieder schwer, ein Resümee aus dem bisher Geleisteten zu ziehen. Vielleicht ist seine wichtigste Mitteilung die, daß Radiopraxis von neuen Ideen ebenso lebt, wie von der Fähigkeit, immer wieder alles bereits Erreichte in Frage zu stellen und wiederum von vorn anzufangen.

Zu den eigenartigsten Produktionen Schaeffers gehört ein großes Werk der siebziger Jahre, das man als seine zweite Sinfonie bezeichnen kann - wieder eine Sinfonie, die in Zusammenarbeit mit einem jüngeren Komponisten entstand (diesmal war es Bernard Dürr). In diesem Stück wandte sich Schaeffer einem Klangmaterial zu, das er lange Zeit hindurch heftig abgelehnt hatte, und das ihm geradezu widersprüchlich zu den Prinzipien der musique concrète erschienen war: Schaeffer arbeitete mit rein elektronischen Klängen. Der Synthesizer, der in seinem Studio inzwischen zur Verfügung stand, bot klanglich so vielfältige und überraschende Möglichkeiten, daß Schaeffer sich in die klanglichen Abenteuer seiner Frühzeit zurückversetzt fühlte. Kompositorisch verfuhr er ähnlich wie in der Epoche der frühen musique concrète: aus zahlreichen aufgenommenen Materialien wählte er geeignete aus, aus denen er dann sein Stück zusammensetzte. Die Prinzipien, nach denen Schaeffer bei der eigentlichen Komposition vorging, erinnern ebenfalls an die anregende Zwiespältigkeit der frühen musique concrète: einerseits spielt Schaeffer offensichtlich mit traditionellen Erwartungen und Assoziationen, andererseits ordnet er die verschiedenen Teile seines Stückes unter Aspekten, die eher der strikten Theorie des späteren Schaeffers zuzurechnen sind - z.B. unterscheidet er einen Satz mit vorwiegend dynamischen Entwicklungen von anderen Sätzen, in denen Entwicklungen im Tonhöhenbereich im Vordergrund stehen. Der Titel, "Le Trièdre Fertile", spielt auf ein dreidimensionales akustisches Modell an: auf Frequenz, Intensität und Zeit, und auf die von diesen Dimensionen beeinflußten Bereiche der musikalischen Wahrnehmung. Die Ergebnisse sind experimentell im besten Sinne: die Überraschung, in die Schaeffer bei der Entdeckung dieser Klangwelten und ihrer kompositorischen Möglichkeiten geraten sein mag, springt auf den Hörer über. Neue Radiokunst schickt sich an, einem neuen, aktiveren Hörverhalten den Weg zu bereiten.

Wie ein letztes kompositorisches Adieu, witzig und ein wenig wehmütig, präsentiert sich ein kurzes, 1979 entstandenes Stück. Schaeffer erklärt diese Musik als nostalgische Sehnsucht zurück nach einer Musik, die er durch seine musique concrète zerstört zu haben fürchtet: nach der Musik Bachs. "Bilude" ist nichts weiter als die Verwandlung eines Bachpräludiums in musique concrète. Das Klavier verwandelt sich mehr und mehr in ein präpariertes Klavier mit exzessiven Geräuscheffekten. Gegen Ende des Stückes mischt Schaeffer zahlreiche Zitate aus seinen konkreten Musikstücken hinzu. Die wehmütig-sarkastische Bach-Nostalgie bezeichnet Schaeffer auch als "Das übel temperierte Klavier".

Schaeffer ist ein Radiopionier, der stets gegen sich selbst skeptisch geblieben ist. Vieles, was er angeregt hat, ist auch heute noch nicht über erste Entwicklungsstufen hinausgekommen und wird womöglich erst in fernerer Zukunft wichtig werden; um so mehr kann man sagen, daß Schaeffer sich als ein Radiopionier erwiesen hat, dessen eigentliche Zeit vielleicht erst noch vor uns liegt.

In einer 1960 erschienenen Abhandlung, die die Wechselwirkungen zwischen Musik und Akustik und die Grundlagen einer neuen Musiklehre untersucht, hat Schaeffer die eigene Situation zwischen den Fronten deutlich angesprochen: nicht nur zwischen Literatur, Technik und Musik, sondern auch zwischen Kunst und Wissenschaft. Die Beziehungen zwischen letzteren erscheinen in diesem Zusammenhang vor allem für die Musik bedeutsam. Das Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft und Musik beschreibt Schaeffer aus eigener Erfahrung und in Kenntnis aktueller Entwicklungen:

<I>Es ergeben sich ... zwei neue Typen: der des in die Wissenschaft hineinpfuschenden Musikers und der des in die Musik pfuschenden Wissenschaftlers...

Der Verfasser dieser Zeilen bekennt sich selbst zu dem Typ zweiter Art.<P>

Schaeffer, der Radiopionier; Schaeffer, der Komponist; Schaeffer, der Forscher: in keiner seiner Rollen hat Schaeffer die jeweils anderen völlig vergessen. Über die Konsequenzen des ambivalenten Rollenspiels war er sich im Klaren: er stand zwischen den Fronten - und dies nicht zuletzt deshalb, weil er die Spaltung zwischen Kunst und Wissenschaft am eigenen Leib erlebt hatte. Als Wissenschaftler schwankte er zwischen Physik und experimenteller Psychologie, in der Kunst bewegten sich seine Interessen zwischen Literatur und Musik: Schaeffer hatte deutlich erkannt, daß seine Arbeit maßgeblich geprägt war von den divergierenden Interessen seines Berufslebens und von den vielfältigen Spannungsverhältnissen, die sich zwischen ihnen ausbilden mußten.

<I>Normalerweise sind angeborenes Talent und besondere Fähigkeiten einander entsprechend; wie aber, wenn eines Menschen Begabung auf wissenschaftlichem Gebiet liegt, sein Instinkt ihn aber auf Musik und Dichtkunst hinweist? Wird ihn nicht höhere Gewalt zwingen wollen, diese verschiedenen Welten, die seine Neigungen und Betätigungen grausam entzweien, zu verbinden?<P>

Schaeffer ist davon überzeugt, daß diese, seine eigene Erfahrung konstitutiv für die gesamte musique concrète, ja sogar für das allgemeine Geistesleben überhaupt ist:

<I>Ein solches Erlebnis liegt der musique concrète zugrunde. Diese Schwierigkeit meiner Lage habe ich nie verhehlt. Mehr als musikalische Technik oder wissenschaftliche Forschung allein bedeutet für mich die Vereinigung dieser "Widersprüche"; und ich bin geneigt, über Musik und Akustik hinaus in dieser Doppelspurigkeit ein Grundproblem der heutigen Welt zu sehen.<P>

Die Erfahrung, daß praktische Radioarbeit interdisziplinär sein kann, ja muß - diese Erfahrung gehört möglicherweise zu den wichtigsten Einsichten im Leben des Radiopioniers Schaeffer: diese Einsicht sollte auch heute bedacht werden, in einer Zeit, deren Medienpraxis eher zersplittert als integriert, die im Dickicht der spezialisierten Kompetenzen und Programmrubriken auch in der medialen Spiegelung zunehmend schwieriger zu erfassen ist. In dieser Situation könnte die Reflexion von Schaeffers Erfahrungen nützlich sein - von Erfahrungen eines Radiopioniers zwischen den Fronten.
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