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7.10.1 BRUCK1.DOC


Anton Bruckner (1)

Z: IV 1, 1. Fassung Inbal, HS bis GP vor SS. Inbal 0´´ - 2´07

Musik entsteht aus einem Keim von 2 Tönen: Über der leise vibrierenden Grundharmonie der Streicher setzt ein ruhig gehaltener Hornton ein - die Melodie wendet sich zu einem tieferen, rhythmisch geschärften Ton und kehrt danach wieder zum Ausgangston zurück: Das ist die Keimzelle einer Symphonie.

Z: IV 1, 1. Fassung Einleitung und 1. Hornruf. Inbal 0´´ - 11´´

Aus dem leisen Wechsel zweier Töne entwickelt sich eine riesige sinfonische Expansion: Immer weiter ausgreifend in die Weite des Tonraumes - in melodischen und harmonischen Verdichtungen - mit zunehmender instrumentaler Klangfülle, mündend in den Tuttiklang und schließlich breit ausschwingend. Ein großer Spannungsbogen prägt diese Musik - und zwar so stark, daß er die einzelnen Töne und Tongestalten überwächst. Bruckner hat dies deutlich gemacht, als er diese Symphonie - seine 4. Symphonie in Es-Dur, die "Romantische" - in einer zweiten Fassung grundlegend überarbeitet hat: Der Formprozeß der Musik, das Hereinwachsen ins Tutti, bleibt auch in der Neufassung erhalten - allerdings in genauester Überarbeitung aller Details. Beim Hören der Neufassung kann man herausfinden, daß einzelne Töne sich ändern können - und daß durch geeignete Detailveränderungen der Gesamtverlauf womöglich noch deutlicher herauskommt.

Z: IV 1 Neufassung bis Halteton f1 Horn, Jochum 0´ - 2´20

Sinfonische Musik aus kleinsten Tonzellen hat es auch schon vor Bruckners romantischer Symphonie gegeben - allerdings in ganz anderem Geiste. Das wohl berühmteste Beispiel hierfür ist die 5. Symphonie von Beethoven: Alles in dieser Musik ist entwickelt aus dem Urmotiv mit seinen zwei Tönen.

Z: Be V 1 Exposition, Davis 0´ - 1´32

Musik aus zwei Tönen erscheint bei Beethoven in extremer Gegensätzlichkeit zu Bruckners weiträumigen Formentwicklungen: Während Bruckner das Thema allmählich, Schritt für Schritt, aus dem harmonischen Urgrund entstehen läßt, ist das scharf gemeißelte Hauptmotiv Beethovens schon gleich zu Beginn seiner fünften Symphonie in voller Prägnanz und Kraft gegenwärtig. Die Musik entwickelt sich in jähen Brüchen und in dramatischen Steigerungen - und sie entwickelt sich übrigens wesentlich rascher als in der weit ausladenden Bruckner-Symphonie: In der Zeit, die Bruckner für die Darstellung allein seines Hauptthemas verwendet, erklingt bei Beethoven eine vollständige Sonatensatz-Exposition.

Schon in den ersten Tönen Beethovens, im ersten Motiv mit seinen ersten Abwandlungen, ist der heftige, konvulsivische Charakter des ganzen Symphoniesatzes voll ausgeprägt.

Z: Be V 1: Motiv-Setzung, Motiv-Beantwortung, Motiv-Entwicklung. Davis 0´´ - 19´´

Motiv-Setzung... -

Z: Be V 1, 1. Motiv, 0´ - 3´´

Motiv-Beantworung... -

Z: Be V 1, 3´´ - ca. 5´´, 2. Motiv

Motiv-Entwicklung

Z: Be V 1, Motiv-Entwicklung bis Vl g2: ab ca. 5´´ (nach 2. Fermate) - 19´´ (Fermate m. Vl.ton)

Motiv-Setzung - Motiv-Beantwortung - Motiv-Entwicklung: In diesen drei Schritten wird Beethovens Thema vorgestellt: in einer knappen Prägnanz, wie sie bei Bruckner kaum jemals zu finden - und wohl auch nicht angestrebt ist.

Es gibt einen Satzanfang bei Bruckner, der zumindest ganz am Anfang ähnlich knapp und schroff einsetzt wie die "Fünfte" von Beethoven: beginnend mit denkbar knapper Setzung und Beantwortung des Motivs; im weiteren Verlauf allerdings sich fortsetzend mit einer weit ausholenden Weiterentwicklung und Steigerung, die fast doppelt so lang ist wie der entsprechende Formprozeß bei Beethoven. Ein markanter Themeneinsatz im Geiste Beethovens - übrigens ebenfalls in c-moll - findet sich zu Beginn des Scherzos von Bruckners zweiter Symphonie.

Z: II 3, Anfang: Motiv-Setzung - Motiv-Beantwortung - Motiv-Entwicklung

0´ - 43´´(bis Pause am Ende des 1. Teils)

Beethoven und Bruckner, die profiliertesten deutschen Symphoniker des 19. Jahrhunderts, zeigen sich in ihrer Musik verwandt und doch gegensätzlich. Beide arbeiten mit der Dramatik von Kontrasten und Steigerungen; Beethoven tut dies allerdings auf knappstem Raum, Bruckner hingegen in weit ausgreifenden Bogenformen. Typisch für beide Komponisten ist ein prozeßhaft entwickelndes Musikdenken, das die Grenzen der klassischen Gliederungsformen überwindet. Dies führt zu einer radikalen Veränderung älterer klassischer Formvorstellungen, wie sie etwa bei Mozart deutlich ausgeprägt waren. Die Orchesterwerke Beethovens und Bruckners sind keine Musik der Reihung und Gegenüberstellung, der ausgewogenen Gegensätze und des Gleichgewichts; hier geht es vielmehr um Dramatik und prozeßhafte Entwicklung.

Z: Be VII 1b Exposition, Davis 3´31 (ab Akzent e und Überleit. der Einl.) - 6´39 Ende Exp

(aufhören vor Beginn der Rückleitung zur Expositions-Wiederholung)

Das Hauptthema der 7. Symphonie von Beethoven entwickelt sich aus einem einzigen Ton. Dieser Ton erscheint als Schlußakzent der vorausgehenden Einleitung. Er wird anfangs in raschen Repetitionen wiederholt. Später verlangsamen und verkürzen sich die Repetitionen, bis nur noch Einzeltöne zu hören sind. Danach belebt der Ton sich wieder, nimmt rhythmische Konturen an und führt zum Beginn des Hauptthemas.

Z: 3´31 (Akzent auf e - Beginn der Überl zum HS) - 4´44 (Fermate nach 1. Th-Durchgang)

aufhören vor aufsteigendem Vl-Lauf, der in die Tutti-Wiederhol. des HS-Themas führt

Das dramatisch-prozeßhafte Formdenken Beethovens veränder die Wirkung selbst der einfachsten Formphänomene - zum Beispiel die Wirkung der Wiederholung: Wenn Beethoven im ersten Satz seiner 7. Symphonie das Hauptthema wieder aufgreift, dann wirkt dies keinesfalls als einfache Wiederholung. Schon der erste, leise Themeneinsatz ist so nachdrücklich als Prozeß angelegt, daß er, sich steigernd, geradewegs in den folgenden Tutti-Ausbruch hineinführt. Dieses Tutti wird deswegen nicht als Wiederholung des Themas gehört, sondern als seine erste volle Erfüllung, zu der alles Vorherige vorbereitend hingeführt hat.

Dieses Formdenken verbindet den Symphoniker Beethoven mit dem Symphoniker Bruckner. Dies läßt sich im Vergleich belegen - zum Beispiel an den A-Dur-Symphonien beider Komponisten: Auch in Bruckners A-Dur-Symphonie erscheint das Hauptthema zunächst leise, in ausgesparten Registern und Harmonien; erst später steigert es sich und mündet bei der Wiederkehr in einen massiven Tutti-Ausbruch.

Z: VI 1, 0´´ - 1´40 (bis e, Anfangston SS)

Entscheidend bei Beethoven und Bruckner ist nicht, wie die Musik gegliedert ist, sondern (wie und) wohin sie sich bewegt. So kann es dazu kommen, daß man nicht mehr ein Hauptthema und seine Wiederholung wahrnimmt, sondern den Prozeß der Entstehung dieses Themas, von der Vorbereitung zur endgültigen Erscheinung.

Auch für eine umgekehrte Formentwicklung lassen sich Beispiele finden - Beispiele, die vom massiven Tuttiklang ausgehen und in denen danach das Thema im reduzierten Klang wieder aufgegriffen wird. So sind sowohl Beethoven als auch Bruckner verfahren - und zwar beide an formal genau entsprechenden Stellen ihrer A-Dur-Symphonien.

Wenn Beethoven in der Reprise des ersten Satzes seiner A-Dur-Symphonie zu seinem Hauptthema zurückführt, dann erscheint dies keineswegs als einfache Wiederkehr: Das Thema, das anfangs leise begonnen hatte, wird vielmehr später mit einer mächtigen Steigerung vorbereitet und setzt im vollen Tuttiklang ein. Später kommt die rauschende Formentwicklung abrupt zum Stehen, und die Musik kehrt leise zum Hauptthema zurück. Dieses leise Hauptthema wirkt jetzt nicht wie eine Wiederholung, sondern wie eine Dämpfung und Abschattierung, als Reaktion auf die vorher zu hörende mächtige Expansion: als Beruhigung nach einem in wirkungsvoller Steigerung er rei chten Höhepunkt.

Be VII 1, Aufgang zum Repriseneinsatz bis Ende leise HS-Th-Wiederholung in der Reprise

10´58-12´07 (bis Molleinsatz Klarinette, bis 1. Ton Fagott-Einsatz)

In Beethovens Formdynamik gewinnen traditionell-klassische Formbegriffe wie Wiederholung und Reprise einen ganz neuen Stellenwert - zum Beispiel dann, wenn zwei Themeneinsätze anfangs als Vorahnung und Erfüllung ausgestaltet sind und später, bei der Themen-Wiederkehr in der Reprise, als Höhepunkt und echoartige Reaktion. Solche Zusammenhänge zwischen Thema und Wiederkehr, zwischen Exposition und Reprise, finden sich nicht nur bei Beethoven, sondern auch bei Bruckner: Auch in Bruckners A-Dur-Symphonie kehrt das Thema im strahlenden Tuttiklang wieder, um dann später zum reduzierten Klangbild überzuwechseln.

VI 1, Df-Höhepunkt - Reprise lauter und leiser Th-Einsatz: 8´43-10´26 Jochum

Wenn Beethoven und Bruckner die symphonische Formgestaltungvon innen aus erneuern, so setzen sie sich mit Bekanntem auseinander, um es nicht nur neu zu entdecken, sondern auch in etwas Neues zu verwandeln. Dies zeigt sich daran, wie sie Ereignisse einführen, weiterführen und wiederkehren lassen. In ihren ersten Symphoniesätzen zeigt sich dies vor allem im Verhältnis zwischen neu eingeführten und später wiederkehrenden (Haupt-)Themen, im Verhältnis zwischen Exposition und Reprise - wobei beispielsweise die schwächere und die stärkere Ausprägung des Themas später in veränderter Reihenfolge wiederkehren können, also in genau umgekehrter Formdynamik. So wird deutlich, daß die übergreifenden Spannungsverläufe wichtiger sind als die aus der Tradition übernommenen, quasi-architektonischen Gliederungen.

IX 1, Anfang bis 2´12 (aufhören vor Baßübergang von B nach A)

Die Neugeburt klassischer Formen im Geiste einer moderneren Formdynamik kann so weit gehen, daß selbst die die wichtigsten Erkennungsmerkmale etwa einer klassischen Wiederholung entbehrlich werden, zum Beispiel die gleichbleibende Tonart. Diesen Schritt hat Beethoven im Anfangsteil des ersten Satzes seiner neunten Symphonie vollzogen. Hier sind die dramatischen Steigerungs-Entwicklungen so übermächtig, daß die zweimal markant sich steigernde Musik im zweiten Anlauf in andere Tonarten drängt - in erneuter Steigerung, die in einem zweiten Tutti-Ausbruch mündet. Der zweite Tutti-Ausbruch erscheint also in einer anderen Tonart als der erste - und dies, obwohl es hier, traditionell gesprochen, um die Wiederholung des Hauptthemas geht. Man hört in diesem symphonischen Anfang zwei gleichsam aus dem Nichts entstehende, mächtig ausladende Steigerungen; jede Steigerung mündet in einen Tutti-Ausbruch. Mit dem 2. Tutti-Ausbruch ist eine neue, auch für das Folgende wichtige Tonart erreicht.

Z: IX 1, Anfang bis 2´12 wie zuvor (oder früher aufhören nach Einsatz von B: auf d2)

Der Anfang von Beethovens neunter Symphonie steht völlig im Zeichen eines prozeßhaft entwickelnden und verändernden Musikdenkens. Nichts kehrt genau so wieder, wie man es vorher schon gehört hat. Wenn bestimmte Gestalten wiederkehren, ändern sich sogar die Tonarten - und zwar nicht nur im Thema selbst, sodnern auch in den Steigerungen, die den Eintritt des Themas vorbereiten. Man hört also keine Wiederholungen, sondern Weiterentwicklungen des Vorausgegangenen.

Das Vorbild des Anfangs von Beethovens neunter Symphonie hat Bruckner so stark beschäftigt, daß er in Formentwicklungen verschiedener Symphonien immer wieder davon ausgegangen ist, um dann in Verarbeitung, Weiterentwicklung und Umschmelzung zu neuen Lösungen zu kommen. Schon in einem seiner ersten Orchesterwerke, in der frühen Symphonie d-moll - folgt Bruckner genau dem Formplan, der für den Beginn der Neunten Beethovens gilt.

Z: 0 1, Anfang: 0´ 1. Welle, 34´´ 2. Welle, 57´´ Tutti, Hauptstimme im Baß, 1´01 Rückgang

aufhören vor Einsetzen des dyn. Rückgangs bei 1´01 - oder evtl. nach 1´08 Anf. SS

Was Bruckner erstmals in seiner frühen d-moll-Symphonie versucht hat, nahm später klarere Gestalt an zu Beginn einer anderen Komposition, die ebenfalls in d-moll komponiert ist: zu Beginn der 3. Symphonie. Dem Formplan des Anfangs der Neunten von Beethoven folgt Bruckner auch am Anfang dieser Symphonie.

III 1, 1. Fassung Inbal, Anfang bis vor Einsatz SS, Inbal 0´´ - 4´27

Die Auseinandersetzung mit Beethoven hat Bruckner immer wieder zur Suche nach neuen Lösungen angeregt. In der dritten Symphonie hat diese Suche so weit geführt, daß der Anfang in einer neuen Fassung weitgehend überarbeitet worden ist. Wesentlich ist, daß Bruckner in der Überarbeitung nicht den übergreifenden Formprozeß geändert hat, wohl aber melodische, harmonische und klangfarbliche Details, aus denen dieser Formprozeß sich bildet. Geändert wurden beispielsweise markante Nebenstimme - etwa die Passagen der Flöte und des Horns nach dem ersten Themenseinsatz.

III 1, 2. Fassung bis vor Einsatz SS, 2. Fassung Kubelik 0´´ - 3´41

Die Ursprünge von Bruckners Formdenken sind schwer zu ergründen. Er, der in seinem Leben lange ein Lernender geblieben ist, hat viel Zeit gebraucht, bevor er seinen kompositorischen Weg fand. Mit dem Studium von Harmonielehre und Kontrapunkt hat Bruckner sich nicht zufrieden gegeben. Der entscheidende Schritt für ihn war das Studium der freien Komposition in den frühen 1860er Jahren, das vom Streichquartett zur Symphonie führte. Am Ziel dieses Weges blieb kaum noch eine Erinnerung an den Bereich praktischer Musikerfahrung, von dem Bruckner ursprünglich ausgegangen war: Seine wichtigste Erfahrungsbasis war nicht die Arbeit in einem Orchester, sondern das Orgelspiel. Bruckners Rang als Symphoniker mißt sich nicht zulezt daran, wie weit er über den Erfahrungshorizont der Orgel hinausgewachsen ist. Bruckners Orgelwerke sind also wichtige Dokumente seines kompositorischen Weges und Ansatzes.

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Z: Orgelpräludium C: Perger Präludium 1´58 (CD Horn Nr. 13)

Anton Bruckner ist ein Komponist, der von der Orgel herkommt. Der langjährige Organist und weltberühmte Orgel-Improvisator hat allerdings nur wenig originale Orgelmusik hinterlassen. Das hat um so mehr die Spekulationen der Musikwelt beflügelt: Ist Bruckner - so wurde überlegt - tatsächlich der genuine Symphoniker, den Wagner mit Recht als wichtigsten Nachfolger des Symphonikers Beethoven ansaht? Oder sind auch Bruckners Symphonien eigentlich verkappte Orgelmusik? - Man kann diese Frage hörend überprüfen, wenn man symphonische Musik Bruckners nicht im originalen Klangbild, sondern in der Bearbeitung für Orgel anhört. Beim Hören läßt sich prüfen, ob diese Musik tatsächlich wie originale, vielleicht auch aus der Orgelimprovisation erwachsene Musik klingt - oder ob deutlich zu erkennen ist, daß es sich um eine eigentlich für andere Klangmittel bestimmte Musik.

Z: Arrangement f-moll-Symphonie Scherzo-Reprise. CD Horn take 8, 4´18 - 5´48 (Schluß)

Wer sinfonische Musik Bruckners - z. B. das Scherzo seiner frühen Studiensymphonie in f-moll - im Orgel-Arrangement kennen lernt, wird es schwer haben, die eigentlichen Qualitäten dieser Musik zu entdecken. Der zwiespältige Eindruck, den das Arrangement vermittelt, macht um so deutlicher, daß Bruckners Musik anders erfunden ist - für das Klangbild des großen Orchesters.

Z: f-moll-Sy. Scherzo-Reprise CD Inbal take 3, 4´05 - 5´20

Es gibt Beispiele, bei denen Bruckners Arrangement im Orgel-Arrangement geradezu verfälscht erscheint - etwa im langsamen Satz seiner frühen d-moll-Symphonie. In der Orgel-Reduktion erscheint der Anfang des Satzes fast biedermeierartig vereinfacht.

Z: Nullte, 2. Satz Orgelfassung - CD Horn take 2, 0´ - 1´13 (tief akkordisch, Forts. höher)

aufhören nach Pause vor Wiederholung des Themas

Erst in der Orchesterfassung wird deutlich, was gemeint ist: Ein zweiteiliges Thema im Wechsel verschiedener Instrumentengruppen. Solche Wechsel in Bruckners Musik werden oft mit Registerwechseln auf der Orgel verglichen. Auf der Orgel klingen sie aber oft weitaus weniger befriedigend als im Orchester - z. B. im Wechsel von Streichern und Holzbläsern.

Z: Nullte, 2. Satz Orchesterfassung Streicher - Holz (aufhören vor Neueinsatz Str: Th-W) 0 - 1´03

In der Orgelbegleitung herrscht der Eindruck einer idyllischen, liedhaften Geschlossenheit vor - auch dann, wenn das Thema später in veränderter, weiter entwickelter Form wieder erscheint - im rhythmisch belebten Begleitsatz.

Z: Nullte, 2. Satz Orgelfassung, Reprise mit rhythmischer Belebung

6´02 - 6´26 (punktierte Begl.) und / oder 9´ - 9´18 (Achtelbegl.) (abblenden bis vor Anf. Des)

Auch die variierte Wiederkehr des Themas erscheint im Orchestersatz bei weitem überzeugender als in der Orgelreduktion: In reicheren Farbschichtungen, in einem transparenteren Klangbild.

Z: Nullte Orchesterfassung Th variiert 4 T. 5´10 - 5´26 (punktierte Begleitrhythmen Tonl. abw.) und / oder (wie oben) Th mit Achtelbegleitung 4 T.: 7´54 - 8´13 Str, aufhören vor Des Hr

Z: Ausschnitt(e) wie vorige Zuspielung (Begl. punktiert, Achtelbegl.) in Orchesterfassung

Von der rhythmischen Belebung findet das Thema später wieder zur Ruhe zurück. Am Satzende schließt die Musik mit einer einfachen Kadenz. Im Vergleich mit den Anfangstakten erscheint sie fast unverändert - sie trägt keine Spuren des inzwischen Geschehenen.

Z: Schluß Orgelfassung - letzter Themeneins. akkordisch tief 13´55 - 14´23. CD Horn

Auch im originalen Klangbild ist der Schluß denkbar einfach gehalten.Trotzdem wirkt er klangschöner und ausdrucksvoller im originalen Klangbild der Streicher.

Z: Schluß Orch.: 4. T. Streicher mit Ganzschluß 12´58 - 13´45

Bruckner ist kein Komponist, der das Orchester behandelt wie eine Orgel mit wechselnden Registern. Obwohl er oft für ungemischte Farben der Streicher, der Holz- oder Blechbläser schreibt, ist seine Musik originär für das Orchester erfunden. Schon in seinen frühen Orchesterwerken wird deutlich, an welchem Vorbild er sich orientiert: Am symphonischen Stil Beethovens - vor allem am Klang- und Formbild seiner 9. Symphonie.

Z: Beethoven IX 3 Anfang 0´ - vor 2´41 (Davis) (vor Anfang Seitensatz)

evtl. nur Einleitung und Vordersatz, 0´- 41´´

Was Bruckner von Beethoven gerade in seinen langsamen Sätzen gelernt hat, wird deutlich, wenn man vergleicht, wie beide Komponisten ihre Themen, vor allem ihre Hauptthemen, in langsamen Sätzen verarbeiten. Wenn Beethoven ein Hauptthema wieder aufgreift, erscheint es meist in entwickelter Variation, angereichert im rhythmisch stärker belebten Klangbild.

Z: Be IX 3, erste variierte Wiederkehr des Themas, 4´10 - 4´27 (4 Takte, Vordersatz)

(evtl. längerer Ausschnitt, bis 7´36 - aufhören vor Einsatz des 2. Themas in G-Dur)

Bruckner verarbeitet die Themen seiner langsamen Sätze ähnlich wie Beethoven. Dies gelingt um so besser, je stärker die Themen selbst mit weit gespannten Melodielinien auf eine solche entwickelnd variierte Verarbeitung angelegt sind - zum Beispiel das Thema des langsamen Satzes der 2. Symphonie, das mit einer weit ausschwingenden Kantilene der Violinen beginnt.

Z: II 2 Hauptthema: 0´´ bis 2´18 (Generalpause vor Einsatz des 2. Themas). Jochum

Wenn Bruckner das Thema eines langsamen Satzes wiederkehren läßt, belebt auch er es, ähnlich wie Beethoven, mit rascheren Figurationen.

Z: II 2 Wiederkehr Hauptthema. (4 Takte, aufhören vor Einsatz Celloton) 3´24 - 3´36 Jochum

Die Umrisse von Bruckners Adagioformen entsprechen dem Vorbild Beethovens - und zwar nicht nur in den frühen Symphonien, sondern auch in späteren Adagiosätzen, bei denen es in mehrfacher Wiederkehr der Themen zu mächtigen Steigerungsprozessen kommt. Auch darin zeigt sich, welche Früchte die Auseinandersetzung mit Beethoven in den Symphonien Bruckners getragen hat, der erst als Achtunddreißigjähriger damit begonnen hat, Orchesterwerke zu schreiben.

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Anton Bruckner ist nach langer Lehrzeit zu einem der wichtigsten Neuerer in der Geschichte der Musik geworden - vor allem in der Entwicklungsgeschichte der Symphonie. Dies erklärt die Heftigkeit, mit der er zu schon zu seinen Lebzeiten umstritten war - und es erklärt auch die großen Schwierigkeiten einer seriösen Diskussion über seine Musik; einer Diskussion, die erst lange nach seine Tode begann und bis heute nicht beendet ist. Anton Bruckners Musik gibt immer wieder Rätsel auf - selbst in ihren scheinbar eingängigsten Gebilden.

Z: VII, 1. Teil Jochum

Diskussionen über Bruckner waren und sind schwierig, weil es über zentrale Fragen gravierende, kaum zu überbrückende Meinungsverschiedenheiten gibt. Ist Bruckner, so läßt sich fragen, ein Erneuerer der Symphonie - oder hat er nur eine Gattung zu restaurieren versucht, die zu seiner Zeit bereits historisch obsolet geworden war, durch die Programmsinfonien von Franz Liszt und durch die Musikdramen Richard Wagners? Hat Bruckner als Erneuerer der romantischen Symphonie ähnliche Bedeutung, wie sie Beethoven für die Symphonie der Klassik zugesprochen wird - oder hat (wie etwa Anton Webern meinte) Bruckner nur Kompromisse zu schließen versucht zwischen den Traditionen der Klassik und der neudeutschen Schule Liszts und Wagners? Hat Bruckner das symphonische Erbe Beethovens bewahrt oder grundlegend verändert?

Z: VIII 1, bis 1. GP, 1. Fassung Inbal (oder evtl. 2. Fass. Jochum)

oder III 2 bis 1. Beruh.: 1. Fassung Inbal oder 2. Fassung Kubelik (oder evtl. 3. Fassung Jochum)

Anton Bruckner, der Komponist symphonischer Adagio-Sätze, hat von Anfang an dem analysierenden Verstehen wesentlich größere Schwierigkeiten bereitet als der Komponist prägnanter, klar entwickelter Scherzosätze. Es war offensichtlich schwer zu beurteilen, was es bedeutete, wenn ein Komponist nach Beethoven noch Scherzo- und Adagiosätze schrieb, die einerseits deutlich an Beethoven anknüpften, die sich aber andererseits von Beethovens Musik doch deutlich unterschieden (allerdings in nur sehr schwer beschreibbarer Weise). Den Traditionen symphonischer Scherzo- und Adagiosätze im Geiste Beethovens steht Bruckner offensichtlich näher als etwa Johannes Brahms, sein berühmtester Wiener Gegenspieler. Andererseits ist offenkundig, daß Bruckner diese symphonischen Traditionen teils weiter entwickelt, teils wesentlich verändert hat. Bruckner hat - anders als beispielsweise Schubert und Mendelssohn, Schumann und Brahms - seine Musiksprache aus Aspekten der symphonischen Schreibweise Beethovens entwickelt; aus Aspekten, die von Beethovens unmittelbaren Nachfolgern weitgehend aufgegeben worden waren. Was Bruckner dabei übernahm und was er veränderte, läßt sich freilich nur schwer in letzter Präzision bestimmen und voneinander unterscheiden. Wer nach genaueren Antworten sucht, tut gut daran, Bruckners Auseinandersetzung mit dem klassischen Erbe an den Wurzeln zu studieren - am kompositorischen Werdegang des Symphonikers, beginnend mit seinen ersten Orchesterwerken.

Z: 4 Orchesterstücke Nr. 1: Marsch

Anton Bruckner ist ein Spätberufener - ein Komponist, der er spät seine eigentliche Berufung erkannt hat: die Bestimmung zur Komposition von Orchestermusik und zur Erneuerung der Symphonie. Vom Dezember 1861 bis zum Juli 1863 studierte der 1824 Geborene bei dem Linzer Theaterkapellmeister Otto Kitzler Formenlehre, Instrumentation und Komposition - nachdem er zuvor mehrere Jahre lang intensive musiktheoretische Studien unter Anleitung des berühmten Simon Sechter betrieben hatte. In der Studienzeit bei Kitzler komponierte Bruckner ein Streichquartett und später vier Orchesterstücke. Das erste Orchesterstück ist ein Marsch in d-moll. Er beginnt mit einem schulgerechten Teil: Man hört eine achttaktige Periode, die von d-moll nach F-Dur führt: Leise beginnend, sich steigernd bis zu einem markanten Tutti-Höhepunkt und anschließend rasch wieder abdämpfend.

Z: Marsch T. 1-8 (ohne Wiederholung)

Schon in dieser kleinen Studienarbeit gelingt es Bruckner, eigenständige Lösungen zu finden - beispielsweise in den harmonischen Wendungen, die in die neue Tonart führen, und in der Instrumentation, die die klassische Orchesterbesetzung um 3 Posaunen erweitert. So zeigen sich erste Andeutung von Bruckners späterem sinfonischen Monumentalstil.

Im weiteren Verlauf wird dies noch deutlicher: Zu Beginn des 2. Teiles spielt wiederum das ganze Orchester, und auch diesem Tutti folgt ein Rückgang: Die Orchestermasse reduziert sich auf die Streicher und einige Bläser, ein Decrescendo führt vom forte zum piano zurück. Besonders auffallend ist hier ein interessanter koloristischer Effekt: Bruckner setzt auch im Decrescendo die Pauken und verschiedene Blechbläser ein - zuerst Trompeten und Horn; später, im piano, das volle Blech mit allen drei Posaunen.

Z: Marsch 2. Teil Anfang T. 9-16 (aufhören vor Repriseneinsatz)

Erst am Schluß des Stückes wird vollends deutlich, welche Bedeutung diese leisen Blechbläserpassagen im Gesamtzusammenhang haben: In der Coda kehren sie wieder - jetzt allerdings in triumphaler Vereinigung mit den vorher gehörteön Tutti-Fanfaren.

Z: Marsch 2. Durchgang 2. Teil - anschließend Höhepunkt Coda

Anton Bruckners 4 Orchesterstücke sind erste Auseinandersetzung mit Instrumentalmusik in größeren Besetzungen - zunächst nur in kleineren Formen. Erst nach der Vollendung dieser Stücke begann Bruckner mit der Komposition eines größeren Orchesterwerkes: der Ouverture in g-moll.

Z: Ouverture g: 0´´ bis vor 1´47 (aufhören vor Einsatz des schnellen Themas)

Bruckners erstes umfangreicheres orchestrales Studienwerk beginnt wie eine klassische Ouverture: Mit einen Tutti-Akzent.

Z: Ouverture 1. Tuttiakzent 0´´ bis vor 11´´ (aufhören vor Cello-Einsatz)

Die Takte, die dem Eröffnungs-Akzent folgen, machen deutlich, daß diese Musik in erst in nachklassischer Zeit entstanden sein kann: Eine melancholische, an die Frühromantik erinnernde Cellokantilene steigt auf; über den dunklen Begleitharmonien von 2 Fagotten mündet sie in drei sich steigernden Seufzermotiven.

Z: 1. Cellokantilene: 11´´ - vor 25´´ (aufhören vor 2. Tuttiakzent)

Romantische Musik in klassischen Formen: So präsentiert sich Bruckners Ouverture in g-moll, die vom 6. bis 22. Januar 1863 komponiert wurde und die erst 1921 uraufgeführt worden ist (also 25 Jahre nach dem Tode des Komponisten). Der laute Beginn und die leise, etwas längere Fortsetzung sind offensichtlich von klassischen Vorbildern inspiriert, wie man sie nicht nur zu Beginn klassischer Ouverturen finden kann, sondern auch in langsamen Einleitungen klassischer Symphonien zum Beispiel bei Joseph Haydn.

Z: Haydn, Sy. 99 Es, Ia Einl. 0´´ - 1´44 (Unisono g, aufhören vor Überl.akk. zum Allegro)

(evtl. nur bis 20´´, aufhören vor Aufgang zum 3. Akzent, nach Pause)

(oder nur bis Generalpause bei 1´02)

Haydn beginnt seine 99. Symphonie in Es-Dur im Zeichen des Kontrastes: Starker Tutti-Akzent - leise, rhythmisch flüssige melodische Fortsetzung. Erst im weiteren Verlauf ändert sich das Bild: Es bilden sich Keime für dramatische Entwicklungen, die über die klassischen Kontrastbildungen hinausführen: Im Spätwerk Haydns zeigen sich Wandlulngen des klassischen symphonischen Stils, die bereits auf Späteres vorausweisen - zum Beispiel auf die zweite Symphonie von Beethoven.

Z: Beethoven, 2. Sy Ia vollst. 0´´ - 3´01 (1. Ton des schnellen Satzes: letzter Ton der Blende)

(evtl. bis Anfang Seitensatz: 0´´ - 3´57 Seitensatz Anf., aufhören vor forte-Akzent)

Musik, die von Kontrasten ausgeht und von diesen Kontrasten zu dramatischen Entwicklungen überleitet, gibt es nicht nur beim späten Haydn und beim jungen Beethoven, sondern auch in früher Orchestermusik von Anton Bruckner. Bruckners Ouverture in g-moll beginnt in ihren formalen Umrissen und in ihren Formprozessen ähnlich wie die 2. Symphonie von Beethoven: Im Wechsel von Akzent und Beruhigung - im gesteigerten Kontrast mit den Keimen einer prozeßhaften Entwicklung - in einer Überleitung zum schnellen Satz (der leise beginnt, später im kräftigen Tutti weitergeführt wird und sich danach wieder beruhigt).

Z: Bruckner, Ouverture g-moll Anfang - längerer Ausschnitt 0´´ - 3´15 (Seitensatz Vs-Ende)

Bruckners g-moll-Ouverture ist eine Studienarbeit, die Vergangenes aufarbeitet und zugleich in die Zukunft weist. Zu hören ist ein streng gefügter Sonatensatz mit langsamer Einleitung - aber auch eine Musik, die immer wieder aus dem klassischen Ebenmaß ausbricht: bald in weiträumig wachsenden und abnehmenden Spannungskurven, bald in jähen, blitzartig hervorschießenden Kontrasten.

Der janusköpfige Charakter dieser Musik, ihr Schwanken zwischen Tradition und Fortschritt, tritt auch in der Durchführung deutlich zu Tage: Einerseits ist deutlich zu erkennen, daß das Thema streng verarbeitet wird, ähnlich wie in Durchführungen Haydns und Beethovens - versetzt in verschiedene Tonarten, mit Aufspaltungen in kleinere melodische Bruckstücke und mit deren Verarbeitungen; andererseits zeichnet sich deutlich ab, daß Bruckner Beethovens Durchführungstechniken hier zum ersten, aber auch zugleich zum letzten Mal verwendet: Die Motiv-Zergliederungen werden eingeschmolzen in eine große Bogenform - eine erste Vorahnung der sinfonischen Wellen, die Bruckner später komponiert hat; eine Vorahnung von größeren Formentwicklkunglenl, die die motivischen Details und Verarbeitungen gleichsam in sich aufsaugen.

Z: Bruckner, Ouverture g Durchführung 5´54 - (7´32 Anf. Reprise) 7´42

aufhören vor Weiterführung des Reprisen-Hauptthemas nach As-Dur

Als Anton Bruckner seine Orchester-Ouverture komponierte, war er bereits 38 Jahre alt. Er, den Richard Wagner später als den wichtigsten Symphoniker nach Beethoven rühmen sollte, begann mit der Komposition selbständiger Orchesterwerke in einem Lebensalter, in dem Beethoven bereits seinen symphonischen Reifestil gefunden hatte. Um so mehr überrascht es, wie stark in Bruckners ersten Orchesterwerken eine durchaus originelle Tonsprache und jugendlich-ungestüme Ausdruckskraft sich mit großer formaler Sicherheit verbinden. Aus der Sicht einer späteren Zeit könnte dies insofern erstaunlich erscheinen, als Bruckner darauf verzichtet hat, seine frühen Orchesterwerke noch zu seinen Lebzeiten aufführen zu lassen: Vier Orchesterstücke, die Ouverture und zwei Symphonien, die vor der heute als "Erste Symphonie" bekannten c-moll-Symphonie entstanden sind.

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Anton Bruckners Symphonie in f-moll entstand zwischen dem 15. Februar und dem 26. Mai 1863. In diesem Werk - ähnlich wie in den zuvor entstandenen Orchesterstücken - finden sich durchaus unterschiedliche Gestaltungsprinzipien. Zu Beginn des ersten Satzes stehen plastische Kontraste im Vordergrund. Erst im weiteren Verlauf kommt es zu prozeßhaften Entwicklungen, die größere Zusammenhänge überbrücken.

Z: Studiensymphonie f-moll Anfang bis Seitensatz 1. Zäsur (Vs Ende - Pause) 0´´ - 1´57

In der f-moll-Studiensymphonie steht Altes neben Neuem, Konventionelles neben Unkonventionellem, das Reguläre neben dem die Regel Durchbrechenden. Selbst dann, wenn bestimmte kontrastierende Gruppen im regelmäßigen Wechsel erscheinen, bricht Bruckner die formale Einfachheit im Detail auf. Im ersten Satz spielen dabei dynamische Kontraste eine wichtige Rolle. An anderen Stellen verwendet Bruckner subtilere Mittel - zum Beispiel im Scherzo-Trio, wo er mit unregelmäßigen Taktgruppierungen arbeitet.

Z: Studiensymphonie f-moll, (Scherzo-)Trio, 2´30 - 4´04

Auffallend ist die ausgeglichene Binnenstruktur des Trios und seine klare Abgrenzung vom Scherzo-Hauptteil. Diese beiden Merkmale sind auch für die Trios in späteren Symphonien Bruckners typisch. Sie sind erstaunlich, weil sie den Eindruck erwecken könnten, daß Bruckner seine Scherzo-Trios einfacher baute, als es vor ihm Beethoven tat: In Beethovens symphonischen Trios kann man immer wieder feststellen, daß er sich niemals für längere Zeit mit regelmäßigen Gliederungen begnügt; fast immer werden sie an irgendeiner Stelle aufgebrochen - zum Beispiel aufgerissen durch heftige dynamische Kontraste in dem (zunächst leise beginnenden) Trio der 2. Symphonie.

Z: Beethoven II 3b Trio vollständig: leiser Beginn - ff-Ausbruch (Anf. 2. Tl.) - Reprise,

1´52 - 2´30 (2´57 mit Wiederholung des 2. Teils)

Wenn man Symphonien Beethovens und Bruckners miteinander vergleicht, können sich ganz unterschiedliche Resultate ergeben - je nachdem, von welchem Modell eines Symphoniesatzes man ausgeht - von einem Scherzosatz, einem langsamen Satz, einem Eröffnungssatz oder einem Finalsatz. Wenn man verschiedene Scherzosätze Beethovens und Bruckners miteinander vergleicht, kann man feststellen, daß die Scherzo-Hauptteile Bruckners deutliche Ähnlichkeiten zu Vorbildern Beethovens erkennen lassen; ganz anders als Beethoven behandelt Bruckner jedoch seine Triosätze. Dies zeigt sich schon in seinem zweiten sinfonischen Versuch - im Trio einer d-moll-Symphonie, die zwischen Oktober 1963 und Mai 1864 entstanden ist. Dieses Stück läßt eine gesangliche Geschlossenheit und einen harmonischen Farbreichtum erkennen, wie man sie in Beethovens sinfonischen Trios nicht findet.

Z: Nullte Trio 2´16 - 4´08 Chailley

Die d-moll-Symphonie aus den Jahren 1863 und 1864 hat Brucknet zunächst als seine erste volgültige Symphonie angesehen und dementsprechend als "Erste Symphonie" bezeichnet. Erst später entschloß er sich dazu, diese Komposition nur noch als "nullte" Symphonie gelten zu lassen - und dies, obwohl in dieser Musik bereits wichtige Merkmale auch der späteren symphonischen Werke Bruckners erkennbar sind. Besonders deutlich wird zu Beginn des Scherzos.

Z: Nullte Scherzo 1.Teil 0´´ - 49´´: Einleitung - Th; W mit Modulation und Kadenz

Es gibt musikalische Gesten, die in mehrfacher Weise charakteristisch sind - typisch nicht nur für ein bestimmtes Werk oder für das oeuvre eines bestimmten Komponisten, sondern auch für ein bestimmtes musikalisches Genre. Fragen nach solchen Gesten können sich beispielsweise dann stellen, wenn man einen besonders prägnanten Satzanfang hört. Dann kann man sich fragen: Ist ein solcher Anfang einmalig und unwiederholbar - oder prägt er eher einen bestimmten Typus von Musik, so daß er auf ähnliche Weise auch anderen Kompositionen vorkommen könnte?

Der Scherzosatz von Anton Bruckners früher d-moll-Symphonie wird eröffnet mit einer solchen Anfangsgeste in ihrem dritten Satz - einem Scherzo: Das Stück beginnt mit einem kräftigen, anfangs kurz umspielten Grundton.

Z: Nullte, 3: 1. Motiv, Takt 1: umspielter Grundton, 0´´ bis 1´´

Vom markierten Grundton aus schießt die Tonbewegung in die Höhe: Aufspringend zu Quinte und Oktave - danach chromatisch, in engen Schritten, noch weiter aufsteigend (um eine weitere Quinte) bis zu einem neuen, wieder markierten Ton

evtl. Z: Nullte, 3: Vordersatz - Aufstieg zur Dominante (Sprünge, Chromatik), T. 1-, 0´´ - 3´´

Am stärksten wird der melodische in den Schlußtakten des kurzen Einführungsabschnittes: Aufsteigend bis zu Tönen der Grundharmonie in höchster Lage - von dort rasch und weiträumig zurückfließend zur Dominante (in einem tieferen Oktavraum) - mit einer Tonleiter, die sich abschließend verlangsamt und chromatisch verdichtet.

evtl. Z: Nullte, 3: Einleitung nach umspieltem Dominantton, 3´´ - 8´´

Achtel kurz aufwärts, weit abwärts - Beruhigung

Im Gesamtzusammenhang des Einleitungsabschnittes erkennt man zunächst einen sich melodisch und rhythmisch mehr und mehr belebenden Anfang, dann - in ungebremster dynamischer Energie - eine melodische Weiterführung, die erste Impulse zu einer melodischen Beruhigung gibt.

Z: Nullte, 3: Einleitungsabschnitt T. 1 - 10 (Pause), 0´´ - 8´´

Was in der Einleitung angekündigt worden ist, erfüllt sich im weiteren Verlauf: Nach der vorausgegangenen melodischen Beruhigung und einer Pausenzäsur ändert sich die Musik: Plötzlich klingt sie viel leiser als zuvor - als dynamische Abschwächung und Beruhigung, die aber den Keim zu künftigen Steigerungen bereits in sich trägt.

Z: Nullte, 3: leiser Themeneinsatz 9´´ - 19´´ (aufhören vor Einsatz der Wiederholung)

T. 12 bis T. 26 Pause (oder evtl. nur bis T. 20 Melodiepause)

Im Stadium der Beruhigung verbleibt die Musik nicht lange: Die Fortsetzung wird im größeren Zusammenhang zum Ansatz einer Steigerung. Neue Instrumente kommen hinzu - zunächst eine leise, aber prägnante hohe Flötenfigur; dann anschwellende Bläserakkorde, die bis zum kräftigen Tutti zurückführen.

Z: Nullte, 3: Thema 9´´ - 19´´

Die Formentwicklung geht aus von einem eröffnenden Kontrast, und sie führt zur mächtig ausladenden Steigerung. Im größeren Zusammenhang wird dieser Prozeß noch deutlicher: Das Thema erscheint zweimal - jedes Mal leise einsetzend und anschließend sich steigernd. Die zweite Steigerung ist viel weiter ausladend gestaltet als die erste

Z: Nullte, 3 : Einführung - Thema und Wiederholung, 0´´ - 45´´ (Schlußpause 1.Teil)

Am Anfang dieses Scherzos finden sich Charakterzüge, die auch in späteren Scherzosätzen Bruckners zu finden sind: Ein kräftiges Eröffnungssignal als Einleitung - ein leise einsetzendes Thema, das sich anschließend rasch wieder steigert. In dieser Weise gestaltet ist auch der Scherzobeginn einer anderen Symphonie, die unmittelbar nach der frühen d-moll-Symphonie entstand - der Beginn eines Scherzos in g-moll.

Z: I 3 Anfang Einleitung - Thema, 0´´ - 47´´ (Schlußpause 1. Teil)

Das Scherzo in g-moll ist der 3. Satz einer 1866 vollendeten Symphonie in c-moll, die ursprünglich "Zweite Symphonie" heißen sollte. Später hat sich Bruckner entschlossen, die frühe d-moll-Symphonie unveröffentlicht zu lassen und der ihr folgenden c-moll-Symphonie den Namen "Erste Symphonie" zu geben. Im Scherzosatz dieser Symphonie wird deutlich, daß Bruckner frühere Ansätze weiterentwickelt - mit zunehmender Prägnanz und Gestaltungskraft.

Auch im Scherzosatz der zweiten Symphonie verstärkt sich die Prägnanz der Gestaltbildung und Formgestaltung weiterhin. Dies führt so weit, daß Bruckner hier auf eine zum Thema hinführende Einleitung verzichtet; statt dessen setzt er gleich mit dem Thema ein. Die beiden kräftigen Anfangssignale sind nicht etwa Markierungen einer Einleitung, sondern sie sind bereits Bestandteile des Themas selbst, das kräftig einsetzt, etwas leiser sich fortsetzt und sich anschließend insgesamt wieder steigert.

Z: II 3, 1. Teil 0´´ - 42´´ Schlußpause

Bruckners frühe Scherzi setzen ähnlich ein wie das letzte symphonische Scherzo, das Beethoven komponiert hat: das Scherzo der 9. Symphonie. Auch dieses Stück beginnt mit einer kräftigen Einleitung, der dann das Thema folgt - leise einsetzend, anschließend sich steigernd.

Z: Beethoven IX 2 Anfang bis G-Dur 0´´ - 40´´

Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen den Scherzoanfängen der letzten Beethoven-Symphonie und der ersten Symphonien Bruckners: Die Scherzo-Einleitungen Bruckners zur frühen d-moll-Symphonie und zu seinen beiden ersten c-moll-Symphonien sind themenfrend; sie haben mit dem jeweils folgenden Hauptthema keinen direkten Zusammenhang. - Anders ist es bei Beethoven: Schon in den ersten Motiven ist das Thema präsentiert - allerdings noch nicht als fertig ausgeprägte Gestalt, sondern als erste Vorahnung. Beethoven beginnt nicht dir ekt mit dem fertigen Thema, sondern mit einem Prozeß, der vom Keim dieses Themas ausgeht und schließlich zu diesem Thema führt. Dieses organisch entwickelnde Gestaltungsprinzip hat Bruckner erst in späterer Zeit übernommen - erstmals im Scherzo der 3. Symphonie. Das Hauptmotiv ist hier schon im ersten Takt zu hören - als leise, noch unbestimmte und vorläufige Andeutung. Hieraus entwickelt sich der gesamte folgende Formprozeß.

Z: III 3, 1. Teil 3. Fassung (Jochum) 0´´ - 50´´ oder evtl. 1. Fassung Inbal

Bruckner komponiert in seiner 3. Symphonie ähnliche Steigerungsverläufe wie der späte Beethoven; im Detail stalter er sie allerdings ganz anders aus: Nicht in polyphoner Verdichtung, sondern in der organischen Verwandlung einzelner Melodielinien in die volle Harmonie des ganzen Orchesters. So ergibt sich ein bruchloser Formprozeß, der sich - ausgehend von einfachsten Elementen - organisch entfaltet. Bruckner hat sich dabei offensichtlich nicht nur am Scherzo der neunten Symphonie von Beethoven orientiert, sondern auch an dem Beginn ihres ersten Satzes, der aus einem leisen, kahlen Quintklang bis ins volle Orchestertutti führt.

Z: Be IX 1, Anfang bis Tuttithema d-e-f 0´´ - 45´´ (oder evtl. länger: bis Tutti in B incl.)

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(Beethovens revolutionärer Sinfonie-Beginn hat Bruckner immer wieder beschäftigt - schon in seiner ersten d-moll-Sinfonie, die offensichtlich im Geiste Beethovens beginnt, obwohl sie im Detail ganz anderen Klang- und Formgesetzen folgt.

Z: Nullte Anfang T. 1-4 (oder evtl. länger, je nach Sendezeit)

Bruckner beginnt ganz anders als Beethoven - nicht mit prägnanten Motiven, sondern mit Formventwicklung, die vom zunächst Ungeformten ausgehen. Seine frühe sinfonische Musik entwickelt sich gleichsam auf der Suche nach einem prägnanten Thema - einem Thema, das dann nie erreicht wird. Von solchen Formentwicklungen hat sich Bruckner später gelöst.)

Die dritte Symphonie Bruckners, die in vielen Details Formprobleme seiner frühen Sinfonie in d-moll wieder aufgreift, verbindet am Anfang ihres ersten Satzes die prozeßhafte Entwicklung mit einer von Anfang an klar vorgestellten thematischen Gestalt.

Z: III 1, 1. Fassung Einleitung; Länge je nach Sendezeit (z. B. bis Anf. Seitensatz)

Bruckner hat seine dritte Symphonie mehrfach überarbeitet. Im Vergleich der verschiedenen Bearbeitungen wird deutlich, wie stark seine kompositorische Arbeit geprägt ist einerseits von der Suche nach vollständig ausgeformten, in sich vollkommenen Details, andererseits von dem Versuch ihrer Einbindung in großangelegte, sinnfällige Formverläufe. Auch die Auseinandersetzung mit dem Vorbild Beethoven läßt in diesem Zusammenhang keine eindeutige Lösung zu. Es ergaben sich in den verschiedenen Fassungen verschiedene Lösungen - auch für den Anfang der 3. Symphonie. Die 2. Fassung folgt dem formalen Aufriß der ersten, ist jedoch an vielen Stellen anders ausgearbeitet.

Z: III 1, 2. Fassung - Ausschnitt entsprechend wie in voriger Zuspielung

Die 1878 vollendete 2. Fassung unterscheidet sich von der ursprünglichen, 1873 vollendeten Version in vielen Details - vor allem in wichtigen Einzelheiten des Satzbildes und des Periodenbaus. Schon an den verschiedenen Versionen des Symphonie-Anfanges wird deutlich, daß Bruckner in der Auseinandersetzung mit dem Symphoniker Beethoven eine immer wieder neu zu stellende Aufgabe gesehen hat. Der symphonische Neuerer Beethoven hat dem symphonischen Neuerer Bruckner den Weg gewiesen - einen Weg allerdings, der erst nach mehreren intensiven Ansätzen der Suche gefunden wird und in jeder veränderten Situatio neu gefunden werden muß.

Die großformale Lösung, die Beethoven in seiner 9. Symphonie fand - die Hinführung zur Verbindung des Orchesters mit Text und Singstimmen im Finalsatz - hat einen Weg aufgezeigt, der später für Wagners Musikdramen wichtig werden sollte. Bruckner aber ging einen anderen Weg. Für die Finalsätze seiner Symphonien suchte er nach anderen, rein instrumentalen Lösungen. Wie diese Lösung im Finale seiner IX. Symphonie ausgefallen wäre, läßt sich nur in Ansätzen erkennen, da diese Symphonie Fragment geblieben ist. Bruckners letztes definitives Wort zu Beethoven wird deswegen anderer Stelle gesagt - am Schluß des ersten Satzes seiner neunten Symphonie. Im Zusammenhang der Symphonik des späten Bruckner verwandelt sich Beethovens aufwühlende Dramatik in ein neues, in weiträumigen Prozessen entwickeltes Formdenken. Das Ziel dieser Entwicklung erscheint im ersten Satz der letzten Symphonie in greller Schärfe - in einem großräumig zusammenhängenden, bogenförmigen Formprozeß, der keine Themen-Wiederholung mehr kennt; in einer Schärfe, die Bruckner, wenn er das Finale vollendet hätte, wahrscheinlich später in einer Apotheose aufgehoben hätte. Diese Apotheose hat Bruckner nicht vollendet. Seine Antwort auf Beethoven ist Fragment geblieben - eines der größten Fragmente der Musikgeschichte.

Z: IX 1 - Länge je nach Sendezeit (u. U. Anfang kürzen, so daß die Sendung mit dem Satzende schließt - oder evtl. längerer Ausschnitt von Anfang)

und oder evtl. Finale IX längerer Ausschnitt von Anfang

Bruckner (2)

Z: IV 3b vollst. Fassung 1878 Jochum

Anton Bruckners Musik steht in einem eigentümlichen Spannungsfeld zwischen Traditionsbezogenheit und Aktualität. Seine Symphonien, die zu der avanciertesten Musik ihrer Zeit gehören, kennen Ruhepunkte, an denen versöhnlich Traditionelles und ungebrochen Volkstümliches scheinbar ungebrochen im Vordergrund stehen. In seinen Symphonien übernimmt Bruckner unbefragt die klassische Viersätzigkeit - und selbst diejenigen Stellen, an denen sich in seinen Symphonien Traditionelles und Populäres findet, sind vom traditionellen Ablaufsschema vorbestimmt: Sie erscheinen im Zentrum des populärsten Symphoniesatzes - im Trio des Scherzosatzes, der aus dem Menuett hervorgegangen ist.

Das Trio der 4. Symphonie, das seine definitive Fassung im November 1878 gefunden hat, ist eines der einfachsten und populärsten Stücke Bruckners. Diese Einfachheit ist nicht das Ergebnis rascher spontaner Eingebung, sondern das Resultat eines langwierigen kompositorischen Arbeitsprozesses. Ursprünglich, in der ersten Fassung aus dem Jahre 1874, hatte Bruckner ein ganz anderes, viel weniger volkstümliches Trio vorgesehen - eine Musik, die, anders als die Endfassung, keinerlei volkstümlich-tänzerische Assoziationen zuläßt.

Z: IV 3b Fassung 1874, Inbal 5´26 - 7´36

Wenn Anton Bruckner in der Endfassung seiner 4. Symphonie das endgültige Scherzo-Trio zum Tanzsatz vereinfacht, so läßt sich dies als bewußte Rückwendung in die Vergangenheit deuten. Bruckner stellt sich hier in eine Tradition, die Joseph Haydn noch in seiner letzten Symphonie respektierte: Im Zentrum des 3. Symphoniesatzes enthüllt die Instrumentalmusik ihre Herkunft aus dem Tanz.

Z: Haydn 104 3b, B-Dur-Trio - ohne Rückleitung zum D-Dur-Menuett

In einigen Scherzosätzen Anton Bruckners sind noch Traditonen lebendig, die zuvor bereits Ludwig van Beethoven überwunden zu haben schien. Bruckner bekennt sich in diesen Sätzen zu einem ungebrochenen Verhältnis zur Tradition, das eigentlich selbst zur Zeit Haydns schon nicht mehr unbefragt existierte: Das idyllische Trio als vollkommen selbständiges Mittelstück eines Menuett-Satzes ist schon bei Mozart nicht mehr selbstverständlich. Selbst dann, wenn Mozart mit Anklängen an Volksmusik arbeitet, kann es vorkommen, daß diese im symphonischen Kontext gebrochen erscheinen. Das Trio seiner großen Es-Dur-Symphonie beginnt als Tanzsatz mit dudelnden Klarinetten und sparsamen Begleitmustern von Streichern. Im weiteren Verlauf aber wird deutlich, daß es hier nicht um unverfälscht Volkstümliches geht, sondern um dessen Darstellung in einer hochartifiziellen Stilisierung. Dies erkennt man beispielsweise an den Klarinettenfiguren: Mozart übertreibt sie in einer humorvollen Karikatur, daß sie niemals zu Ende kommen - und deswegen kommt es im Trio zu keiner Abschlußzäsur. Statt dessen geht der Triosatz am Ende bruclos über in die Wiederkehr des kräftigen Menuettsatzes. Das Trio steht also nicht mehr für sich, sondern es wird eingeschmolzen in einen größeren Formzusammenhang.

Z: Mozart: Symphonie Es KV 543, IIIb - 1. Teil IIIa (evtl. IIIa vollständige Reprise)

Bruckner war nicht der einzige Komponist des 19. Jahrhunderts, der in seinen Symphonien zu kleinen Lied- und Tanzformen viel mehr Zutrauen hatte als Beethoven oder selbst Mozart. Wenn man nach möglichen Vorbildern für Bruckners Tanzrhythmen sucht, könnte man an Klavier-Tänze von Franz Schubert denken.

Z: (Evtl. Zus.schnitt:) Bruckner IV 3b Anfang - Schubert Trio zum Walzer Deutsch 139

oder evtl. ein Ländler aus Deutsch 145

Wenn man in Bruckners Musik nach frühen Spuren einer Vorliebe für Tanzmusik sucht, kann man auf frühe Klaviermusik stoßen, die vom späteren Symphoniker noch kaum etwas ahnen läßt - beispielsweise auf einen Steiermärker aus dem Jahre 1850. Dieses kurze Stück des 26jährigen ist denkbar einfach gestaltet - ein verspätetes Frühwerk eines Komponisten, der seinen kompositorischen Weg erst später finden sollte.

Z: Steiermärker 1850

Von Bruckners frühen Klavierstücken ist ein weiter Weg zu einen Symphonien. Erst in seiner 3. Symphonie ist deutlich zu erkennen, daß selbst einfache Tanzformen in einer hochdifferenzierten Kompositions- und Instrumentationstechnik jetzt in völlig verändertem Licht erscheinen - mit prägnanten Motiven, kühnen Harmoniewendungen und kräftigen, originellen orchestralen Farben.

Z: III 3b 1. Fassung Inbal

Deutliche Anspielungen an Tanzcharaktere finden sich bei Bruckner vor allem in den Scherzosätzen seiner dritten und seiner vierten Symphonie. Weder in früheren noch in späteren Symphonien spielen sonst Tanz-Assoziationen noch eine wesentliche Rolle. Dennoch ist auch in den anderen Scherzosätzen offensichtlich, daß Bruckner hier besonderen Wert auf die Respektierung traditioneller Formgesetze legt. Im strengen dreiteiligen Aufriß seiner Scherzosätze orientiert er sich eher an Mozart oder Haydn als an Beethoven oder Schumann. Auffällig ist, daß alle Triosätze Bruckners vollständig selbständig beleiben gegenüber dem Scherzosatz und seiner späteren Reprise.

Bruckners Trios sind durch Anfangs- und Schlußpausen innerhalb der vollständigen Scherzoform deutlich abgegrenzt. Um diese Abgrenzung deutlich zu machen, verfährt Bruckner orthodoxer als selbst Haydn, der in seiner letzten Symphonie das Trio nicht unverbunden stehen ließ, sondern es mit einer Rückleitung ergänzte und so zur Reprise des Menuetts führte.

Z: Haydn 104 III b vollst. oder ab 2. Teil oder ab 2. Teil Wiederholung - bis Anfang Menuet

(bis Ende 1. Teil des Menuetts oder bis Ende Menuett und damit Satzende)

Bruckners Scherzi sind in ihrer Traditionsbezogenheit so eingängig, daß sie schon zu seinen Lebzeiten selbst von seinen Gegnern einiger zumindest partieller Anerkennung gewürdigt wurden. Kritisch beurteilt wurden die Scherzi eher von Musikern, die auf dezidierte Modernität achteten. Zu dieser Gruppe von kritisch-modernistischen Schülern gehöerten sogar einige Schüler Bruckners. Diese Schüler standen manchen Aspekten der Kompositionsweise Bruckners durchaus kritisch gegenüber. Ihre Kritik führte so weit, daß Bruckners Partituren retuschiert wurden - beispielsweise in Überleitungen vom Trio zum Scherzo, mit denen die originalen Generalpausen Bruckners gleichsam übermalt wurden.

Z: evtl. übermalte Überleitung Trio - Scherzo: Knappertsbusch - vielleicht IV 3? oder III 3, V 3?

(V als CD vorhanden)

Für Abweichungen von der streng dreiteiligen Scherzoform hat sich Bruckner kaum interessiert. In seinen Symphonien findet man weder wiederkehrende Trios (wie bei Beethoven) noch mehrere verschiedene Trios (wie bei Schumann). Meistens wird bei Bruckner nach dem Trio der Scherzo-Hauptsatz unverändert wiederholt. Die Wiederholung bleibt meistens unverändert bis in die Schlußtakte hinein. Nur in einigen frühen Symphonien hat Bruckner Satzschlüsse komponiert, die, alo Coda, erst nach Abschluß der Reprise gespielt werden dürfen (nicht schon nach dem ersten Schuß des Menuetts, dem dann der Einsatz des Trios folgt) - Scherzo-Schlußtakte also, die nur ein einziges Mal erklingen.

Z: Zusammenschnitt Codas: ev. Nullte - I 3 - II 3

Bruckners Vorliebe für die traditonelle dreiteilige Scherzoform war den Traditionalisten seiner Zeit wohl eher sympathisch; Kritik erregten Bruckners Scherzi eher bei avancierten Anhängern, die sonst die kompositorischen Innovationen Bruckners zu nützen wußten. Auch das hat zu Retuschen von fremder Hand geführt. Beispielsweise gibt es eine retuschierte Fassung der IV. Symphonie, in der Bruckners wörtliche Scherzo-Reprise pseudo-modernisiert ist, und zwar durch eine brutale Kürzung. Inzwischen wird diese gekürzte Fassung allerdings glücklicherweise nicht mehr gespielt, so daß man sie nur noch auf historischen Schallplattenaufnahmen zu hören bekommt.

Z: IV 3, gekürzte Scherzo-Reprise Knappertsbusch 6´21 - 6´52 Ges (Anf. 2. Teil) (6´55 2. Pause)

Wer das Scherzo von Bruckners vierter Symphonie in einer historischen Aufnahme mit Hans Knappertsbusch hört, kann feststellen, wie das Scherzo in der Wiederkehr nach dem Trio verstümmelt wird: Eine gewaltige Steigerung mündet, einigermaßen paradox, in einem einzigen Ton der Streichbässe. Was Bruckner wirklich komponiert hat, ist in dieser Aufnahme nur im ersten Durchgang des Scherzos zu hören: Die Steigerung mündet in schmetternden Blechbläser-Fanfaren. Der gehaltene Ton kommt nach Bruckners Anweisung erst viel später: Nach dem Höhepunkt einer zweiten, noch mächtigen Steigerungswelle; zu Beginn des zweiten, ruhiger einsetzenden Teiles.

Z: IV 3, 1. Scherzodurchgang Knappertsbusch (ungekürzt) 0´´ - 1´42 Ges Bassi (evtl. länger)

Einige Schüler Bruckners, die viel für die Verbreitung seiner Musik getan haben, hielten es für richtig, die Symphonien ihres Lehrers nur in gekürzter Form aufzuführen. Von den Kürzungen war in den von ihnen retuschierten Partiturausgaben vor allem wiederkehrende Teile, also Reprisen, betroffen. Dies entsprach einer Auffassung, die im 19. Jahrhunderts gerade unter modern eingestellten Musikern weit verbreitet war. Damals gab es eine weit verbreitete Vorliebe für dramatische und sich entwickelnde Musik. Erst längere Zeit nach Bruckners wurden, im Vergleich mit Bruckners originalen Vorlagen, die Kürzungen und Retuschen von fremder Hand bemerkt - auch etliche von Wagners Mischfarbenästhetik inspirierte Änderungen der originalen Instrumentation Bruckners. Erst seit dieser Zeit wurde es möglich, Bruckners Werke in ihren Originalfassungen durchzusetzen. Deutlich wurde, daß die von Bruckners Schülern gekürzten Fassungen weniger überzeugten als Bruckners längere Originalversionen.

evtl. Z: IV 3 bis Anfang Durchführung, ungekürzt, z. B. Furtwängler, Rosbaud, Wand oder Jochum

Bruckner, der innovative Symphoniker, hat die Traditionen, die er weiter entwickelte und vo innen heraus veränderte, niemals verleugnet. Was selbst seine gutwilligen Schüler störte, erschien ihm selbst offensichtlich unverzichtbar: Das Festhalten an klassischen Formgesetzen der Symmetrie und der wörtlichen Wiederkehr - als Gegengewicht zur mächtigen Formdynamik im Inneren der wiederkehrenden Formteile. Bruckners Symphoniesätze brauchen ihre Zeit der formalen Entfaltung - und zwar nicht nur in ihren weit ausladenden Steigerungsprozessen, sondern auch in ihren architektonisch ausgewogenen Reprisen großer Formteile. Auch für seine Musik gilt das Kompliment "himmlischer Längen", das Robert Schumann der letzten Symphonie Schuberts machte. Seine Musik braucht ihre Zeit nicht nur Darstellung ihrer Formdynamik und ihres großformalen Gleichgewichtes, sondern auch in der Ausgestaltung ihrer weit sich ausdehnenden Ruhezonen.

Z: Gesangsthema z. B. V 1 (bis Pause nach D-Dur) z. B. Knappertsbusch 3´42 - 6´04

oder VII 1 (aufhören vor Einsatz der Schlußsteigerung) z. B. Jochum, Celi, Furtwängler, Rosbaud

Bruckner präsentiert sich in seinen Symphonien nicht überall so, wie wir etwa aus vielen Anfängen seiner schnellen Sätze kennen - als der formale Dynamiker, der Beethovens dramatische Steigerungsentwicklungen fortgeführt und erweitert hat. In Bruckners Musik gibt es auch breit ausgesponnene, in sich ruhende Formgebilde - Musik, die nicht auf Beethovens Vorbild verweist, sondern auf andere Modelle der symphonischen Tradition.

Z: IV 2, 1. Fassung Inbal (bis GP vor Anf. SS), 0´´ - 3´07

Der langsame Begleitsatz der vierten Symphonie Bruckners beginnt mit einem ruhigen Begleitmotiv der Streicher. Später setzt eine Kantilene der Celli ein. So entsteht ein ruhiges, über längere Zeit hinweg sich erhaltendes Formbild. Wie sehr es Bruckner auf den Gesamteindruck ankam, geht daraus hervor, daß er ihn auch in einer neuen Fassung dieses Satzes beibehielt - und dies obwohl wesentliche Details verändert wurden, was schon an der ersten Begleitfigur zu hören ist.

Z: IV 2 HS bis GP vor SS, Neufassung, Jochum o. a. - z. B. Furtwängler 0´´ - 3´23

Im ständigen Miteinander von Melodie und obligater Begleitung entwickelt sich der Satz. Dies erinnert - trotz aller Unterschiede des Ausdrucks - an den langsamen Satz in Franz Schuberts letzter Symphonie - der großen Symphonie in C-Dur: Musik mit liedhafter Melodik und Begleitung.

Z: Schubert IX 2 1. Teil

In Schuberts Musik gibt es zahllose Besonderheiten, die auf Bruckner vorausweisen - vor allem in seiner Harmonik. Besonders deutlich wird dies, wenn Schubert kühne harmonische Wendungen findet, die aus der Umfärbung eines einzigen Tones entstehen. Ein prägnantes Beispiel hierfür findet sich im ersten Satz von Schuberts Klaviertrio B-Dur: Vor dem Einsatz des Gesangsthemas mündet die Musik auf einem lange ausgehaltenen Ton; es ist derselbe Ton, mit dem anschließend das Gesangsthema beginnt. Der gehaltene Ton verwandelt seinen Charakter, er wird vom Schlußton eines Formteiles zum Anfangston eines neuen Teiles: zum Anfangston des Gesangsthemas. Diese Wandlung wird deutlich durch einen farbenreichen Harmoniewechsel: Es ist nicht ein klassisch markierender Ganzschluß von der Dominante aus, sondern eine harmonisch schwebende Umfärbung: die Ausweichung in eine weiter entfernte Tonart, in eine Mediante.

Schubert: Trio B-Dur 1. Satz: Überleitungsende - Seitensatz

1´47 (aufsteigende A-Dur-Tonleiter) - 2´24 (1. F-Dur-Kadenz) (oder evtl. 2´46, 2. F-Dur-Kadenz)

oder bis 3´38 Generalpause

Schubert läßt den Hörer vergessen, daß die neue Tonart des Gesangsthemas eigentlich genau diejenige ist, die man nach den klassischen Regeln erwartet: Die Dominante der Haupttonart B-Dur, also F-Dur. Das eigentlich Voraussehbare klingt bei Schubert völlig überraschend - und zwar deswegen, weil Schubert es auf ungewöhnliche Weise vorbereitet: Vor dem Einsatz des Gesangsthemas, im Überleitungsteil, entfernt die Musik sich so weit von dem erwarteten F-Dur, daß diese Tonart dann schließlich ganz plötzlich und unerwartet erscheinen lassen.

Z: Schubert Trio 1. Satz: Übergang A-Dur - F-Dur (kurz)

ab 1´47 (aufsteigende Tonleiter A-Dur) (2´03 Anf. SS-Begl.) bis (2´11 Ende Vs) 2´26 (Ende Ns)

Schuberts Kunst Verwandlung, die harmonische Umfärbung eines Tones, findet sich auch bei Bruckner - übrigens an genau entsprechender Stelle, nämlich bei der Einführung des Gesangsthemas; allerdings erscheint in Bruckners großer Symphonie ein völlig anderes Klangbild als in Schuberts Kammermusik. Bruckner markiert den triumphalen Schlußton seiner mächtigen sinfonischen Überleitung dadurch, daß er ihn, nach dem letzten Tutti-Akkordakzent, im Hornklang länger aushalten und so zur Ruhe kommen läßt. So bereitet dieser lange Ton den Weg für den Einsatz des Gesangsthemas.

Z: IV 1 Neufassung Einsatz Tutti bis Seitensatz (aufhören vor Ges-Dur oder vor lauter Forts.)

z. B. Furtwängler 1´30 Tutti mit Brucknerrhythmus - (vor 2´27 Ges leise) 2´35 laut

evtl. länger: rasch ausblenden nach 3´22 - Einsatz Orgelpunkt, Schlußsteigerung

Bruckners hommage à Schubert in seiner "romantischen" Symphonie ist keine spontan hingeschriebene Reminiszenz, sondern ein Ergebnis gründlicher Durcharbeitung: Der lange Horn, der bruchlos zum Einsatz des Gesangsthemas überleitet, findet sich erst in einer überarbeiteten Fassung dieses Symphoniesatzes. In der ursprünglichen Fassung hatte Bruckner vor dem Gesangsthema noch mit markanten Akkorden definitiv abgeschlossen - ohne den weiterklingenden Hornton, mit kräftigen Akzenten und und Generalpause.

Z: IV 1 1. Fassung Inbal 1´33 - (vor 2´23 Ges-Dur leise) (nach 3´07 rasch abbl. Orgelp.) 3´33 GP

oder evtl. Urfassung Gielen

Wenn man der Frage nachgeht, was der Symphoniker Bruckner von Franz Schubert gelernt hat, sollte man unter Schuberts Werken nicht nur die Symphonien studieren, sondern vor allem auch die Kammermusik. Von dieser aus ergeben sich, vor allem in den harmonischen Wendungen, oft tiefere Zusammenhänge als dann, wenn man nur die Symphonien beider Komponisten miteinander vergleicht. Allerdings lassen sich auch Gemeinsamkeiten zwischen beiden Symphonikern entdecken - unabhängig davon, ob und in welchem Ausmaße sich hier von Bruckner bewußt verarbeitete Einflüsse nachweisen lassen. Der lange, ausdrucksvolle Ton beispielsweise, der in den Beginn des beruhigenden Seitensatzes führt, findet sich auch in Schuberts Orchestermusik: Er erscheint, als breit ausgespielter Hornton, im ersten Satz der unvollendeten h-moll-Symphonie - hier allerdings noch in anderen Harmoniewendungen als beim späten Schubert oder später bei Bruckner.

Z: Unvollendete 1. Satz Schluß Überleitung - Anfang SS

54´´ letzter Steigerungsansatz (1´04 Eins. Hornton) bis Generalpause 1´48 Groves

Bruckner hat vieles von Schubert gelernt - nicht nur die harmonische Belebung des Tones, sondern auch die harmonisch farbenreiche Führung einer weit gespannten Gesangsmelodie. In großen Bögen geführte Gesangsmelodien finden sich vor allem in Schuberts Spätwerk. Schubert löst sich hier aus der klassischen Tradition, ein neues Thema vorzustellen und im unmittelbaren Anschluß daran nur einmal zu wiederholen, und zwar in derselben Tonart. Schubert hat neue Wege gefunden mit Verfahren, die sich in der klassischen Tradition nur selten finden lassen: Er läßt ein Thema (auch in verarbeiteter Form) häufiger wiederkehren - und er verändert dabei auch die Tonart.

Z: Schubert, Streichquartett D, op. 163, D 887: SS (+Schlußsatz).

moderne Aufnahme, möglichst Amadeus

notfalls Busch: 2´ nach GP G-Dur bis 5´ Einsatz Baßtremolo (schnelle) -

und/oder Streichquintett ab 1´28 G-Dur (1´43 Ton g) bis( 4´08 1. Ton Schls oder) 4´33 vor G f

Vor allem in seinen Gesangsthemen hat Schubert neue Ansätze gefunden, die sich vom Vorbild Beethovens lösen. Dabei hat er Lösungen gefunden, die in manchen Aspekten auf Bruckner vorausweisen beispielsweise im späten Streichquintett C-Dur, (an das später Bruckner anknüpft mit seinem Streichquartett F-Dur.

evtl. Z: Gesangsthema 1. Satz Streichquintett Gesangsthema in wechselnden Tonarten)

1´27 C-Dur, 1´51 As-Dur, 2´09 Ges-Dur, 2´28 Rückauflös: C (aufhören vor 2´39: Überl.)

Wie weit Schubert und Bruckner sich in ihren Gesangsthemen von Beethoven entfernen, läßt sich im Vergleich verdeutlichen: Beethoven bevorzugt in seinen Seitensätzen nicht die weitgespannte Gesangslinie, sondern den häufigen Wechsel der Motive zwischen verschiedenen Instrumenten. In seinen Seitensätzen beruhigt sich die Musik allenfalls vorübergehend, um anschließend rasch wieder zu neuen Steigerungsentwicklungen überzugehen.

Z: Be I 1, Seitensatz Anf. bis Exp. Ende: Davis ab 2´24, bis 3´37 1. Ton Exp-Wiederhol.

Bruckner folgt den Spuren Schuberts, wenn er in den Gesangsthemen seiner Symphonien weit geschwungene, harmonisch vielfältig beleuchtete Melodielinien gestaltet - beispielsweise im 1. Satz seiner 3. Symphonie.

Z: III 1 Gesangsthema 1. Fassung

Das Gesangsthema im ersten Satz der 3. Symphonie, die in d-moll geschrieben ist, beginnt schulgerecht in der parallelen Durtonart F-Dur. Im Folgenden aber zeigt sich, daß Bruckner von den Schulregeln abweicht und eigene Tonartenabläufe erfindet - im Geiste Schuberts. Bruckners Thema wiederholt sich mehrmals in stets wechselnden Tonarten. Den überraschend neuartigen harmonischen Bauplan erkennt man, wenn man die verschiedenen Themenanfänge miteinander vergleicht: Sie stehen in verschiedenen, chromatisch miteinander verwandten Tonarten. Beim zweiten Mal setzt das Thema einen Halbton höher ein als zuvor, beim dritten Mal einen Halbton tiefer; erst danach kehrt das Thema wieder in die Ausgangstonart zurück.

Z: III Gesangsthema Anfänge: F - Ges, E - F

Im letzten Satz von Bruckners dritter Symphonie wird noch deutlicher, wohin seine reichen, an Schubert und Späteren geschulten Harmoniewendungen führen: Zu einem quasi-unendlichen melodischen Liniengeflecht, das sich entwickelt in völliger Eigenständigkeit gegenüber Konzepten der "unendlichen Melodie", wie sie sich bei Richard Wagner finden. Bruckner findet andere Ansätze einer quasi unendlichen Melodik: immer wieder neu ansetzend, sich erfüllend und verwandelnd.

Z: III 4 1. Fassung SS 1´01 - 4´02

In Musik, wie sie Bruckner im Gesangsthema des Finalsatzes seiner 3. Symphonie erfunden hat, zeigt sich er stmals eine neue Perspektive des Komponierens und Hörens - eine Vision von Klangereignissen, wie sie erst im 20. Jahrhundert in Worten beschrieben werden konnten: Die Erscheinung von Klangereignissen, "die immer schon angefangen haben und unbegrenzt so weitergehen könnten." Mit diesen Worten hat 1960 Karlheinz Stockhausen die Aufmerksamkeit auf neue musikalische Perspektiven gelenkt, die gleichwohl bei Bruckner schon vorgeprägt sind: "Momentformen" nannte Stockhausen solche musikalischen Verläufe, die scheinbar das Zeitbewußtsein aufheben und sich ohne Anfang und Ende präsentieren.

Im finalen Gesangsthema seiner dritten Symphonie komponiert Bruckner Musik, die in sich ruht - Musik von einer inneren Ausgeglichenheit, die deutlich kontrastiert zu den mächtig ausladenden Steigerungsentwicklungen, wie sie Bruckner sonst so häufig verwendet.

An den breit ausgestalteten Ruhezonen seiner Musik hat Bruckner nicht weniger intensiv gearbeitet als an der Dynamik seiner großen sinfonischen Wellen. So erklärt es sich, daß er, als er seine 3. Symphonie überarbeitete, in einer zweiten Fassung auch den Gesangsabschnitt des letzten Satzes veränderte - in stärkerer Durchbildung und Konzentrierung der Details.

Z: III 4 2. (evtl. 3.) Fassung Gesangsthema (Kubelik, evtl. Jochum)

Im Schlußsatz von Bruckners 3. Symphonie erscheint eine Polyphonie völlig neuer Art: Man hört gleichzeitig einen Tanz und einen Chora - weltliche und geistliche Musik, deutbar auch Symbole des Lebens und des Todes. Verschiedene Musikstücke verbinden sich zu Musik höherer Ordnung - nicht nur verschiedene Tanzmusiken wie in Mozarts "Don Giovanni", sondern zwei vollkommen unterschiedliche Musikarten - in ähnlicher Weise, wie es später andeutungsweise bei Gustav Mahler und in voller Komplexität bei Charles Ives und John Cage geschieht. Dieser Ansatz ist auch für Bruckner selbst singulär geblieben. Er weist, auch über Bruckner hinaus, weit in die Zukunft.

Bruckners Choräle sind nicht nur religiöse Symbole, sondern auch Auseinandersetzungen mit aktueller Musik seiner Zeit - vor allem mit einem Werk Richard Wagners, das für Bruckner zum Schlüsselerlebnis geworden ist: Tannhäuser.

Z: Tannhäuser-Ouv bis 5´09 gis-fis dim

Richard Wagners choralartiger Pilgerchor präsentiert sich unzweideutig als religiös-szenisches Symbol: Schon das Orchestervorspiel soll, ähnlich wie eine Programmusik, die akustische Illusion eines Pilgerzuges erzeugen, der sich nähert und später wieder entfernt. So artikuliert sich zunächst in instrumentaler Vorahnung, was sich später erfüllt in Verbindung mit Text, Gesang und Szene: Die Erlösung des reuigen Tannhäuser aus der Gewalt des Venusberges. Der Schluß der Oper wird zu einer Apotheose, die alle verfügbaren Mittel des Klanges, der Darstellung und des Ausdrucks in einer umfassenden Synthese zusammenfaßt.

Z: Tannhäuser Schluß Pilgerchor-Apotheose

Wagners Lösung, der Durchbruch von der Instrumentalmusik zum Musiktheater, konnte für Bruckner kein Modell sein. Für waren, anders als für Richard Wagner, trotz Beethovens neunter Symphonie die Mittel der rein instrumentalen Musik noch keineswegs erschöpft - und er hat mit seiner sinfonischen Musik ja sogar Wagner überzeugt. - Offensichtlich ist allerdings auch, daß Bruckner sich von Wagners organisch entwickelndem Musikdenken hat beeinflussen lassen - in thematischen Entwicklungen, die auf verschlungenen Wegen von ersten leisen Andeutungen schließlich zur monumentalen Apotheose führen. Anregungen hierfür konnte Bruckner aus vielen Werken Wagners gewinnen - beispielsweise aus dem Fliegenden Holländer.

Holländer: Schlußapotheose Ouverture (Pl) Endfassung Ouv

Auch für Wagner ist es typisch, daß er bestimmte Formentwicklungen in mehreren Fassungen auskomponiert hat.So gibt es beispielsweise den Schluß seiner Ouverture zu "Der fliegende Holländer" nicht nur in der endgültigen, bereits auf den Tristanstil vorausweisenden, milde ausklingenden Fassung, sondern auch, in früherer Fassung, als markant ausklingende Apotheose. Gerade diese frühe Fassung steht den späteren Apotheosen Bruckners besonders nahe.

Holländer: Schluß 1. Fassung

Bruckners Auseinandersetzung mit Wagner hat viele Facetten. Ein besonders wichtiger Aspekt ist die Gestaltung seiner Schlüsse. Im Finale seiner dritten Symphonie, die Richard Wagner gewidmet ist, hat Bruckner eine Apotheose komponiert, die, im Gesamtverlauf der Symphonie vielfältig vorbereitet, zu einer überzeugenden Huldigung an Wagner gerät (- und dies jenseits aller vordergründigen Wagner-Zitate, die Bruckner offensichtlich als weniger wichtig ansah und deswegen teilweise in spätereren Fassungen wieder entfernt hat). Bruckners Finalschluß ist ein Beispiel produktiver Auseinandersetzung mit aktueller Tradition und aus der Tradition gespeister Aktualität.

Z: III 4 Finale, Länge je nach Sendezeit

Bruckners Musik im Spannungsfeld zwischen Tradition und Aktualität - Bruckners Musik in der Auseinandersetzung mit Richard Wagner: Beide Aspekte hängen - in schwer auflösbarer Weise - miteinander zusammen. Dies erklärt viele Schwierigkeiten, das Verhältnis zwischen Bruckner und Wagner genauer zu bestimmen: Einerseits ist unbestreitbar, daß die Auseinandersetzung mit der Musik Wagners für Bruckner entscheidend war im vielleicht wichtigsten Stadium seiner kompositorischen Entwicklung - in den frühen 1860er Jahren, als er den Weg von instrumentalen Studienwerken zur Komposition großer Messen und Symphonien fand. Andererseits läßt sich keineswegs behaupten, daß Bruckner in damals zum unselbständigen Nachahmer geworden wäre. Wagner war für ihn ein entscheidender Anreger, aber keineswegs ein nachzuahmendes Vorbild - und es ist bemerkenswert, daß Wagner offensichtlich gerade das zu schätzen wußte. Bruckner hat einen Kompositionsstil gefunden, der es ihm erlaubte, als Wagnerianer gleichwohl Messen und Symphonien zu komponieren. Sein Bekenntnis zu Wagner muß deutlich unterschieden werden von der Bestimmung seines kompositorischen Standortes. Dies zeigt sich nicht zuletzt in Bruckners dritter Symphonie. Daß dieses Werk Wagner zugleich nahe und fern steht, zeigt sich wohl nirgends deutlicher als in den Wagner-Zitaten, die Bruckner in verschiedenen Sätzen in seine Komposition eingefügt hat. Daß die Zitate für die Endgestalt dieser Wagner gewidmeten Symphonie nicht von entscheidender Bedeutung sind, zeigt sich schon daran, daß in Wagners Widmungsexemplar, einer Partitur der ersten Fassung, einige Wagner-Zitate zu finden sind, die Bruckner in späteren Fassungen wieder entfernt hat. Aufschlußreich ist, daß diese Zitate sich nicht an markanten Höhepunkten in triumphaler Lautstärke finden, sondern in Episoden der Zurückhaltung und Beruhigung nach dem Höhepunkt einer Steigerung.

Z: III 1. Fassung 13´52

Seitensatz-Steigerung -

Beruhigung (Pk-Wirbel):

Tristan-Liebestod 14´24 - 14´39, (II 1) 14´40 - 15´03, Walküre 15´04 - 15´36, Rückl. -16´07

Die Durchführung des ersten Satzes der dritten Symphonie mündet in einer markanten Steigerung. Nachdem der Höhepunkt dieser Steigerung erreicht ist, beruhigt sich die Musik und leitet zur Wiederkehr des Hauptthemas zurück. In der ersten Fassung dieser Symphonie hat Bruckner in das Stadium der Beruhung und Rückführung zwei Passagen einbezogen, die als Wagner-Reminiszenzen gehört werden können. In der ersten Passage erscheint eine Anspielung relativ undeutlich - verändert in Klangbild und Formdynamik.

Z: III 1, 1. Fassung: Tristan-Liebestod (Höre ich nur diese Weise)

Diese Stelle läßt sich hören als ferne Erinnerung an die Schlußszene aus "Tristan und Isolde". Wenn man sie mit Wagners Tristan vergleicht, wird allerdings auch deutlich, wie stark Bruckner sich selbst im Zitat entfernt von Wagners Musik.

Z: Tristan Schluß ab Isolde: "Höre ich nur diese Weise"

Wagners "Tristan" und Bruckners dritte Symphonie sind in ihrem Ausdruckscharakter so grundverschieden und die Unterschiede sind selbst im möglichen Zitat so erheblich, daß man daran zweifeln kann, welchen Sinn es macht, an dieser Stelle eine Wagner-Reminiszenz zu identifizieren. Für Formzusammenhang und Ausdruckscharakter in Bruckners Symphonie ist es offenbar wichtiger, daß er hier eine breit ausschwingende Beruhigung komponieren wollte - mit einem Motiv, das vielleicht als Zitat zu verstehen ist, das aber jedenfalls auch Bruckners eigene Handschrift erkennen läßt.

Der Beruhigungsprozeß am Ende von Bruckners Durchführung setzt sich fort mit einer weiteren Passage, die als Wagner-Zitat gehört werden kann.

Z: III 1, 15´04 - 15´36 (bis F-Dur-Kadenz, aufhören vor Pk-Wirbel) Zitat Walküre Schlafmotiv

Das zweite Wagner-Zitat ist klarer identifizierbar als das erste: Es ist das Schlafmotiv aus dem dritten Akt der "Walküre".

Z: Die Walküre 3. Akt: Schlafmotiv

Auch das Zitat aus der "Walküre" hat Bruckner verändert und in den harmonischen Bauplan seiner Symphonie eingepaßt. Dennoch bleibt es bei Bruckner erkennbar. Als Symbol der Beruhigung erschien es ihm offensichtlich in der ersten Fassung wichtig genug, um an zwei verschiedenen Stellen der Symphonie Verwendung zu finden. Es erscheint auch kurz vor Schluß des zweiten Satzes - wiederum als Symbol der formalen und expressiven Beruhigung

Z: III 2, 2. Fassung (ab 16´43 Schluß-Welle mit Beruhigung)

ab 17´32 Zitat Walküre Schlafmotiv (ab 17´54 Wiederkehr Hauptthema) (ab 18´16 Th in Es)

Auch dann, wenn Bruckner Wagner zitiert, findet er anschließend immer wieder zur Prägnanz seiner eigenen Themen zurück. Sein Verhältnis zu Wagner ist die wohl eindrucksvollste Konkretisierung seines Verhältnisses zu Tradition und Gegenwart: Das Tradition Vorgefundene - auch das Erbe der aktuellen Musik seiner eigenen Zeit - ergreift Bruckner, um es einzuschmelzen in neue musikalische Zusammenhänge, die in die Zukunft weisen.

Z: III 2 1. Fassung Schlußwelle ab 16´43 - 18´52



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