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7.19.3 Musik als gestaltete Zeit


Rudolf Frisius

MUSIK ALS GESTALTETE ZEIT

Formverläufe in der Neuen Musik - Fließende Zeit und geschnittene Zeit

I. Fließende Zeit

1: Metastaseis Anfang bis Cluster-Tremolo

Ausschnitt No Ko take 7: 1´11

Musik als fließende Zeit - ausgehend von einem einzigen Ton, den alle Streichinstrumente spielen; sich fortsetzend in gleitenden Tonlinien, die nach und nach von diesem Ton ausgehen (bald aufsteigend, bald abwärts führend), schließlich mündend in einem breit gefächerten Klang, wenn alle Streicher gleichzeitig ihr Glissando stoppen, jeder auf einer anderen Tonhöhe: So beginnt das erste Orchesterstück von Iannis Xenakis, das er in den Jahren 1953 und 1954 schrieb und mit dem er auf den Donaueschinger Musiktagen 1955 erstmals internationale Aufmerksamkeit erregte: Metastaseis.

Wenn Xenakis zu Beginn dieses Werkes ausgedehnte Glissandi spielen läßt, dann gestaltet er eine völlig neuartige Musik - eine Musik ohne ausgehaltene Töne, in der es also auch keine Melodien und keine Harmonien im herkömmlichen Sinne mehr geben kann. Auch Rhythmus im traditionellen Sinne gibt es hier nicht mehr, da in den Glissandi auch alle Betonungen verschwunden sind. In dieser Musik ist alles im Fluß. Um so wirkungsvoller ist es, wenn Xenakis an wenigen Stellen einzelne Akzente einfügt - markante Anschläge eines woodblocks, wie eine unregelmäßig tickende Uhr.

2. Metastaseis ausblenden nach drittem woodblock-Akzent bei 23´´ (Forts. 1 Absatz nach 6.)

(Die Musik zu Anfang von Metastaseis artikuliert sich als fließende Zeit: Alle festen Abgrenzungen und Zäsuren erscheinen aufhoben in den Glissandi der Streicher. Es gibt keinen Wechsel von Ton zu Ton, keine formalen Abgrenzungen. Erst mit den Schlagzeug-Akzenten beginnt sich dies zu ändern: Einzelne Einsatzpunkte sind zu erkennen - erste Orientierungsmarken im sich verdichtenden Fluß der Klänge. Gleichzeitig gehen aber die Glissandi zunächst noch weiter: Die gleitenden Töne breiten sich weiter im Toinraum aus. Erst dann, wenn sie zum Stehen kommen, gibt es einen Einschnitt in der gesamten Musik: Dem Fluß der sich im Tonraum ausbreitenden Töne folgt die stehende Klangfläche.

(3.) Metastaseis Glissando - stehende Klangfläche (ab 58´´)

(ausblenden: aufhören vor Einsatz der Pizzicati bei 1´10)

Musik als fließende Zeit artikuliert sich besonders sinnfällig in der ständigen Veränderung. Xenakis macht dies in verschiedenen Dimensionen deutlich: Zunächst, in den Glissandi, ändert sich vor allem die Tonhöhe: Mit auf- und absteigenden Tönen, mit der Erweiterung des Tonraumes. Nach einiger Zeit kommen die Tonbewegungen auf einem breiten und dichten Cluster zur Ruhe, aber die Steigerung geht gleichwohl weiter: Das von Anfang hörbare Crescendo setzt sich fort - das stetige und weiträumige Anwachsen der Lautstärke. So wird eine Zäsur überbrückt und der Klangfluß der Musik fortgeführt.

(4.) Metastaseis Übergang Glissando - stehende Klangfläche

(einblenden nach Einzelakzent 48´´ - ausblenden bei 1´06 vor Akzent)

Musik als kontinuierlicher Klangfluß, als fließend Zeit - Musik mit klar erkennbaren Zäsuren, als geschnittene Zeit: Beide können sich miteinander verbinden. Xenakis realisiert dies zu Beginn seines Stückes so, daß die fließende Zeit zunächst eindeutig das vorherrschende Gestaltungsprinzip bleibt.

Nachdem der breite Cluster eingesetzt und die Glissandi abgeöst hat, bleibt er nur für kurze Zeit unverändert stehen. Danach geht die Steigerung weiter - auch später, wenn noch markantere Veränderungen und Zäsuren erscheinen.

(Erste Unterbrechungen des Klangflusses werden hörbar, wenn einzelne Streicher ihren langen Ton unterbrechen und zu Pizzikato-Akzenten übergehen; kurz darauf setzt der gesamte Cluster aus, und nach einer kurzen Zäsur gehen alle Streicher zum Tremolo über.

(5.) Stehender Cluster - Pizzicati - Tremolo: 58´´- 1´29

einblenden vor 58´´ Clustereinsatz: nach Akzent bei 55´´ -

bis Zäsur nach Tremolo, abblenden - Schluß vor Triangelschlag bei 1´29

Immer deutlicher werden die Zäsuren, aber gleichzeitig setzt sich der Formprozeß bruchlos fort: Man hört Wechsel zwischen dem vollen Streicherklang und einzelnen Schlaginstrumenten, zwischen leisen und lauten Tremoli - und dennoch geht die Steigerung weiter. Sie wird zusätzlich markiert durch die Blechbläser, die jetzt Schritt für Schritt hinzukommen, wodurch die Dichte des Klangbilds allmählich zunimmt, ebenso wie (in zunehmend schnelleren rhythmischen Werten der Blechbläser) die Geschwindigkeit des gesamten Ablaufes. Auf dem Höhepunkt wandelt sich die Formentwicklung wieder, schwingt dynamisch zurück und schließt mit einem letzten Aufschwung der Ausbreitung im Tonraum - mit einer Steigerung ähnlich wie zu Beginn des Stückes.)

(6.) ab 1´29 Triangel nach Tremolo bis 2´49 -

bis Generalpause zum Schluß des 1. Teils (Glissando - Innehalten auf 3 Tönen in extremen Abständen)

Gleitende und stehende Töne; gehaltene Töne und kurze Akzente; ausgedehnte Klangflächen der Streicher, markiert durch Schlagzeugakzente und kurze Einwürfe der Blechbläser: In verschiedenen Dimensionen entwickelt und gliedert sich der musikalische Formverlauf - anwachsend und wieder zurückschwingend in klaren Entwicklungslinien: Musik als fließende Zeit - in stetiger Entwicklung hinweggeführt auch über verschiedene Gliederungspunkte, über Zäsuren, über Markierungspunkte geschnittener Zeit.)

Der erste Teil des Stückes ist ausgestaltet als gegliederter, aber auch im Ganzen zusammenhängender und zielgerichteter Formprozeß: Ausgehend von einem einzigen Ton in mittlerer Lage - sich ausweitend in höchste und tiefste Lage bis zu einem dichten Cluster aller Streicher - sich weiter steigernd bis zum Tutti - nach kurzem Rückgang schließend in einer Glissando-Steigerung, in der die Anfangssteigerung des Stückes gleichsam ausgehöhlt wird, bis schließlich nur noch drei Töne übrig bleiben: Ein sehr hoher Ton - ein Ton in mittlerer Lage - ein sehr tiefer Ton.

(Z: vollst. od. Schluß 1. Teil, einblenden in Glissando-Übergang zu 3 Tönen: sehr hoch - Mittellage - tief)

Am Schluß des Stückes kehrt sich die Formentwicklung um: Die Musik bleibt stehen auf drei Tönen in deutlich verschiedenen Lagen; anschließend führen weite Glissandobögen zurück zum gemeinsamen Schlußton in mittlerer Lage. Das Stück schließt also in der Rückverwandlung der dichteten Klangfläche in den einzelnen Ton.

7. Metastaseis Schluß: ab 7´34 Trommelwirbel (nach leisen hohen Piccoloflötentönen einblenden) - Schluß bei 8´55

Iannis Xenakis eröffnete sein Orchesterstück mit einer Steigerung, und er beschließt es mit einer Rückentwicklung: Anfangs wächst die Musik aus einem Ton heraus, und am Schluß verlöscht sie wieder auf einem einzigen Ton. Die Crescendi und Decrescendi, die auf- und absteigenden, sich ausweitenden und zusammenziehenden Tonbewegungen artikulieren klar ausgerichtete Formprozesse des Wachsens oder Abnehmens im ständigen Fluß der Töne.

In einem späteren Orchesterwerk geht Xenakis noch einen Schritt weiter: Er begint nicht mit kontinuierlich gleitenden Tönen, sondern mit vereinzelten Geräuschen - mit Schlägen auf das Holz der Streichinstrumente. Dann beginnt ein langer Prozeß der Verwandlung, der von Geräuschen zu Tönen führt - und überdies von kurzen Impulsen zu länger ausgehaltenen Tönen und Klangflächen.

8. Pithoprakta: Anfang Holzakzente bis Streicher-Klangfläche und Xylophon-Akzente

ausblenden bei ca. 2´38

(2´14 Einsatz Pizzicati nach Generalpause - 2´29 Einsatz Klangfläche)

Kurze Geräuschimpulse verwandeln sich in eine Klangfläche mit lang ausgehaltenen Tönen: Fließende Zeit ist musikalisch gestaltet als Formprozeß der Verwandlung. Gleichzeitig mit der stehenden Klangfläche bilden sich neue Impulse rhythmischer Bewegung: Hohe Xylophon-Töne, repetiert in regelmäßig pulsierenden Gruppen. Diese pulsierende Bewegung greift im weiteren Verlauf auch auf die Saiteninstrumente über - in pulsierenden Pizzikatotönen, die zunächst in hoher Lage einsetzen, später sich verdichten bis in tiefere Lagen hinein. So löst sich die stehende Klangfläche mehr und mehr auf. Ihre Töne verwandeln sich in Pizzikati, später auch in Glissandi.

9.Pithoprakta: Pizzikati (ab 2´14) - Glissandi (ab 3´57) -

ab Pizzicato-Klangwolke (2´14 nach G. P. - evtl. erst später ab 2´29 Klangfläche) -

ausblenden nach Einsatz der Glissandi (sobald Verdünnung hörbar wird)

(z. B. Zäsur 4´05 oder Zäsur nach hohem Glissando 4´16)

oder bis Generalpause nach Glissandi T. 120 f. bis 4´34

Iannis Xenakis ist der erste Komponist, der Musik als fließende Zeit völlig konsequent und radikal mit instrumentalen Mitteln gestaltet hat. Was er mit seinen ersten Orchesterwerken begann, hat einige Jahre später ein anderer Komponist fortgesetzt, der zwar nicht direkt bei Xenakis anknüpfte, aber gleichwohl ähnliche Ideen entwickelte: György Ligeti. 1961 erregte er auf den Donaueschinger Musiktagen Aufsehen mit seinem Orchesterstück "Atmosphères", in dem er auf seine eigene Weise Prozesse der Verwandlung, des Wachsens und Abnehmens gestaltet.

(evtl. 10.) Atmosphères Anfang bis (Ausblenden) vor 2´34

Anfang: 1. Tuttieinsatz

A: 42´´ nur Streicher Abschwächung (mit interner Umfärbung durch individuelle Hüllkurven) -

B: 1´07 2. Tuttieinsatz mit Umfärbungen und Hüllkurven -

C: 2´ Neueinsatz hohe Streicher (mit Tremolando ab 2´06, bis 2´30)

C: 2´30 ausblenden auf stehendem Cluster nach Tremolando bis ca. 2´34 (2´36 Neueinsatz Tremolo)

Ligeti geht aus vom stehenden Klang - einem weiträumig und dicht geschichteten Cluster aller Streicher, der Holzbläser und der 6 Hörner, der leise einsetzt und dann allmählich immer leiser wird.

(11.) Atmosphères Anfang: Cluster Streicher, Holz Hörner - ausblenden vor 42´´

(42´´ Beginn A: neu einsetzende Töne Streicher, Cluster Bratschen und Celli, Mittellage)

Das ruhige Klangbild kommt allmählich Bewegung: Nach und nach verlöschend durch abschwellende und danach gänzlich aussetzende Töne, also durch Abnahme der Lautstärke. Der Wechsel von Ruhe und Bewegung, die fließende Zeit stehender und innerlich veränderter Klänge prägt auch den weiteren Verlauf des Stückes.

(Wenn alle Bläser zusammen mit den hohen und tiefen Streichern ( mit den Violinen und Kontrabässen) gänzlich verstummt sind, gibt es eine erste, kaum merkliche Zäsur: Ein schattenhaft leiser, starr und fahl ohne Vibrato gespielter Cluster der Streicher in mittlerer Lage (der Bratschen und Celli) setzt ein. Auch diese Klangfläche verwandelt sich bald vom stehenden zum innerlich bewegten Klang: im Übergang zum Vibrato (also mit ersten feinen Veränderungen der Tonhöhe) und mit an- und abschwellenden Tönen, die sich nach und nach über diese Streichergruppe ausbreiten.)

(12.) Atmosphères Überleitung: breiter Cluster (Str, Bläser) - enger Cluster (V, Vc) 40´´- 1´06

einblenden vor ca. 40´´ (dim., neue Toneinsätze V 42´´), ausblenden ab ca. 1´02 ( weg vor Tutti ab 1´07)

(Die fließende Formentwicklung des Stückes führt bruchlos auch über einzelne Zäsuren hinweg - zunächst im Wechsel zwischen vollem Orchesterklang und einer kleineren Streichergruppe, danach im Tuttieinsatz des Orchesters mit einem dichten Cluster, der sich weit über den großen Tonraum des Orchesters erstreckt. - Im größeren Zusammenhang erkennt man, daß die Musik sich mehr und mehr belebt: Mit changierenden Farben, die bald synchron im ganzen Orchester, bald asynchron in verschiedenen Instrumenten und Klanggruppen gesetzt sind.)

(13.) Atmosphères 1. Formteil tonlich ruhende Klangflächen: bis vor 2´

(vor neuen Streichertönen ausblenden, die anschließend ab 2´04 in Tremolobewegung geraten)

(Im Wechsel der Klängflächen erkennt man zunächst Ansätze dynamischer Belebung, später auch Ansätze rhythmischer Belebung (mit individuell einsetzenden Tönen in verschiedenen Instrumenten und Instrumentengruppen). Die für die einzelnen Instrumenten vorgeschriebenen Tonhöhen aber bleiben innerhalb der Klangflächen zunächst unverändert. Erst später geraten auch sie in Bewegung.)

(14.) Atmosphères ab C Tremolandi (ab 2´)

bis Aussetzen der Tremolandi, ausblenden auf Str-Cluster D, aufhören vor Tremolo E (Forts. nach 15.)

(György Ligeti komponiert Bewegungsprozesse im scheinbar Unbeweglichen. Selbst dann, wenn die Töne in Bewegung geraten, bleibt der Eindruck einer stehenden Klangfläche zunächst erhalten; denn die Töne pendeln zunächst nur hin und her sie, verbleiben also in der vorgegebenen Harmonie - allerdings in einem Prozeß allmählich zunehmender Beschleunigung, anwachsender Geschwindigkeit.)

In diesem Stück dauert es längere Zeit, bis die Bewegung auch auf den Bereich der Tonhöhe übergreift: Ein neuer Formteil beginnt mit einem markanten Aufstieg der Töne bis in höchste Lagen hinein. Es folgt, scheinbar gänzlich unvermittelt, ein jäher Absturz bis in die tiefste Lage, wie der Höllensturz in einem imaginären Requiem. Das ist die bis dahin schärfste Zäsur des Stückes - der Abschluß einer langen kontinuierlichen Entwicklung.

15. Atmosphères Höllensturz 2´55 bis nach 3´51

(einblenden in stehenden Cluster nach Aufhören des Tremolandos)

(Ausblende zu Ende spätestens bei 4´05: Einsatz neuer Bewegung des vollen Orchesters)

E Aufstieg Streicher, Bläser

F Bläser und Streicher Haltetöne - weiterer Aufstieg bis in extreme Höhe

G 3´51 Kontrabaß-Cluster

Ligeti führt die Formentwicklung so weit, daß ein Extrem ins andere umschlägt: Im mächtigen Crescendo steigen die Töne auf bis zu einem extrem hohen und lauten Cluster der Piccoloflöten. Danach stürzt die Entwicklung ab: Es folgt ein extrem tiefer und lauter Cluster der Kontrabässe. So entsteht, erstmals im Stück, ein deutlicher Konstrast - eine Zäsur als Indiz nicht der fließenden Zeit, sondern der geschnittenen Zeit. Die Verbindung zwischen den höchsten und tiefsten Tönen läßt sich allenfalls im Gedankenexperiment herstellen: Die Extreme gehen nahtlos ineinander über - die höchste und die tiefste Lage in äußerster Lautstärke.

Was dann folgt, steht allerdings wieder im Zeichen der Kontinuität und der fließenden Zeit: Die Musik beginnt mit einem weiträumigen Cluster, ähnlich wie zu Beginn des Stückes. Danach geraten die Töne individuell in Bewegung, wobei der Fluß der Töne im Tonraum sich verengt, bis die Musik schließlich Halt macht auf wenigen Tönen in der mittleren Lage.

16. Atmosphères 2. Teil: Weite Lage bis Verengung in mittlerer Lage (vorwiegend Abstieg)

G (3´51) Kontrabaßcluster

H (4´05) Streicher Abstieg

I (4´26) dazu stehender Kontrabaß-Cluster

J (4´44) Abreißen Streicher - Quasi-Echo Holz kontinuierlich, Horn 3 Halteton

(evtl. ab 4´44 ausblenden)

K (4´49) Forts. Halteton Horn 3 - Holz, Str diskontinuierlich (Einzeltöne - Zwischenpausen)

Ligeti führt die Tonbewegungen immer enger zusammen, bis die Töne schließlich in der Mittellage zusammengedrängt sind und die Bewegung zur Ruhe kommt. So ergibt sich ein Formprozeß, dessen Vorbild auf eine ältere Entwicklungsphaseder Neuen Musik zurückgeht: Auf Alban Bergs "Wozzeck".

17. Berg - Bruchstücke aus Wozzeck, Nr. 3 Anfang

(oder evtl. entspr. Ausschnitt aus der Oper: III 4 Nachspiel bzw. Ausschnitt NoKo)

Streicher und Bläser im viermaligen Wechsel - Beruhigung auf 2 Tönen

Die 4. Szene des 3. Aktes von Alban Bergs Oper "Wozzeck" schließt mit einem auskomponierten Bewegungsprozeß: Zunächst bewegen die Töne sich rasch und weit aufsteigend (in parallelen Verschiebungen eines Akkordes, aus dem die ganze Szene gebildet ist). Es folgen weitere, harmonisch entsprechend ausgestaltete Aufwärtsbewegungen im mehrfachen Wechsel zwischen Streichern und Holzbläsern. Schritt für Schritt verändern sich Tonhöhe und Geschwindigkeit: Die durchlaufenen Tonräume werden immer enger, und die Bewegungen der Töne werden immer langsamer: Die Tonbewegung verengt und beruhigt sich; schließlich kommt sie völlig zum Stehen. In diesem Formprozeß spiegelt sich das dramatische Geschehen: Wozzeck will das Messer, mit dem er Marie, die untreu gewordene Geliebte, ermordet hat, im Teich verstecken. Dabei ertrinkt er. Die Musik schildert seinen Todeskampf - sein Ermatten und Sterben.

18. Wozzeck III4 Schluß (Ausschnitt NoKo mit Text)

Schon bei Alban Berg zeichnet sich deutlich ab, was später insbesondere von Iannis Xenakis und György Ligeti aufgegriffen und weiter entwickelt wird: Die Gestaltung von Formprozessen mit klaren Richtungen und Zielen - Musik als fließende Zeit. Als wichtigstes Gestaltungsmittel der quasi-kontinuierlichen Tonbewegung verwendet Berg, der noch keine ausgedehnten musikalischen Glissandi verwendet, rasche chromatische Tonleitern, in denen die Töne sich in verschiedenen, fortwährend sich verändernden Ansätzen aufwärts bewegen.

(Das Verfahren der quasi kontinuierlichen Tonbewegung mit chromatisch verschobenen Akkorden kannte Alban Berg aus der Musik seines Lehrers Arnold Schönberg, der dieses Verfahren beispielsweise am Schluß seines Monodrams "Erwartung" einsetzte: Die namenlose Frau, die einzige handelnde Person dieses Einakters, sucht verstört nach ihrem Geliebten - obwohl sie längst weiß, daß er tot ist. In dichten Schichten steigen die Töne auf, als Chiffre des irrenden Suchens, das sich verliert - zunächst langsam, dann sich mehr und mehr beschleunigend in verschiedenen Klangschichten, sich verwandelnd in leise, flüchtig dahin huschende Figuren.)

(19.) Schönberg: Erwartung Schluß ab "Wo bist du?" oder "Ich suchte...":

Chromatisch aufsteigende Akkorde

(Fließende Zeit kann sich realisieren als Musik der ständigen Verwandlung - zum Beispiel in Tonleiterbewegungen aufwärts (sei es, wie in Schönbergs Erwartung, in einem einzigen Durchlauf, der der verwandelt etwa durch ständige Beschleunigung; sei es, wie in Bergs Wozzeck, in mehreren aufeinanderfolgenden und dabei fortwährend veränderten Durchläufen). So ergeben sich quasi-kontinuierliche Bewegungen, die man nicht nur bei Schönberg und Berg findet, sondern auch in späteren Entwicklungsphasen der Neuen Musik.

(Selbst Iannis Xenakis, der Erfinder des strukturellen Glissandos, hat mit solchen Tonleiterbewegungen gearbeitet - und zwar vor allem dann, wenn er für Instrumente schrieb, die keine Glissandi ausführen können, wie zu Beispiel das Klavier.)

(Das Klavierstück Mists, das Xenakis im Jahre 1981 komponiert hat beginnt mit auf- und absteigenden Skalen, die sich in verschiedenen und wechselnden Geschwindigkeiten überlagern.)

Mists: Anfang (kurzer Ausschnitt)

(Immer wieder setzen neue Tonbewegungen ein: Zu Beginn des Stückes aus der Tiefe aufsteigend - später, nach einer Pause, von der Mittellage auseinander strebend - anschließend, in Abwandlung früherer Bewegungen, sich verdichtend und beschleunigend, bis schließlich am Ende dieses Teiles ein klares Ziel erreicht wird: Eine weiträumig aufsteigende Bewegung von der tiefsten bis in die höchste Lage - in weiten Intervallen, ruhig beginnend und sich ständig verlangsamend.)

(Z) Mists: Schluß 1. Teil (langsamer Aufstieg nach letzter Generalpause)

(Fließende Zeit realisiert sich nicht nur in kontinuierlichen Veränderungen, sondern auch in fortwährenden Verwandlungen von ursprünglich getrennten Zellen. Dies zeigt sich bei Iannis Xenakis eben so deutlich wie Alban Berg. Bei beiden Komponisten - und auch bei György Ligeti - wird deutlich, daß der Gestaltung einer streng kontinuierlichen Musik Grenzen gesetzt sind, zumal dann, wenn traditionelle Instrumente verwendet werden. Glissandi sind auf konventionellen Tasteninstrumenten überhaupt nicht darstellbar und auf Blasinstrumenten nur in eingeschränktem Maße.)

Wenn Komponisten Musik als fließende Zeit mit instrumentalen Mitteln gestalten wollen, geraten sie häufig an technische Grenzen. Weiter reichende Möglichkeiten der Gestaltung fließender Zeit zeigen sich hingegen im Bereich der technisch produzierten Musik. Das erste wichtige Beispiel hierfür findet sich in einer Komposition, die 1953 auf den Donaueschingen Musiktagen einen heftigen Skandal provoziert hat: Orphée 53 von Pierre Schaeffer und Pierre Henry. Das Schlußstück dieses Gemeinschaftsprojekts hat Pierre Henry in alleiniger Verantwortung realisiert: Le Voile d´Orphée ("Der Schleier des Orpheus"). Der Anfang dieses Satzes ist eines der frühesten und zugleich gelungensten Beispiele kontinuierlicher Musik.

Z: Henry, Le Voile d´Orphée: Kontinuierlicher Anfang

(Was im Bereich der technisch produzierten Musik, in der musique concrète, von Pierre Henry begonnen wurde, hat wenige Jahre später Iannis Xenakis weitergeführt. Zu Beginn von Diamorphoses, seiner ersten, 1957 entstandenen Tonbandkomposition, hat Xenakis einen komplexen Prozeß der Verwandlung gestaltet.)

(Z): Xenakis, Diamorphoses Anfang (Ausschnitt Sequenzen 5-6)

(Die Verwandlungsprozesse, die Iannis Xenakis im Anfangsteil seiner Tonbandkomposition Diamorphoses komponiert hat, sind nicht nur Bewegungen im Tonraum, sondern auch Übergänge von bekannten zu weniger bekannten Klängen. Die Geräusche, mit denen das Stück beginnt, zeigen Spuren dessen, was man aus der täglichen Hörerfahrung kennt: Sie erinnern an Donnergrollen und Donnerschläge. Erst im weiteren Verlauf des Stückes wird deutlich, daß auch die Erinerungen an bekannte Umweltgeräusche nichts Festes und Unveränderliches sind, sondern nur Ausgangspunkte in einem Prozeß universeller Verwandlung. Je weiter sich die aufgenommenen Klänge im Tonraum bewegen, desto deutlich wird der Prozeß ihrer technisch manipulierten Veränderung, der Transformation ihres ursprünglichen Klangbildes. Man hört Verwandlungen von Umweltgeräuschen in unbekannte Klänge, von konkreter Musik in elektroakustische Musik.)

(1958, ein Jahr nach den Diamorphoses, realisierte Iannis Xenakis ein sehr kurzes Stück, das fließende Zeit aus einer scheinbar paradoxen Konstellation entwickelt: Aus der Kontinuität des Diskontinuierlichen. In diesem Stück konzentriert Xenakis sich nicht auf langsam gleitende Klänge, die sich prozeßhaft verändern, sondern auf kurze Klangpunkte, die in dichter Massierung ei kompaktes, vorwiegend statisches Klangbild ergeben.)

(Z) Concret PH: Kurzer Ausschnitt von Anfang oder vollständig

Kontinuierliche Formentwicklungen, wie sie in den fünfziger Jahren zunächst meistens mit konkreten Klängen gestaltet wurden, hat später Karlheinz Stockhausen mit rein elektronischen Klängen realisiert. In seiner Komposition Kontakte, die in den Jahren 1959 und 1960 entstanden ist, gibt es an zentraler Stelle ein vieldimensionalen Prozeß der Verwandlung von Glissandobewegungen in einen gehaltenen Ton.

Z: Stockhausen, Kontakte (Ausschnitt NoKo: "Lindwurm")

In Stockhausens Verwandlungsprozeß löst die Kontinuität der Glissandobewegung sich auf, und diese zerfällt in die Brocken einzelner Impulse. Später hört man Impulse, die im Tonraum abwärts gleiten und dabei immer langsamer werden. Nach der rhythmischen Bewegung kommt später auch die Tonbewegung zur Ruhe: Man hört zunächst Impulse als Tonwiederholungen, danach immer länger werdende Repetitionen desselben Tones, die schließlich einmünden in eine extrem lange Tonwiederholung und in die innere Belebung dieses gehaltenen Tones. So bleibt die Bewegung ständig im Fluß.

1965 entdeckte Steve Reich neue Möglichkeiten, fließende Zeit mit den Möglichkeiten der Tonbandmusik zu gestalten. In seiner Komposition It´s gonna rain hat Reich Sprachaufnahmen eines schwarzen Predigers verarbeitet, und zwar verwandelt durch fortwährende Phrasenverschiebung. Das vollständige Stück dauert 17 ½ Minuten. Seine Formidee ist die kontinuierliche Verwandlung der aufgenommenen Sprache durch zunehmende asynchronie Verschiebung und Verdichtung: Ausgehend vom natürlichen Sprachklang - schließlich einmündend in eine Art von "kontrolliertem Chaos", das Reich als musikalische Darstellung des Gesprochenen bezeichnet - der Rede vom Ende der Welt. Musik als Darstellung der fließenden Zeit wird hier zum Medium inhaltlicher Aussage.

Z: Reich, It´s gonna rain (1965) Schluß

Was Steve Reich mit It´s gonna rain begann, hatte in der Folgezeit wichtige Konsequenzen für die weitere Entwicklung der minimal music, in der die technischen Prozesse der Phasenverschiebung häufig auf Instrumente übertragen werden - beispielsweise in Reichs 1967 entstandener Komposition Piano Phase - einer Musik der fließenden Zeit, die entsteht aus der fortwährenden Verwandlung phasenverschobener Zellen aus der Synchronität in die Asynchronität, wiederum in neue Synchronität und so weiter.

Z: Reich, Piano Phase (1967) Anfang: Synchron - asynchron (evtl. bis zu neuer Synchronität)

Die minimal ist die bisher wohl konsequenteste Ausbildung einer aus allmählicher Zellveränderung hervorgehenden Formgestaltung. In einigen populären Beispielen nähert sie sich dabei Entwicklungsprozessen, wie man sie auch in traditionellen Variationsformen finden kann. Beispielsweise hat Phil Glass als Einleitung für seine Filmmusik Koyaanisquatsi ein Stück komponiert, dessen (aus einem Tonleiterausschnitt gebildeter) ostinater Baß ähnlich verarbeitet wird wie in einem Steigerungsabschnitt einer traditionellen Chaconne.

Z: Glass Koyannisquatsi Einleitung, Ausschnitt von Anfang

In den Wachstums- und Verwandlungsprozessen der minimal music sind Tendenzen organischer Formentwicklung wieder aufgelebt, die sich schon in frühen Entwicklungsstadien der Neuen Musik nachweisen lassen, beispielsweise bei Charles Ives in einem um 1908 entstandenen Scherzo mit dem Untertitel All the Way Around and Back. Dieser Untertitel verweist auf den Formprozeß des Stückes: Die verschiedenen Instrumente (ein oder zwei Klaviere, vier teilweise unterschiedlich besetzbare weitere Instrumentalpartien) setzen, mit Klavierklängen beginnend, nach und nach ein, zunehmend lauter und mit zunehmend rascheren Notenwerten - bis in der Mitte des Stückes der Gipfelpunkt der Entwicklung erreicht wird, die Instrumente wieder nach und nach aussetzen und die Tonbewegungen dabei wieder allmählich leiser und langsamer werden (übrigens in den meisten Fällen mit rückläufigen Tonfolgen, so daß auch im Bereich der Tonhöhen die Rückentwicklung des Formprozesses deutlich wird). Nur in den Schlußtakten wird nochmals kurz an den Gipfelpunkt dieser Formentwicklung, die zuvor eine Bogenform durchlaufen hat: Anschwellend - sich verdichtend und beschleunigend - nach dem Höhepunkt wieder zurückleitend zum Anfangsstadium.

Die Skurrilität des gesamten Vorganges wird deutlich daran, daß sich hier vollkommen gegensätzliche Klangschichten überlagern: Eine einfache tonale Fanfare in C-Dur und atonale Begleitstimmen. Man hört, wie gleichzeitig in zwei verschiedenen Sprachen gesprochen wird - in einem vielschichtigen Prozeß des Wachsens und Abnehmens.

20. Ives: Scherzo: All The Way Around and Back

Formprozesse des Wachsens und Abnehmens spielen schon in frühen Entwicklungsphasen der Neuen Musik eine wichtige Rolle. Solche organischen Prozesse, die Charles Ives in seinem Scherzo "All The Way Around and Back" zur Basis eines vollständigen Stückes gemacht hat, finden sich bei anderen Komponisten auch in anderen Dimensionen der formalen Gestaltung. Bei Alban Berg beispielsweise sind solche Prozesse bestimmend nicht nur für die Gestaltung größerer formaler Zusammenhänge, sondern für die Durchbildung selbst der kleinsten musikalischen Details. Dies zeigt sich schon in den ersten Takten seines 1910 vollendeten Streichquartetts op. 3: Der lange Schlußton des Anfangstons wird begleitet mit drei kurzen Figuren mit absteigenden Zweiklängen in Bratsche und Cello: Der erste Zweiklang steht für sich; der zweite erklingt, in beschleunigenden Repetitionen, zwei Mal, der dritte, noch rascher repetiert, drei Mal. Diese Begleitfigur wird verändert mit Schritt für Schritt sich vergrößernden Intervallen: Man erlebt rhythmisches und melodisch-harmonisches Wachstum, einen Wachstumsprozeß in den Dimensionen von Tonhöhe und Geschwindigkeit, im kleinsten Detail.

21. Berg: op. 3, 1. Satz, T. 1-3

Eröffnungsmotiv -

3 begleitende Zweiklangsfiguren

(einzeln: Achtel - zu 2: rascher, Sechzehntel - zu 3: noch rascher, Sechzehntel-Triolen)

Organische Veränderungsprozesse, die anfangs in der Harmonie der Begleitmotiven zu erkennen sind, greifen im Folgenden auch auf die Melodie über, steigern sich, führen zu einem ersten Höhepunkt in einer Phrase der ersten Violine und beruhigen sich wieder.

22. Berg: Op. 3, 1. Satz Hauptthema (bis Zäsur)

Noch prägnanter und konzentrierter erscheint das Wachsen und Abnehmen in Melodie und Begleitung am Schluß des Satzes: Mit wachsenden und wieder abnehmenden kleinen Tongruppen; einstimmig beginnend, dann harmonisch expandierend mit zweistimmiger und dreistimmiger Begleitung, schließlich sich beruhigend auf der Schlußharmonie und deren Echo.

23. Berg: Op. 3. 1. Satz Schluß: letzter Themeneinsatz: Expansion - Beruhigung

Prozesse des Wachsens und Abnehmens in knapper und konzentrierter Form finden sich auch im Schlußteil des letzten der vier Stücke für Klarinette und Klavier, die Alban Berg im Frühjahr 1913 komponiert hat. Es beginnt mit der Miniatur einer Rückentwicklung: Der ruhige Begleitakkord des Klaviers erklingt vier Mal, er wird in zunehmend längeren Zeitabständen neu angeschlagen und kommt schließlich ganz zur Ruhe. Die Melodiestimme der Klarinette ist reduziert auf 2 Töne, die drei Mal nacheinander gespielt werden und dabei Schrit für Schritt langsamer und leiser werden.

24. Berg: Op. 5 Nr. 4 Anfang Schlußteil (Reprise Hauptthema: 2 Melodietöne und Grundakkord)

1´49 - 2´09

Im größeren Zusammenhang wird deutlich, daß die Rückentwicklung sofort anschließend umschlägt in eine Steigerung: Aus den beiden Melodietönen der Klarinette entsteht eine melodische Figur des Klaviers, die sich Schritt für Schritt dynamisch, rhythmisch, melodisch und in der Klangdichte steigert. Die Steigerung greift über auch auf dei Begleitfiguren der Klarinette. Auf dem Höhepunkt der Steigerung hält die Entwicklung inne auf einem Echoakkord und beruhigt sich wieder in einer abschließenden Rückentwicklung. So ergibt sich ein Formprozeß in drei Stadien: Rückentwicklung zu Beginn - Steigerung im Zentrum - eine weitere Rückentwicklung am Schluß.

25. Berg: Op. 5 Nr. 4 Schluß vollständig ab 1´49 (bis 3´00)

Steigerung und Rückentwicklung lassen sich interpretieren als Prozesse des Wachsens und Abnehmens, des Entstehens und wieder Vergehens. In diesem Sinne hängen sie eng zusammen mit Formprozessen, wie sie besonders sinnfällig am Anfang und am Ende eines Stückes in Erscheinung treten können: Als Entstehung des melodischen Flusses zu Beginn - als seine Auflösung am Ende. Solche Prozesse finden sich am Anfang und am Schluß einer anderen Komposition von Alban Berg: Des Kammermkonzertes. Im ersten Satz dieses Konzertes entsteht das Thema Schritt für Schritt aus kleinsten Tongruppen: In der Melodie, die das Englisch-Horn spielt, hört man zunächst eine Gruppe von 2 Tönen, dann 3 Töne, dann 4 Töne, bis schließlich die vollständige Melodie zu hören ist.

26. Berg Kammerkonzert, 1. Satz Thema:

2-3-4 Töne, letzte Gruppe übergehend in vollständiges Thema

take 1: 24´´ - 44´´

Im Anfangsthema von Bergs Kammerkonzert entsteht die Melodie aus einzelnen Motiven. Am Schluß des Konzertes löst das melodische Geschehen sich wieder auf: Man hört, wie rasche Tongruppen von Mal zu Mal kürzer werden - anfangs mit 12 Tönen, dann mit 10, 8, 6 und schließlich 4 Tönen.

27. Berg Kammerkonzert Schluß: take 3, ab 9´33 bis Schluß (10´12)

Formprozesse, in denen die Musik anfangs Schritt für Schritt entsteht und sich am Schluß Schritt für Schritt wieder auflöst, lassen sich in verschiedenen Entwicklungsphasen der Neuen Musik finden. In größeren zeitlichen Dimensionen - im Rahmen einer ursprünglich auf etwa eine Stunde angelegten Formentwicklung, die später umgearbeitet und dabei verkürzt wurde - findet erscheinen sie beispielsweise in dem 1975 entstandenen Klavierstück "Beginners Mind" von Walter Zimmermann. Als Ausgangsmaterial dieses Stückes verwendet der Komponist eine fünfteilige Improvisation, die er, angeregt durch eine Schubert-Biographie von Harry Goldschmidt, gespielt, aufgenommen und anschließend transkribiert hat. Besonders im Anfangsteil dieser transkribierten Improvisation ist deutlich zu hören, wie Musik sich aus kleinsten Anfängen Schritt für Schritt entwickelt - mit Schritt für Schritt sich vergrößernden Tongruppen, deren Töne sich im Tonraum ausbreiten; in Schritt für Schritt wachsender rhythmischer Belebung.

29. Zimmermann: Beginners Mind. Prolog 1. Teil. Pentatonisch H-Dur. Umfangs-Erweiterung

(Die Grundidee dieser Komposition besteht darin, daß Improvisations-Fragmente in verschiedenen Stadien verarbeitet werden und sich dabei Schritt für Schritt verwandeln in eine einheitliche Komposition mit neuem musikalischem Material.)

(29.) Beginners Mind.

Evtl. Ausschnitt aus dem Zentrum des Stückes

mit stark disparatem Material (evtl. mit ersten Andeutungen der neuen Melodie)

(Die harmonische Einheit, die im größeren Entwicklungszusammenhang von Zimmermanns Musik angestrebt wird, manifestiert sich nicht zuletzt dadurch, daß der Spieler mehr und mehr dazu übergeht, seine Musik nicht nur zu spielen, sondern auch mitzusingen. Die Gesangstexte machen deutlich, worum es dem Komponisten geht: Um die Einheit des Individuums, das durch Prozesse der vielfältigen Durcharbeitung zur Harmonie mit sich selbst gelangt ist. Die letzten Worte lauten:)

(What we call I ist just a swinging door which moves.

When we inhale and when we exhale ist just moves that ist all.

Always be a beginner.)

(30.) Zimmermann: Beginners Mind. Schluß ab "What we call I...". Partitur S. 100-101

(Walter Zimmermanns Komposition schließt verlöschend in C-Dur - ähnlich wie Gustav Mahlers "Lied von der Erde", mit dem es sonst kompositionstechnisch und ästhetisch kaum etwas gemein hat. Der Formprozeß dieses Stückes artikuliert sich als fließende Zeit, indem das ursprünglich Getrennte Schritt für Schritt zusammengebracht und in einen einheitlichen Formprozeß eingeschmolzen wird.)

Fließende Zeit kann sich nicht nur aus ständiger struktureller Veränderung ergeben, sondern auch aus dem Sog manisch-expressiver Wiederholung. Ein charakteristisches Beispiel hierfür ist das 1982 und 1983 komponierte Orchesterstück Schwarzer und Roter Tanz von Wolfgang Rihm. Die Musik entwickelt sich aus regelmäßigen, sehr lauten und stark geräuschhaften Schlägen mit vielfältig wechselnden Unterbrechungen. Das Werk ist ein umgearbeitetes Teilstück der abendfüllenden Ballettmusik Tutuguri nach Antonin Artaud. Gestus und Faktur der Musik passen zur Artauds Techniken ritueller Wiederholung, die dieser etwa mit folgenden Worten beschreibt:

"Zum Beginn drei Viertelstunden mit dem Schürhaken auf ein und dieselbe Stelle schlagen und von Zeit zu Zeit trinken."

Die bruchlose Formentwicklung in Rihms Stück ist eine hochexpressive Artikulation fließender Zeit. In der Beschreibung des Komponisten wird deutlich, welche Bedeutung die Gestaltung kontinuierlicher Formprozesse gewinnen kann auch in einer seit den siebziger Jahren stark veränderten Entwicklungssituation der Neuen Musik. Rihm schreibt:

"Aus einem nervösen Zustand entsteht nach und nach ein Bild von orchestraler Virtuosität, das sich nach vorn wirft, zum Hörer spricht und ihn packt."

Rihm: Schwarzer und Roter Tanz (1982/1983)

Längerer Ausschnitt von Anfang - Länge je nach Sendezeit. Z. B. Blende nach 1´51 as1

Die ekstatische Expressivität des jungen Rihm könnte zu Vergleichen anregen mit Musik des jungen Luigi Nono. Trotz mancher gestischer Verwandtschaft bleibt unverkennbar, wie stark die ästhetischen und kompositionstechnischen Unterschiede sind. Während Rihm versucht, direkt der Sponaneität seiner expressiven Impulse zu folgen, ist Nonos Ausdruck in hohem Maße vermittelt durch musikalische Konstruktion und durch ästhetisch-politische Reflexion. Ein charakteristisches Beispiel hierführ findet sich im 6. Satz seiner Kantate "Il canto sospeso". Die Musik ist ein dramatischer Steigerungsprozeß, der sich ergibt als Resultat einer komplexen und vielschichtigen seriellen Strukturierung. Sie wird zur Sprache nicht allein des subjektiven Ausdruckes, sondern vor allem auch des subjektiven Protests gegen Terror und Gewalt - in politisch engagierter Musik. Luigi Nono verwendet in dieser Kantate Texte aus Abschiedsbriefen von Widerstandskämpfern, die als Opfer nationalsozialistischen Terrors dem Tode geweiht waren. Der Text des 6. Satzes lautet in deutscher Übersetzung:

"... die Tore öffnen sich. Da sind unsere Mörder, schwarz gekleidet. Sie jagen uns aus der Synagoge. Wie hart ist es, von dem so schönen Leben für immer Abschied zu nehmen!"

Z: Nono, Il canto sospeso, Satz 6 a

Nonos Musik des politischen Protests und der Solidarisierung mit den Opfern des Terrors steht in einer Tradition des konstruktiv reflektierten und politisch engagierten Expressionismus, als deren wichtigstes Modell ein Spätwerk Schönbergs gelten kann: Ein Überlebender aus Warschau. An einer Schlüsselstelle dieses Stückes findet sich eine Steigerung, die zugleich vom Protest gegen die politische Realität in eine andere Wirklichkeit führt: Es beginnt damit, daß den Opfern des Holocaust ein Zählappell befohlen wird. Die Ausführung dieses Befehls schlägt um in politischen Protest: Das Zählen wird immer rascher, die Begleitmusik des Orchesters beschleunigt und verdichtet sich, der Bericht des Sprechers mündet in religiösen Gesang, wie ihn einst die Opfer einer nazistischen Mordaktion anstimmten. Hier hat Schönberg einen Formprozeß gestaltet, der über die Musik hinausweist und der eine Alternative zum sinnlos erscheinenden Grauen vergangenen politischen Geschehens aufweist. Dieser dramatische Formprozeß läßt sich deuten als Indiz eines Willens zur Veränderung, der sich den strengsten ästhetischen Anforderungen unterwirft und gerade deswegen Hoffnungen zu artikulieren mag auf Veränderungen nicht nur der Musik und der Kunst, sondern der von ihnen reflektierten Realität.

Schönberg, Ein Überlebender aus Warschau ab T. 62 "Then I heard the sergeant shouting" bis Schluß

evtl. ausblenden nach Einsatz des Männerchores

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