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7.19.1 FORM1C.DOC


Rudolf Frisius

MUSIK ALS GESTALTETE ZEIT

Formverläufe in der Neuen Musik -

Fließende Zeit und geschnittene Zeit

I. Formprozesse - Gliederungen:

Fließende Zeit - Geschnittene Zeit

1. Schalleigenschaften (Tonhöhe, Lautstärke, Dichte, Geschwindigkeit) -

Formverläufe (Steigerung, Rückentwicklung, Verwandlung)

a) Iannis Xenakis: Metastaseis

Musik als fließende Zeit - ausgehend von einem einzigen Ton, den alle Streichinstrumente spielen; sich fortsetzend in gleitenden Tonlinien, die nach und nach von diesem Ton ausgehen (bald aufsteigend, bald abwärts führend); schließlich mündend in einem breit gefächerten Klang, wenn alle Streicher gleichzeitig ihr Glissando stoppen, jeder auf einer anderen Tonhöhe: So beginnt das erste Orchesterstück von Iannis Xenakis, das er in den Jahren 1953 und 1954 schrieb und mit dem er auf den Donaueschinger Musiktagen 1955 erstmals internationale Aufmerksamkeit erregte: Metastaseis.

Wenn Xenakis zu Beginn dieses Werkes ausgedehnte Glissandi spielen läßt, dann gestaltet er eine völlig neuartige Musik - eine Musik ohne ausgehaltene Töne, in der es also auch keine Melodien und keine Harmonien im herkömmlichen Sinne mehr geben kann. Auch Rhythmus im traditionellen Sinne gibt es hier nicht mehr, da in den Glissandi auch alle Betonungen verschwunden sind. In dieser Musik ist alles im Fluß. Um so wirkungsvoller ist es, wenn Xenakis an wenigen Stellen einzelne Akzente einfügt - markante Anschläge eines woodblocks, wie eine unregelmäßig tickende Uhr.

Die Musik zu Anfang von Metastaseis artikuliert sich als fließende Zeit: Alle festen Abgrenzungen und Zäsuren erscheinen aufhoben in den Glissandi der Streicher. Es gibt keinen Wechsel von Ton zu Ton, keine formalen Abgrenzungen. Erst mit den Schlagzeug-Akzenten beginnt sich dies zu ändern: Einzelne Einsatzpunkte sind zu erkennen - erste Orientierungsmarken im sich verdichtenden Fluß der Klänge. Gleichzeitig gehen aber die Glissandi zunächst noch weiter: Die gleitenden Töne breiten sich weiter im Toinraum aus. Erst dann, wenn sie zum Stehen kommen, gibt es einen Einschnitt in der gesamten Musik: Dem Fluß der sich im Tonraum ausbreitenden Töne folgt die stehende Klangfläche.

Musik als fließende Zeit artikuliert sich besonders sinnfällig in der ständigen Veränderung. Xenakis macht dies in verschiedenen Dimensionen deutlich: Zunächst, in den Glissandi, ändert sich vor allem die Tonhöhe: Mit auf- und absteigenden Tönen, mit der Erweiterung des Tonraumes. Nach einiger Zeit kommen die Tonbewegungen auf einem breiten und dichten Cluster zur Ruhe, aber die Steigerung geht gleichwohl weiter: Das von Anfang an hörbare Crescendo setzt sich fort - das stetige und weiträumige Anwachsen der Lautstärke. So wird eine Zäsur überbrückt und der Klangfluß der Musik fortgeführt.

Musik als kontinuierlicher Klangfluß, als fließend Zeit - Musik mit klar erkennbaren Zäsuren, als geschnittene Zeit: Beide Aspekte können sich miteinander verbinden. Xenakis realisiert dies zu Beginn seines Stückes so, daß die fließende Zeit zunächst eindeutig das vorherrschende Gestaltungsprinzip bleibt:

Nachdem der breite Cluster eingesetzt und die Glissandi abgelöst hat, bleibt er nur für kurze Zeit unverändert stehen. Danach geht die Steigerung weiter - auch später, wenn noch markantere Veränderungen und Zäsuren erscheinen.

Erste Unterbrechungen des Klangflusses werden hörbar, wenn einzelne Streicher ihren langen Ton unterbrechen und zu Pizzikato-Akzenten übergehen; kurz darauf setzt der gesamte Cluster aus, und nach einer kurzen Zäsur gehen alle Streicher zum Tremolo über.

Immer deutlicher werden die Zäsuren, aber gleichzeitig setzt sich der Formprozeß bruchlos fort: Man hört Wechsel zwischen dem vollen Streicherklang und einzelnen Schlaginstrumenten, zwischen leisen und lauten Tremoli - und dennoch geht die Steigerung weiter. Sie wird zusätzlich markiert durch die Blechbläser, die jetzt Schritt für Schritt hinzukommen, wodurch die Dichte des Klangbilds allmählich zunimmt, ebenso wie (in zunehmend schnelleren rhythmischen Werten der Blechbläser) die Geschwindigkeit des gesamten Ablaufes. Auf dem Höhepunkt wandelt sich die Formentwicklung wieder, schwingt dynamisch zurück und schließt mit einem letzten Aufschwung der Ausbreitung im Tonraum - mit einer Steigerung ähnlich wie zu Beginn des Stückes.

Gleitende und stehende Töne; gehaltene Töne und kurze Akzente; ausgedehnte Klangflächen der Streicher, markiert durch Schlagzeugakzente und kurze Einwürfe der Blechbläser: In verschiedenen Dimensionen entwickelt und gliedert sich der musikalische Formverlauf - anwachsend und wieder zurückschwingend in klaren Entwicklungslinien: Musik als fließende Zeit - in stetiger Entwicklung hinweggeführt auch über verschiedene Gliederungspunkte, über Zäsuren, über Markierungspunkte geschnittener Zeit.

Der erste Teil des Stückes ist ausgestaltet als gegliederter, aber auch im Ganzen zusammenhängender und zielgerichteter Formprozeß: Ausgehend von einem einzigen Ton in mittlerer Lage - sich ausweitend in höchste und tiefste Lage bis zu einem dichten Cluster aller Streicher - sich weiter steigernd bis zum Tutti - nach kurzem Rückgang schließend in einer Glissando-Steigerung, in der die Anfangssteigerung des Stückes gleichsam ausgehöhlt wird, bis schließlich nur noch drei Töne übrig bleiben: Ein sehr hoher Ton - ein Ton in mittlerer Lage - ein sehr tiefer Ton.

Am Schluß des Stückes kehrt sich die Formentwicklung um: Die Musik bleibt stehen auf drei Tönen in deutlich verschiedenen Lagen; anschließend führen weite Glissandobögen zurück zum gemeinsamen Schlußton in mittlerer Lage. Das Stück schließt also in der Rückverwandlung der dichteten Klangfläche in den einzelnen Ton.

Iannis Xenakis eröffnete sein Orchesterstück mit einer Steigerung, und er beschließt es mit einer Rückentwicklung: Anfangs wächst die Musik aus einem Ton heraus, und am Schluß verlöscht sie wieder auf einem einzigen Ton. Die Crescendi und Decrescendi, die auf- und absteigenden, sich ausweitenden und zusammenziehenden Tonbewegungen artikulieren klar ausgerichtete Formprozesse des Wachsens oder Abnehmens im ständigen Fluß der Töne.

b) Iannis Xenakis: Pithoprakta

In einem späteren Orchesterwerk, Pithoprakta, geht Xenakis noch einen Schritt weiter: Er beginnt nicht mit kontinuierlich gleitenden Tönen, sondern mit vereinzelten Geräuschen - mit Schlägen auf das Holz der Streichinstrumente. Dann beginnt ein langer Prozeß der Verwandlung, der von Geräuschen zu Tönen führt - und überdies von kurzen Impulsen zu länger ausgehaltenen Tönen und Klangflächen.

Kurze Geräuschimpulse verwandeln sich in eine Klangfläche mit lang ausgehaltenen Tönen: Fließende Zeit ist musikalisch gestaltet als Formprozeß der Verwandlung. Gleichzeitig mit der stehenden Klangfläche bilden sich neue Impulse rhythmischer Bewegung: Hohe Xylophon-Töne, repetiert in regelmäßig pulsierenden Gruppen. Diese pulsierende Bewegung greift im weiteren Verlauf auch auf die Saiteninstrumente über - in pulsierenden Pizzikatotönen, die zunächst in hoher Lage einsetzen, später sich verdichten bis in tiefere Lagen hinein. So löst sich die stehende Klangfläche mehr und mehr auf. Ihre Töne verwandeln sich in Pizzikati, später auch in Glissandi.

Iannis Xenakis ist der erste Komponist, der Musik als fließende Zeit völlig konsequent und radikal mit instrumentalen Mitteln gestaltet hat. Was er mit seinen ersten Orchesterwerken begann, hat einige Jahre später ein anderer Komponist fortgesetzt, der zwar nicht direkt bei Xenakis anknüpfte, aber gleichwohl ähnliche Ideen entwickelte: György Ligeti.

c) György Ligeti: Atmosphères

1961 erregte György Ligeti auf den Donaueschinger Musiktagen Aufsehen mit seinem Orchesterstück Atmosphères, in dem er auf seine eigene Weise Prozesse der Verwandlung, des Wachsens und Abnehmens gestaltet.

Ligeti geht aus vom stehenden Klang - einem weiträumig und dicht geschichteten Cluster aller Streicher, der Holzbläser und der 6 Hörner, der leise einsetzt und dann allmählich immer leiser wird.

Das ruhige Klangbild kommt allmählich Bewegung: Nach und nach verlöschend durch abschwellende und danach gänzlich aussetzende Töne, also durch Abnahme der Lautstärke. Der Wechsel von Ruhe und Bewegung, die fließende Zeit stehender und innerlich veränderter Klänge prägt auch den weiteren Verlauf des Stückes.

Wenn alle Bläser zusammen mit den hohen und tiefen Streichern ( mit den Violinen und Kontrabässen) gänzlich verstummt sind, gibt es eine erste, kaum merkliche Zäsur: Ein schattenhaft leiser, starr und fahl ohne Vibrato gespielter Cluster der Streicher in mittlerer Lage (der Bratschen und Celli) setzt ein. Auch diese Klangfläche verwandelt sich bald vom stehenden zum innerlich bewegten Klang: im Übergang zum Vibrato (also mit ersten feinen Veränderungen der Tonhöhe) und mit an- und abschwellenden Tönen, die sich nach und nach über diese Streichergruppe ausbreiten.

Die fließende Formentwicklung des Stückes führt bruchlos auch über einzelne Zäsuren hinweg - zunächst im Wechsel zwischen vollem Orchesterklang und einer kleineren Streichergruppe, danach im Tuttieinsatz des Orchesters mit einem dichten Cluster, der sich weit über den großen Tonraum des Orchesters erstreckt. - Im größeren Zusammenhang erkennt man, daß die Musik sich mehr und mehr belebt: Mit changierenden Farben, die bald synchron im ganzen Orchester, bald asynchron in verschiedenen Instrumenten und Klanggruppen gesetzt sind.

Im Wechsel der Klängflächen erkennt man zunächst Ansätze dynamischer Belebung, später auch Ansätze rhythmischer Belebung (mit individuell einsetzenden Tönen in verschiedenen Instrumenten und Instrumentengruppen). Die für die einzelnen Instrumenten vorgeschriebenen Tonhöhen aber bleiben innerhalb der Klangflächen zunächst unverändert. Erst später geraten auch sie in Bewegung.

György Ligeti komponiert Bewegungsprozesse im scheinbar Unbeweglichen. Selbst dann, wenn die Töne in Bewegung geraten, bleibt der Eindruck einer stehenden Klangfläche zunächst erhalten; denn die Töne pendeln zunächst nur hin und her, sie verbleiben also in der vorgegebenen Harmonie - allerdings in einem Prozeß allmählich zunehmender Beschleunigung, anwachsender Geschwindigkeit.

In diesem Stück dauert es längere Zeit, bis die Bewegung auch auf den Bereich der Tonhöhe übergreift: Ein neuer Formteil beginnt mit einem markanten Aufstieg der Töne bis in höchste Lagen hinein. Es folgt, scheinbar gänzlich unvermittelt, ein jäher Absturz bis in die tiefste Lage, wie der Höllensturz in einem imaginären Requiem. Das ist die bis dahin schärfste Zäsur des Stückes - der Abschluß einer langen kontinuierlichen Entwicklung.

Ligeti führt die Formentwicklung so weit, daß ein Extrem ins andere umschlägt: Im mächtigen Crescendo steigen die Töne auf bis zu einem extrem hohen und lauten Cluster der Piccoloflöten. Danach stürzt die Entwicklung ab: Es folgt ein extrem tiefer und lauter Cluster der Kontrabässe. So entsteht, erstmals im Stück, ein deutlicher Konstrast - eine Zäsur als Indiz nicht der fließenden Zeit, sondern der geschnittenen Zeit. Die Verbindung zwischen den höchsten und tiefsten Tönen läßt sich allenfalls im Gedankenexperiment herstellen: Die Extreme gehen nahtlos ineinander über - die höchste und die tiefste Lage in äußerster Lautstärke.

Was dann folgt, steht allerdings wieder im Zeichen der Kontinuität und der fließenden Zeit: Die Musik beginnt mit einem weiträumigen Cluster, ähnlich wie zu Beginn des Stückes. Danach geraten die Töne individuell in Bewegung, wobei der Fluß der Töne im Tonraum sich verengt, bis die Musik schließlich Halt macht auf wenigen Tönen in der mittleren Lage.

Ligeti führt die Tonbewegungen immer enger zusammen, bis die Töne schließlich in der Mittellage zusammengedrängt sind und die Bewegung zur Ruhe kommt. So ergibt sich ein Formprozeß, dessen Vorbild auf eine ältere Entwicklungsphase der Neuen Musik zurückgeht: Auf Alban Bergs Wozzeck.

d) Alban Berg: Wozzeck

Die 4. Szene des 3. Aktes von Alban Bergs Oper Wozzeck schließt mit einem auskomponierten Bewegungsprozeß: Zunächst bewegen die Töne sich rasch und weit aufsteigend (in parallelen Verschiebungen eines Akkordes, aus dem die ganze Szene gebildet ist). Es folgen weitere, harmonisch entsprechend ausgestaltete Aufwärtsbewegungen im mehrfachen Wechsel zwischen Streichern und Holzbläsern. Schritt für Schritt verändern sich Tonhöhe und Geschwindigkeit: Die durchlaufenen Tonräume werden immer enger, und die Bewegungen der Töne werden immer langsamer. Die Tonbewegung verengt und beruhigt sich; schließlich kommt sie völlig zum Stehen. In diesem Formprozeß spiegelt sich das dramatische Geschehen: Wozzeck will das Messer, mit dem er Marie, die untreu gewordene Geliebte, ermordet hat, im Teich verstecken. Dabei ertrinkt er. Die Musik schildert seinen Todeskampf - sein Ermatten und Sterben.

Schon bei Alban Berg zeichnet sich deutlich ab, was später insbesondere von Iannis Xenakis und György Ligeti aufgegriffen und weiter entwickelt wird: Die Gestaltung von Formprozessen mit klaren Richtungen und Zielen - Musik als fließende Zeit. Als wichtigstes Gestaltungsmittel der quasi-kontinuierlichen Tonbewegung verwendet Berg, der noch keine ausgedehnten musikalischen Glissandi verwendet, rasche chromatische Tonleitern, in denen die Töne sich in verschiedenen, fortwährend sich verändernden Ansätzen aufwärts bewegen.

e) Arnold Schönberg: Erwartung

Das Verfahren der quasi kontinuierlichen Tonbewegung mit chromatisch verschobenen Akkorden kannte Alban Berg aus der Musik seines Lehrers Arnold Schönberg, der dieses Verfahren beispielsweise am Schluß seines Monodrams Erwartung einsetzte: Die namenlose Frau, die einzige handelnde Person dieses Einakters, sucht verstört nach ihrem Geliebten - obwohl sie längst weiß, daß er tot ist. In dichten Schichten steigen die Töne auf, als Chiffre des irrenden Suchens, das sich verliert - zunächst langsam, dann sich mehr und mehr beschleunigend in verschiedenen Klangschichten, sich verwandelnd in leise, flüchtig dahin huschende Figuren.

f) Kontinuierliche und quasi-kontinuierliche Tonbewegungen:

Schönberg - Berg - Iannis Xenakis: Mists

Fließende Zeit kann sich realisieren als Musik der ständigen Verwandlung - zum Beispiel in Tonleiterbewegungen aufwärts (sei es, wie in Schönbergs Erwartung, in einem einzigen Durchlauf, der der verwandelt etwa durch ständige Beschleunigung; sei es, wie in Bergs Wozzeck, in mehreren aufeinanderfolgenden und dabei fortwährend veränderten Durchläufen). So ergeben sich quasi-kontinuierliche Bewegungen, die man nicht nur bei Schönberg und Berg findet, sondern auch in späteren Entwicklungsphasen der Neuen Musik.

Selbst Iannis Xenakis, der Erfinder des strukturellen Glissandos, hat mit nicht nur mit real-kontinuierlichen gleitenden Tonbewegungen, mit Glissandi, gearbeitet, sondern auch mit quasi-kontinulierlichen Tonleiterbewegungen gearbeitet - und zwar letzteres vor allem dann, wenn er für Instrumente schrieb, die keine Glissandi ausführen können, wie zu Beispiel das Klavier.

Das Klavierstück Mists, das Xenakis im Jahre 1981 komponiert hat beginnt mit auf- und absteigenden Skalen, die sich in verschiedenen und wechselnden Geschwindigkeiten überlagern.)

Immer wieder setzen neue Tonbewegungen ein: Zu Beginn des Stückes aus der Tiefe aufsteigend - später, nach einer Pause, von der Mittellage auseinander strebend - anschließend, in Abwandlung früherer Bewegungen, sich verdichtend und beschleunigend, bis schließlich am Ende dieses Teiles ein klares Ziel erreicht wird: Eine weiträumig aufsteigende Bewegung von der tiefsten bis in die höchste Lage - in weiten Intervallen, ruhig beginnend und sich ständig verlangsamend.

Fließende Zeit realisiert sich nicht nur in kontinuierlichen Veränderungen, sondern auch in fortwährenden Verwandlungen von ursprünglich getrennten Zellen. Dies zeigt sich bei Iannis Xenakis eben so deutlich wie Alban Berg. Bei beiden Komponisten - und auch bei György Ligeti - wird deutlich, daß der Gestaltung einer streng kontinuierlichen Musik Grenzen gesetzt sind - zumal dann, wenn traditionelle Instrumente verwendet werden. Glissandi sind auf konventionellen Tasteninstrumenten überhaupt nicht darstellbar und auf Blasinstrumenten nur in eingeschränktem Maße.

2. Formprozesse in Details und größeren Zusammenhängen

a) Charles Ives: All the Way Around and Back

In den Wachstums- und Verwandlungsprozessen der minimal music sind Tendenzen organischer Formentwicklung wieder aufgelebt, die sich schon in frühen Entwicklungsstadien der Neuen Musik nachweisen lassen, beispielsweise bei Charles Ives in einem um 1908 entstandenen Scherzo mit dem Untertitel All the Way Around and Back. Dieser Untertitel verweist auf den Formprozeß des Stückes: Die verschiedenen Instrumente (ein oder zwei Klaviere, vier teilweise unterschiedlich besetzbare weitere Instrumentalpartien) setzen, mit Klavierklängen beginnend, nach und nach ein, zunehmend lauter und mit zunehmend rascheren Notenwerten - bis in der Mitte des Stückes der Gipfelpunkt der Entwicklung erreicht wird, die Instrumente wieder nach und nach aussetzen und die Tonbewegungen dabei wieder allmählich leiser und langsamer werden (übrigens in den meisten Fällen mit rückläufigen Tonfolgen, so daß auch im Bereich der Tonhöhen die Rückentwicklung des Formprozesses deutlich wird). Nur in den Schlußtakten wird nochmals kurz erinnert an den Gipfelpunkt dieser Formentwicklung, die zuvor eine Bogenform durchlaufen hat: Anschwellend - sich verdichtend und beschleunigend - nach dem Höhepunkt wieder zurückleitend zum Anfangsstadium.

Die Skurrilität des gesamten Vorganges wird deutlich daran, daß sich hier vollkommen gegensätzliche Klangschichten überlagern: Eine einfache tonale Fanfare in C-Dur und atonale Begleitstimmen. Man hört, wie gleichzeitig in zwei verschiedenen Sprachen gesprochen wird - in einem vielschichtigen Prozeß des Wachsens und Abnehmens.

b) Alban Berg: 1. Streichquartett op. 3 - Vier Stücke für Klarinette und Klavier op. 5 -

Kammerkonzert

Formprozesse des Wachsens und Abnehmens spielen schon in frühen Entwicklungsphasen der Neuen Musik eine wichtige Rolle. Solche organischen Prozesse, die Charles Ives in seinem Scherzo All The Way Around and Back zur Basis eines vollständigen Stückes gemacht hat, finden sich bei anderen Komponisten auch in anderen Dimensionen der formalen Gestaltung. Bei Alban Berg beispielsweise sind solche Prozesse bestimmend nicht nur für die Gestaltung größerer formaler Zusammenhänge, sondern für die Durchbildung selbst der kleinsten musikalischen Details. Dies zeigt sich schon in den ersten Takten seines 1910 vollendeten Streichquartetts op. 3: Der lange Schlußton des Anfangstons wird begleitet mit drei kurzen Figuren mit absteigenden Zweiklängen in Bratsche und Cello: Der erste Zweiklang steht für sich; der zweite erklingt, in beschleunigenden Repetitionen, zwei Mal, der dritte, noch rascher repetiert, drei Mal. Diese Begleitfigur wird verändert mit Schritt für Schritt sich vergrößernden Intervallen: Man erlebt rhythmisches und melodisch-harmonisches Wachstum, einen Wachstumsprozeß in den Dimensionen von Tonhöhe und Geschwindigkeit, im kleinsten Detail.

Organische Veränderungsprozesse, die anfangs in der Harmonie der Begleitmotiven zu erkennen sind, greifen im Folgenden auch auf die Melodie über, steigern sich, führen zu einem ersten Höhepunkt in einer Phrase der ersten Violine und beruhigen sich wieder.

Noch prägnanter und konzentrierter erscheint das Wachsen und Abnehmen in Melodie und Begleitung am Schluß des Satzes: Mit wachsenden und wieder abnehmenden kleinen Tongruppen; einstimmig beginnend, dann harmonisch expandierend mit zweistimmiger und dreistimmiger Begleitung, schließlich sich beruhigend auf der Schlußharmonie und deren Echo.

Prozesse des Wachsens und Abnehmens in knapper und konzentrierter Form finden sich auch im Schlußteil des letzten der vier Stücke für Klarinette und Klavier, die Alban Berg im Frühjahr 1913 komponiert hat. Es beginnt mit der Miniatur einer Rückentwicklung: Der ruhige Begleitakkord des Klaviers erklingt vier Mal, er wird in zunehmend längeren Zeitabständen neu angeschlagen und kommt schließlich ganz zur Ruhe. Die Melodiestimme der Klarinette ist reduziert auf 2 Töne, die drei Mal nacheinander gespielt werden und dabei Schritt für Schritt langsamer und leiser werden.

Im größeren Zusammenhang wird deutlich, daß die Rückentwicklung sofort anschließend umschlägt in eine Steigerung: Aus den beiden Melodietönen der Klarinette entsteht eine melodische Figur des Klaviers, die sich Schritt für Schritt dynamisch, rhythmisch, melodisch und in der Klangdichte steigert. Die Steigerung greift über auch auf dei Begleitfiguren der Klarinette. Auf dem Höhepunkt der Steigerung hält die Entwicklung inne auf einem Echoakkord und beruhigt sich wieder in einer abschließenden Rückentwicklung. So ergibt sich ein Formprozeß in drei Stadien: Rückentwicklung zu Beginn - Steigerung im Zentrum - eine weitere Rückentwicklung am Schluß.

Steigerung und Rückentwicklung lassen sich interpretieren als Prozesse des Wachsens und Abnehmens, des Entstehens und wieder Vergehens. In diesem Sinne hängen sie eng zusammen mit Formprozessen, wie sie besonders sinnfällig am Anfang und am Ende eines Stückes in Erscheinung treten können: Als Entstehung des melodischen Flusses zu Beginn - als seine Auflösung am Ende. Solche Prozesse finden sich am Anfang und am Schluß einer anderen Komposition von Alban Berg: Des Kammerkonzertes. Im ersten Satz dieses Konzertes entsteht das Thema Schritt für Schritt aus kleinsten Tongruppen: In der Melodie, die das Englisch-Horn spielt, hört man zunächst eine Gruppe von 2 Tönen, dann 3 Töne, dann 4 Töne, bis schließlich die vollständige Melodie zu hören ist.

Im Anfangsthema von Bergs Kammerkonzert entsteht die Melodie aus einzelnen Motiven. Am Schluß des Konzertes löst das melodische Geschehen sich wieder auf: Man hört, wie rasche Tongruppen von Mal zu Mal kürzer werden - anfangs mit 12 Tönen, dann mit 10, 8, 6 und schließlich 4 Tönen.

c) Walter Zimmermann: Beginners Mind

Formprozesse, in denen die Musik anfangs Schritt für Schritt entsteht und sich am Schluß Schritt für Schritt wieder auflöst, lassen sich in verschiedenen Entwicklungsphasen der Neuen Musik finden. In größeren zeitlichen Dimensionen - im Rahmen einer ursprünglich auf etwa eine Stunde angelegten Formentwicklung, die später umgearbeitet und dabei verkürzt wurde - findet erscheinen sie beispielsweise in dem 1975 entstandenen Klavierstück Beginners Mind von Walter Zimmermann. Als Ausgangsmaterial dieses Stückes verwendet der Komponist eine fünfteilige Improvisation, die er, angeregt durch eine Schubert-Biographie von Harry Goldschmidt, gespielt, aufgenommen und anschließend transkribiert hat. Besonders im Anfangsteil dieser transkribierten Improvisation ist deutlich zu hören, wie Musik sich aus kleinsten Anfängen entwickelt - mit Schritt für Schritt sich vergrößernden Tongruppen, deren Töne sich im Tonraum ausbreiten; in Schritt für Schritt wachsender rhythmischer Belebung.

Die Grundidee dieser Komposition besteht darin, daß Improvisations-Fragmente in verschiedenen Stadien verarbeitet werden und sich dabei Schritt für Schritt verwandeln in eine einheitliche Komposition mit neuem musikalischem Material.

Die harmonische Einheit, die im größeren Entwicklungszusammenhang von Zimmermanns Musik angestrebt wird, manifestiert sich nicht zuletzt dadurch, daß der Spieler mehr und mehr dazu übergeht, seine Musik nicht nur zu spielen, sondern auch mitzusingen. Die Gesangstexte machen deutlich, worum es dem Komponisten geht: Um die Einheit des Individuums, das durch Prozesse der vielfältigen Durcharbeitung zur Harmonie mit sich selbst gelangt ist. Die letzten Worte lauten:

What we call I ist just a swinging door which moves.

When we inhale and when we exhale ist just moves that ist all.

Always be a beginner.

Walter Zimmermanns Komposition schließt verlöschend in C-Dur - ähnlich wie Gustav Mahlers Lied von der Erde, mit dem es sonst kompositionstechnisch und ästhetisch kaum etwas gemein hat. Der Formprozeß dieses Stückes artikuliert sich als fließende Zeit, indem das ursprünglich Getrennte Schritt für Schritt zusammengebracht und in einen einheitlichen Formprozeß eingeschmolzen wird.

II. Gliederungen - Formprozesse:

Geschnittene Zeit - Fließende Zeit

1. Beispiele zur Formgestaltung instrumentaler Musik

a) Pierre Boulez: Messagesquisse

In der musikalischen Formgestaltung können sich Aspekte der geschnittenen Zeit (also insbesondere Aspekte der Abgrenzung, Kontrastierung und Gliederung) verbinden mit Aspekten der fließenden Zeit (also insbesondere mit Aspekten des Zusammenhangs und der organischen Entwicklung). Musik kann entstehen aus einzelnen, zunächst klar voneinander abgegrenzten Tönen, die dann im weiteren Verlauf immer enger miteinander verbunden, in Gliederungen und Zusammenhänge eingeschmolzen werden. Ein besonders sinnfälliges Beispiel hierfür ist die Komposition Messagesquisse für 7 Celli, die Pierre Boulez im Jahre 1976 geschrieben hat. Schon in den ersten Takten dieses Stückes wird exemplarisch deutlich, wie aus einzelnen Tönen zusammenhängende Musik entstehen kann - wie Zäsuren der geschnittenen Zeit zunächst Ton für Ton voneinander trennen und wie sie erst allmählich die Töne verbinden in harmonischen und melodischen Gruppierungen.

Messagesquisse ist komponiert für ein Solo-Celli und 6 begleitende Celli. Die Zahl 6 ist für die Gesamt-Konstruktion des Stückes von entscheidender Bedeutung. Dies zeigt sich schon am Anfang des Stückes, wenn 6 Töne eingeführt werden, aus denen alles Folgende abgeleitet ist: Jeder Ton wird zunächst deutlich akzentuiert im Solocello eingeführt und anschließend von einem begleitenden Cello übernommen, das (zunächst kaum merklich mit Dämpfer einsetzend) lange ausgehalten wird, so daß alle aufeinanderfolgenden Töne sich schließlich zu einem sechstönigen Akkord überlagern: Die Töne werden nicht nur melodisch gereiht, sondern auch harmonisch geschichtet.

Im Solocello sind die 6 Töne durch Zäsuren deutlich voneinander getrennt: als Elemente der Melodie, als Gestaltungsmittel geschnittener Zeit; in den begleitenden 6 Celli überlagern sich diese 6 Töne: als Elemente der Harmonie, als Gestaltungsmittel fließender Zeit.

Auch im weiteren Verlauf bleibt die Gruppierung in 6 Töne deutlich spürbar: Das Solo-Cello spielt Sechstongruppen, die jeweils von demselben Ausgangston ausgehen (nämlich vom Anfangston des gesamten Stückes), die mit einem Akzent und einer Pause abschließen und anschließend in veränderter Form wiederkehren. Das Prinzip der Veränderung wird schon in den ersten drei Durchläufen deutlich: In der Melodie hört man die Töne zunächst vereinzelt, dann verbunden mit Vorschlagsnoten, anschließend verbunden mit 2 Vorschlagsnoten und so weiter; Schritt für Schritt bilden sich also melodische Gruppierungen. In anderer Weise ändert sich die Begleitung: Ein Cellist nach dem anderen verläßt seinen Akkordton und geht über zum Anfangston des Stückes, auf dem er kurze Figuren spielt; so entstehen erste deutliche Konturen des Rhythmus, die sich bei jedem neuen Durchgang verdichten.

Die Entwicklung führt dazu, daß sich die begleitenden Celli mehr und mehr auf den Zentralton konzentrieren, von dem das Stück ausgegangen war. Schließlich setzt sich dieser Ton auch in der Partie des Solocellos durch: Er wird gespielt, mit Tonwiederholungen in verschiedenen Rhythmen; nur bei den einleitenden Vorschlagsnoten sind noch andere Tonhöhen zu erkennen.

In den ersten Abschnitten des Stückes bleiben die Gliederung in 6 Töne und ihre Gruppierungen stets deutlich erkennbar. Sie erscheinen in einer Formentwicklung, die sich mehr und mehr auf einen einzigen Ton und dessen Wiederholungen konzentriert - auf die rhythmische Bewegung, die sich auf alle Instrumente ausbreitet. Im weiteren Verlauf setzt sich nach und nach in allen Instumenten die melodische Bewegung durch - in raschen, rhythmisch regelmäßigen Läufen; im perpetuum mobile. Die Entwicklung führt schließlich so weit, daß alle Instrumente im Unisono spielen.

Die rasche Unisono-Bewegung mündet in einer dichten Klangfläche, die auf verschiedene Weise innerlich bewegt wird: Die 6 begleitenden Celli vereinigen sich in einer durch Trillerbewegung belebten Harmonie. Im weiteren Verlauf löst sich diese Trillerfläche nach und nach auf: Ein Instrument nach dem anderen unterbricht sie und fügt kurze Abschnitte ein, in denen die einzelnen Akkordtöne in kurzen rhythmischen Motiven wiederholt werden. Das Solocello beteiligt sich an der Formentwicklung mit Einwürfen, die an die vorausgegangenen Läufe erinnern, aber von Mal zu Mal kürzer werden. Schließlich beruhigt sich die Entwicklung, und die Trillerbewegung setzt nach und nach in allen Instrumenten aus. So ergibt sich eine durch Einwürfe klar gegliederte Entwicklung, die insgesamt als zusammenhängender Prozeß erscheint: als Rückentwicklung.

Nachdem alle Läufe und Triller verstummt sind, setzt, nach einer Generalpause, das Solo-Cello ein. Dabei verlagert sich der Akzent wieder von der fließenden Zeit auf die geschnittene Zeit. Zunächst höat man einzelne Töne, die jeweils Gruppen von Vorschlagsnoten vorausgehen.

Im weiteren Verlauf werden die Gruppen mit Vorschlagsnoten nach und nach kürzer, während andererseits die Haupttöne mehr und mehr von Tongruppen abgelöst werden. Die melodische Bewegung verstärkt sich also, indem sie allmählich von den Vorschlagsnoten auf die Hauptnoten übergeht.

Die Entwicklung mündet erneut in raschen Läufen, die im Solocello beginnen und nach und nach von den übrigen Celli übernommen werden, bis schließlich das Stück im markanten Unisono schließt. Alle Tongruppen dieses raschen Teiles sind Abwandlungen der ersten sechs Töne, die zu Anfang des Stückes eingeführt worden waren als Elemente geschnittener Zeit. Wenn sie rasch aufeinander folgen, werden ihre Gruppierungen zunehmend undeutlich, und die Bewegung der Töne nähert sich der Gestaltung fließender Zeit. So erfüllt sich die Formentwicklung: Geschnittene Zeit verwandelt sich in fließende Zeit.

b) Pierre Boulez: Notations

Geschnittene Zeit und fließende Zeit ergeben sich als unterschiedliche Aspekte bald in unterschiedlichen Perspektiven desselben Musikstückes, bald beim Vergleich verschiedener Musikstücke. Beide Stichworte eignen sich auch dafür, verschiedene Stadien einer längeren musikalischen Entwicklung miteinander zu vergleichen - sogar verschiedene Stadien im Werk desselben Komponisten.

Pierre Boulez hat 1945 einen Zyklus von 12 kurzen Klavierstücken unter dem Titel Notations geschrieben. Die ersten vier dieser Stücke hat er 1978 umgearbeitet für großes Orchester. Wenn man die Klavierfassung mit der Orchesterfassung vergleicht, kann man feststellen, wie stark sich das Formempfinden des Komponisten über mehrere Jahrzehnte hinweg verändert hat: In den frühen Klavierstücken dominieren scharf voneinander abgesetzte Gestalten und deutliche musikalische Kontraste. Ganz anders präsentiert sich die Orchesterfassung: Die Motive der Klavierfassung sind hier gleichsam als Keimzellen behandelt, die sich vervielfältigen und in Prozessen der organischen Verwandlung aufgehen. Aus einer gegliederten, kontrastreichen Klaviermusik entsteht so eine vegetativ wuchernde, im Fluß der Farben sich verändernde Orchestermusik.

c) György Ligeti: Continuum - Luciano Berio: Continuo

In vielen Musikstücken läßt sich feststellen, daß in der Detailgestaltung Musik hauptsächlich als geschnittene Zeit ausgeformt ist, während in größeren Zusammenhängen sich kontinuierliche Zusammenhänge ergeben, so daß geschnittene Zeit sich gleichsam in fließende Zeit verwandelt. Beispiele hierfür finden sich in verschiedenen Entwicklungsphasen der Neuen Musik.

György Ligeti hat 1968 ein Solostück für Cembalo komponiert, dessen Formidee schon im Titel deutlich angegeben ist: Continuum. Schon aus der Besetzung des Stückes erklärt sich, daß eine kontinuierliche Formentwicklung sich nicht direkt ergeben kann, in gleitenden Tonentwicklungen, sondern nur indirekt - in der Verschmelzung des ursprünglich Getrennten, in der möglichst engen Verbindung der eigentlich klar getrennten Töne. Ligeti erreicht dies, indem er die Töne extrem rasch aufeinander folgen läßt und sie nach und nach so verändert, daß im größeren Zusammenhang Tonbewegungen hörbar werden: Nach und nach erweitert und verdichtet sich die Bewegung der Töne im Tonraum, zieht sich wieder zusammen und entwickelt sich in entsprechender Weise weiter. So entwickelt die Musik sich bruchlos auch über verschiedene Zäsuren hinweg: An bestimmten Einschnitten ändert sich die Richtung der Formentwicklung, aber anschließend setzt sich auch in veränderter Richtung die fließende Klangentwicklung fort - als Synthese von geschnittener Zeit und fließender Zeit.

Am Schluß des Stückes wiederholt sich in höchster Lage, was anfangs in der Mittellage begonnen und sich anschließend in weiteren Tonräumen fortgesetzt hatte: Die Musik beginnt auf engstem Raum, auf einem Triller; sie weitet sich aus und zieht sich schließlich ganz zusammen: Sie mündet in extrem raschen Repetitionen eines einzigen, sehr hohen Tones.

1990 komponierte Luciano Berio ein Orchesterstück, das ausgeht von wenigen, klar unterscheidbaren Tönen, aus denen dann im Folgenden eine gleichsam kontinuierliche Formentwicklung entsteht. Das Werk heißt Continuo. Der Formverlauf des Werkes läßt sich charakterisieren als Verwandlung von geschnittener Zeit in fließende Zeit, als Synthese von klar umrissener Gliederung und bruchloser Entwicklung.

Der Komponist beschreibt das Werk in seiner klaren Strukturierung und in seiner organischen Prozeßhaftigkeit. In einer Programmnotiz des Komponisten, die im booklet der CD-Veröffentlichung seines Stückes abgedruckt ist, heißt es:

"Continuo ist ein Adagio, "in der Ferne und beschreibend". Seine Textur ist ziemlich leicht und luftig und seine Struktur basiert auf einem Gitter von wiederkehrenden Mustern. Ein kontinuierlicher Klangraum - gleichsam eine homogene Oberfläche - wird entwickelt und sporadisch unterbrochen von großen und kleinen "Fenstern", die sich nach immer anderen Landschaften hin öffnen."

2. Ein Beispiel zur Zeitgestaltung im Hörspiel

Tom Johnson: Signale

Musik als geschnittene Zeit präsentiert sich in den meisten Fällen mit klaren Zäsuren, Gliederungen und Beziehungen zwischen den Formteilen. Im Extremfall kann es so weit kommen, daß ein Stück sich darauf konzentriert, (sozusagen) seine eigene Gliederung darzustellen und zu erklären. Dies geschieht in einem Werk des amerikanischen Komponisten Tom Johnson, das 1983 im Auftrag des Hörspielstudios des Westdeutschen Rundfunks entstanden ist: Signale - ein Hörspiel in acht Teilen für zwei Darsteller, Trompete, Chor und Toneffekte. Die Gliederung dieses Stückes ist überdeutlich: Zwei verschiedene Sprechstimmen kündigen abwechselnd die Abschnitte an, indem sie Zahlen ausrufen. Jeder Zahl folgt ein Trompetenmotiv mit 4 Tönen. An bestimmten Stellen sind (etwas) längere Sprechtexte (mit zwei Sprechstimmen: A, B) und Geräusche zu hören.

A: 1 - B: 2, A: 3 - B: 4

A: Warum zählen wir? - Schuß - B: So steht es im Drehbuch. - Schuß

Angesagt wird nicht nur die Gliederung des Stückes in durchnumerierte Abschnitte, sondern auch die Gruppierung der Abschnitte in Teilen. Am Ende jedes Teiles wird die (sonst vollständig regelmäßige) Abfolge der Abschnitte unterbrochen - abweichend vom ständig variierten Spiel der Trompetentöne; mit längeren Sprechtexten und Geräuschen, schließlich auch mit Chorgesang.

Z: Signale, Schluß 1. Teil:

A: 15 - B: 15

A:Das hätte 16 sein müssen, denn 15 habe ich schon gesagt. - Schuß - B: Doch. - Schuß -

(B:) Am Ende von jedem der acht Teile geht es immer so:

Eine Zahl wird wiederholt, und eine Variation der Trompetenmusik wird wiederholt.

Du sagst noch etwas, und ich antworte mit einer längeren Rede.

Dann fangen wir mit einem der anderen (acht) Teile an,

und das ist die Form dieses Hörspiels. - Schuß -

Chorgesang mit 2 Melodietönen: AMEN

Jeder Hörer kann die Gliederung des Stückes leicht erkennen und verstehen: Die Nummern aller Abschnitte werden vorab angesagt. Die Gliederung in verschiedene Teile und deren Numerierung werden am Schluß jedes Teiles erkennbar: Am Schluß des ersten Teils singt der Chor einmal "Amen"; am Schluß des zweiten Teiles wird dieses Wort zwei Mal gesungen:

Chorgesang mit 3 Melodietönen: AMEN, AMEN

An manchen Stellen wird sogar angesagt, an welcher Stelle der formalen Entwicklung das Stück angelangt ist, beispielsweise im 3. Teil (nach der Ansage der Zahl 34):

A: Wo sind wir? - Schuß - B: Am Anfang des dritten Teils. - Schuß -

Das Hörstück erklärt sich selbst. Im Text wird sogar darauf hingewiesen, an welcher Stelle sich die formale Entwicklung ändert (mit vorwiegend absteigender - nicht mehr, wie zuvor, aufsteigender

Tonbewegung).

A: 61 - B: 62, A: 63 - B: 64

A: Wo sind wir? - Schuß - B: Zwischen 64 und 65. - Schuß -

A: 65 - B: 66, A: 67 - B: 68

A: Die Trompetenmusik klingt anders. - Schuß - B: So geht es in der zweiten Hälfte. - Schuß -

Alle Elemente der musikalischen Gliederung lassen sich klar erkennen und voneinander unterscheiden: Zwei Sprechstimmen - verschiedene Trompetensignale - Sprechtexte - Geräusche - Choreinsätze. Insoweit erscheint das gesamte Stück als extrem deutliches Beispiel einer Gestaltung mit abgestuften Zäsuren und Gliederungen: als geschnittene Zeit. Andererseits wird deutlich - darauf wird übrigens auch im Sprechtext hingewiesen, - daß dieses Werk sich auch anders hören läßt: Wenn man die Gliederung verstanden hat, kann man versuchen, den Formprozeß zu verstehen, der von einer formalen Einheit zur nächsten führt und der die verschiedenen Einheiten der geschnittenen Zeit wieder miteinander verbindet und in einen Prozeß einschmilzt, beispielsweise im 2. Teil mit folgenden Worten:

A: 16 - B: 17, A: 18 - B: 19

A: Die Trompetenmusik ändert sich immer. - Schuß -

B: Aber immer aus demselben System. - Schuß -

A: 20 - B: 21, A: 22 - B: 23

A: Verstehst du das System dieser Musik? - Schuß -

B: Sie geht immer um denselben Kreis herum. - Schuß -

Johnson verrät in seinen Sprechtexten dem Hörer nicht genau (in allen Einzelheiten), wie das Stück kontruiert ist. Immerhin bringen diese Texte aber auch in schwierigen Details den Hörer auf die richtige Fährte. Wer das vollständige Stück hört, wer Musik, Sprechtexte und Geräusche genau verfolgt, der kann viele Aspekte der formalen Entwicklung selbst herausfinden. Was viele Hörer mehr oder weniger deutlich spüren, läßt sich im Vergleich einzelner Ausschnitte bestätigen - zum Beispiel die Entwicklung der Trompetensignale, die im ersten Teil nach und nach aufsteigen (Signale 1, 16, 31, 46) und im zweiten Teil nach und nach absteigen (Signale 61, 76, 91, 106). So verbindet sich die Gliederung mit einer kontinuierlichen Formentwicklung, die geschnittene Zeit mit der fließenden Zeit.

Der Gesamtablauf des Stückes verbindet verschiedene Charakteristika der geschnittenen Zeit mit unterschiedlichen Aspekten der fließenden Zeit: Wenn der Hörer auf die Veränderungen der Trompetensignale achtet, erkennt er einen Prozeß des Wachsens und anschließend wieder Abnehmens. Im ersten Teil steigen die Tongruppen im Tonraum aufwärts, während sie im zweiten Teil wieder nach und nach in tiefere Lagen zurückkehren. Ein anderer Prozeß wird erkennbar, wenn man die verschiedenen Choreinsätze miteinander vergleicht: In jedem dieser Einsätze vollzieht sich in kurzer Zeit ein Prozeß der Tonbewegung, der sich in der Abfolge der Trompetensignale erst in größeren zeitlichen Dimensionen erkennen läßt - nämlich im Gesamtablauf des rund zwanzigminütigen Stückes. Es gibt also einen Prozeß der Tonhöhenbewegung, der in verschiedenen Dimensionen der musikalischen Form ausgestaltet ist und der am leichtesten in jedem der Choreinsätze verfolgt werden kann:

Aufstieg in höhere Tonlage - anschließend Abstieg und Rückkehr in tiefere Tonlage

In den einzelnen Choreinsätzen vollzieht sich ein Prozeß des Wachsens und Abnehmens. Vergleicht man jedoch die verschiedenen Choreinsätze miteinander, die jeweils am Schluß eines Formteils zu finden sind, so kann man feststellen, daß sich in der Gesamtentwicklung des Stückes ein Prozeß des abgestuften Wachstums ergibt - mit Einsätzen, die, von Mal zu Mal weiter im Tonraum ausgreifend, zunächst aufsteigen und danach wieder abwärts führen, mit Schritt für Schritt wachsendem Tonvorrat und zunehmender Anzahl der Amen-Anrufungen. Das Stück läßt sich also auch als zielgerichtete Formentwiclung hören. Dies zeigt sich im Schlußteil besonders deutlich - auch in den Sprechtexten und sogar in der Geräuschregie.

Die Hörereignisse dieses Stückes artikulieren sich nicht nur in der kreisenden Entwicklung der Formeinheiten, sondern auch als zielgerichteter Prozeß: Gegliedert und zusammenhängend - als geschnittene und gegliederte Zeit - als geschlossene, aber auch prozeßhaft sich öffnende Formentwicklung.)

Johnsons Signale sind ein Stück mit zwei Gesichtern: Man erkennt die Gliederung - aber auch den Formprozeß, der über die Zäsuren der einzelnen Gliederungseinheiten hinwegführt. Die Trompeten-Signale bewegen sich hin und her im Tonraum - nach und nach aufsteigend, später wieder absteigend. Die von Mal zu Mal weiter ausgreifenden Choreinsätze, aber auch die Sprechtexte machen deutlich, daß es neben dem Hin und Her auch einen zielgerichteten Verlauf gibt, eine klare Entwicklung vom Anfang zum Ende. Der Schluß des Stückes ist lang erwartet und dennoch überraschend; dafür sorgt die Geräuschregie:

A: 108 - B: 109

A: Wo sind wir? - Schuß - B: Im Aufnahmeraum. - Schuß -

A: 110 - B: 111, A: 112 - B:113.

A: Aber wo sind wir in der Struktur? - Schuß - B: Wir sind schon im achten Teil. - Schuß -

A: 114 - B: 115, A: 116 - B: 117 A: Warum gibt es 8 Teile? - Schuß -

B: Die Musik braucht diese Länge, um ihren Kreis zu machen. - Schuß -

...

(Nach 120):

A: Jetzt kommen wir zum Ende. - Schuß - B: Ja. - Schuß -

(Schüsse: Die Schüsse, wie von einem Maschinengewehr, dauern ungefähr 15 Sekunden.

Nach einer Pause fängt der Chor wieder an.)

(Choreinsatz:) AMEN (8mal)

In Tom Johnsons Hörspiel artikuliert sich in den Details als geschnittene Zeit,

in größeren Formzusammenhängen als fließende Zeit. Auch an diesem Beispiel wird deutlich, daß die Gestaltungsprinzipien der geschnittenen Zeit und der fließenden Zeit meistens zusammenwirken - in musikalischen Zeitverläufen; in musikübergreifenden Zusammenhängen sei des Hörspiels und der Akustischen Kunst, sei es in visuellen oder audiovisuellen Zusammenhängen des Stummfilms und des Tonfilms. Musikalische Formgestaltung artikuliert sich hier und anderwärts im Sinne einer Differenzierung und Synthese verschiedener Typen der in mehreren Parametern und in unterschiedlichen Verlaufstypen gestalteten Zeit.

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