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7.25.1 Brüssel - Auf der Suche nach der verlorenen Harmonie


Rudolf Frisius

AUF DER SUCHE NACH DER VERLORENEN HARMONIE

Der Begriff "Harmonie" bezieht sich dem Wortsinne nach auf zueinander Passendes:

Auf Teile eines größeren Ganzen, die, in "passender" Weise,

im bezogenen Kontrast miteinander verbunden sind.

Was hier mit "passend" oder "harmonisch" gemeint ist,

läßt sich umschreiben mit Begriffen wie:

Wohlordnung, Ebenmaß, Übereinstimmung, Eintracht.

Die aufeinander bezogenen Teile

und das größere Ganze, in dessen Kontext sie aufeinander bezogen sind,

werden unterschiedlich definiert -

je nach dem Sachzusammenhang, in dem der Begriff "Harmonie" verwendet wird;

z. B. in integrativen Konstellationen der Mythologie anders als in Differenzierungen

der Kunst (einschließlich ihrer ästhetischen Reflexion) einerseits

und der Wissenschaft

(insbesondere der mathematischen Strukturierung

und der auf ihr basierenden Beschreibung

naturwissenschaftlicher, z. B. astronomischer Phänomene) andererseits.

Im Zusammenhang der Musik

spielen musikübergreifende Aspekte des Harmonie-Begriffes dann eine Rolle,

wenn sie primär unter allgemein ästhetischen Aspekten reflektiert wird.

Dies hat sich auch in Musik und Musiktheorie des 20. Jahrhunderts

im Vergleich mit früheren Jahrhunderten nicht grundlegend verändert:

Musikalische und musikübergreifende Aspekte der Harmonie

verbinden sich im Kontext einer Entwicklung,

deren Wurzeln zurückreichen

bis in die griechische Antike und andere antike Hochkulturen

und die sich in der Entwicklungsgeschichte der Künste

von der Antike bis ins 20. Jahrhundert verfolgen lassen,

beispielsweise bis

in architektonische und musikalische Gestaltungsideen von Le Corbusier und Iannis Xenakis

oder in Versuche der musikpraktischen oder theoretischen

Integration von Klang- und Farbvorstellungen

etwa bei Arnold Schönberg und Olivier Messiaen.

Im entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang der Musik und ihrer Theorie

wird der Begriff "Harmonie" meistens stärker eingegrenzt:

auf bezogene Kontraste nicht nur in Hörereignissen (unter verschiedenen Aspekten),

sondern auch, noch enger gefaßt,

auf Kontraste in einem speziellen musikalischen Ordnungsbereich:

auf bezogene Tonhöhen-Kontraste bzw. auf Tonhöhen-Beziehungen.

Die Eingrenzung des Harmonie-Begriffes auf den Tonhöhen-Aspekt

unterscheidet sich von weiter gefaßten Verwendungen dieses Begriffes

weniger in ihren kulturgeschichtlichen Wurzeln

als in ihrerer Entwicklung während des 20. Jahrhunderts.

In der Musikentwicklung dieses Jahrhunderts

und in Versuchen ihrer zusammenfassenden theoretischen Reflexion

haben sich vor allem eng auf Tonbeziehungen eingegrenzte Versuche als problematisch erwiesen.

Dies ergab sich nicht zuletzt daraus,

daß selbst im engeren Zusammenhang der Tonbeziehungen

die für frühere Jahrhunderte gültigen Harmonie-Kriterien fragwürdig geworden waren.

Die aktuelle Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts

warf ein neues Licht auf Probleme,

mit denen der Harmonie-Begriff schon in früheren Jahrhunderten belastet gewesen war.

Damals wie heute erwies es sich als schwierig,

harmonische Tonbeziehungen präzis zu definieren:

Welche Intervalle und Intervallkonstellationen sollten als harmonisch anerkannt werden,

und welche nicht?

Und wie sollte man sie sich konkret vorstellen:

Als abstrakten Tonvorrat -

oder in einer genauer umrissenen zeitlichen Konfiguration der Töne, simultan oder sukzessiv?

Der historisch älteste Ansatz der theoretisch fundierten Definition harmonischer Tonbeziehungen

ist der Versuch der proportionalen Intervallmessung.

Die Zurückführung der konkreten Intervall-Wahrnehmung auf abstrakte Zahlenproportionen

verbindet sich in der Regel mit dem Versuch,

eine Hierarchie der Intervalle zu postulieren

auf der Basis einer Hierarchie der ihnen entsprechenden Zahlenproportionen

(die in den Theorien verschiedener antiker Musikkulturen

zunächst an Saitenlängen festgestellt wurden,

später, in der akustisch fundierten neuzeitlichen Harmonielehre, an Frequenzwerten;

der letztere Ansatz mündete in der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts konsequent in

vollständig quantifizierten, synthetisch erzeugten Frequenzstrukturen,

etwa in der 1953 entstandenen elektronischen "Studie I" von Karlheinz Stockhausen).

In der durmolltonalen Harmonielehre wird diese Hierarchie als vorgegeben angesehen,

während sie beispielsweise in der seriellen Musiktheorie sich gegebenenfalls

(z. B. in der genannten Studie von Stockhausen,

die sich in ihrer Orientierung an Intervallproportionen

von dem ansonsten dominanten Vorbild

der Intervallkonstruktion in Anton Weberns Konzert op. 24 löst)

als Ergebnis kompositorischer Strukturierung rechtfertigen muß.

(In Stockhausens 1968 entstandenem Vokalsextett "Stimmung"

ist die Radikalität des seriellen Anspruchs

der Ableitung aller Materialstrukturierungen aus einer a priori festgelegten kompositorischen Idee

insofern eingeschränkt, als die seriellen Strukturierungen

auf einen Ausschnitt aus der Naturtonreihe angewandt werden,

so daß dieses Werk Serialität nicht als ein die Naturtonbezogenheit ablösendes,

sondern im Gegenteil dieses ausdrücklich akzeptierendes,

ja sogar radikal zu Ende denkendes musikalisches Gestaltungsprinzip präsentiert).

In den auf antike harmonikale Traditionen zurückgehenden Denkansätzen

wird die Hierarchie der harmonischen Intervalle

zunächst in "außerzeitlicher" Abstraktion vorgestellt,

d. h. unabhängig von seiner konkret wahrnehmbaren klanglichen Realisierung

z. B. entweder als sukzessives oder als simultanes Intervall.

Diese allgemein auf "außerzeitliche" Tonstrukturen ausgerichtete Harmoniekonzeption

hat Bedeutung nicht nur für die ältere, sondern auch für die neuere Musiktheorie;

die ihr entsprechende Auffassung,

daß z. B. die Theorie der Bildung von Tonsystemen und Skalen

nicht externe Voraussetzung, sondern grundlegender Bestandteil

einer theoretisch fundierten Harmonielehre sein muß,

läßt sich beispielsweise verfolgen

von der Musiktheorie der griechischen Antike

bis zu der von Iannis Xenakis entwickelten,

mathematisch (mit der Siebtheorie) fundierten Theorie der Skalenbildung

(die Xenakis allerdings,

in dieser Hinsicht den Abstraktionsgrad antiker Musiktheorie noch überbietend,

auf Voraussetzungen zurückführt,

aus denen sich Strukturierungen

nicht nur von Tonhöhen, sondern auch von Zeitwerten ableiten lassen,

so daß in diesem Ansatz

die Differenzierung "außerzeitlicher" und "zeitlicher",

simultaner und sukzessiver Strukturierung

dialektisch aufgehoben wird).

Die "außerzeitliche" Strukturierung von Tonbeziehungen

kann in verschiedenen Entwicklungsstadien der Musiktheorie

in unterschiedlichen Begründungszusammenhängen erscheinen -

z. B. entweder als Ausgangspunkt oder als Zielpunkt.

Der erstere Ansatzpunkt,

dem zentrale Bedeutung für die antike und mittelalterliche Musiktheorie zugesprochen werden kann,

aber auch später noch bis ins 20. Jahrhundert hinein wirksam geblieben ist,

konzentriert sich auf die Hierarchisierung von Zahlenproportionen,

gibt also der mathematischen Fundierung des Gehörten

den Vorrang vor dessen sinnlicher Konkretion.

Der Vorrang der Abstraktion erweist sich hier

durch die Einbindung des Hörbaren in Strukturen,

die auch in anderen Sinnes- und Erfahrungsbereichen als wirksam angesehen werden können

(insbesondere auch im visuellen Bereich)

und die auch in der Musik selbst

von der konkreten sinnlichen Erfahrung weitgehend abgegrenzt aufgefaßt werden

(in der Reduktion komplexer Hörereignisse auf Konstellation fester Tonhöhen),

z. B. auch ohne genauere Differenzierung zwischen Horizontalität und Vertikalität. -

Der zweite Ansatzpunkt ergibt sich nicht

als eine von Anfang an vorausgesetzte Abstraktion,

sondern als Ergebnis einer Entwicklung,

die sich über viele Jahrhunderte hinweg in getrennten Bereichen ausdifferenziert hat

und für die sich die Abstraktion

als Versuch der Integration des scheinbar Unvereinbaren anbietet

(z. B. in Versuchen der Erweiterung von Konzepten der seriellen oder auch der formalisierten Musik

über den Bereich des Hörbaren hinaus).

Die Frage nach der Abgrenzung

des Harmonischen - des zueinander Passenden, des aufeinander Abgestimmten -

ist problematisch nicht nur im Vergleich der Musik mit anderen Sinnes- und Erfahrungsbereichen,

sondern auch in der Musik selbst.

Dies wird besonders dann deutlich,

wenn Musiktheorie nicht a priori,

sondern auf der Basis konkreter Klangerfahrung

und bezogen auf einen konkret definierbaren Entwicklungsstand entwickelt wird.

Sinnfälligstes Indiz der Abstraktion

in der auf rationalen Intervallproportionen basierenden Harmonielehre

ist die Tatsache,

daß die theoretische Begriffsbildung von der harmonischen Verbindung ausgeht, vom Intervall -

aber nicht vom einzelnen Ton, der mit einem oder mehreren anderen Tönen verbunden werden soll.

Wenn man diesen Ansatz auf die Realität der erklingenden Musik bezieht, erkennt man,

daß er einem nicht an einzelnen Tonhöhen (z. B. im absoluten Gehör),

sondern an Tonverbindungen orientierten Hören entspricht.

Das im Sinne dieser Theorie geschulte musikalische Gehör

orientiert sich nicht nur bei einzelnen Tönen, sondern auch bei deren Verbindungen

primär nicht an der exakt bestimmten realen Tonlage,

sondern an globalen oder relativen Bestimmungen.

Die Abstraktion von der präzisen Lagebestimmung läßt sich auch anders beschreiben:

Als Annahme des Prinzips der Transponierbarkeit, dem zufolge

Tongruppierungen ihren Charakter nicht wesentlich verändern,

wenn sie auf eine andere Tonstufe transponiert werden.

Wenn diese Annahme richtig wäre, müßte man annehmen,

daß melodische oder harmonische Intervalle, Tonfolgen oder Zusammenklänge

sich bei Transposition um ein beliebiges Intervall nicht wesentlich verändern würden.

Diese Annahme liegt nahe in einem musiktheoretischen Denken,

das einerseits sich auf Tonhöhenbeziehungen konzentriert,

andererseits aber über die Töne selbst keine differenzierenden Aussagen macht.

Daß dieses Denken nicht uneingeschränkt richtig sein kann,

wird deutlich, wenn man es an extremen Konsequenzen überprüft:

Offensichtlich eingeschränkt ist das Transponierbarkeit

durch die Begrenzung des Tonraumes

und durch veränderte Bedingungen des Hörens in extrem hohen und tiefen Lagen.

Es ist fragwürdig, bei extremen Aufwärts- oder Abwärtstranspositionen

einer Tonfolge oder eines Zusammenklanges davon auszugehen,

daß die betreffende Tongruppierung dabei unverändert dieselbe bleibt.

Was für große Transpositionsintervalle offensichtlich ist,

erweist sich bei genauerem Hören auch für kleinere als gültig.

Hiervon abstrahiert ein traditionellen Spuren folgendes musiktheoretisches Denken schon dann,

wenn einzelne Töne als unterschiedslos transponierbar angesehen werden,

so daß die Verbindung verschiedener Transpositionsstufen einer Ausgangstonhöhe

z. B. in einer Skala oder in einem Akkord

als Zusammenstellung völlig gleichartiger Töne vorgestellt wird.

Die Fragwürdigkeit dieses Denkens

ist spätestens in einigen exponierten Aspekten der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts

deutlicher zu Tage getreten.

(In der traditionellen Musik finden sie sich nur vereinzelt -

etwa in satztechnischen Einschränkungen

der Verwendung kleiner harmonischer Intervalle in tiefen Lagen

oder, z. B. bei Berlioz, in harmonischen Überlagerungen verschiedener Paukentöne,

die in tiefer Lage in engen Intervallabständen ein so komplexes Klangbild ergeben,

daß die notierten Tonhöhen und ihre traditionelle harmonische Klassifizierung

für den traditionellen Höreindruck weitgehend unwesentlich werden.)

Im 20. Jahrhundert wurden die Grenzen des nivellierenden Tonhöhendenkens

selbst in musikpraktischen Zusammenhängen deutlich,

die zuvor als prototypisch für ein Denken in festen Tonhöhen gegolten hatten.

Die Schwierigkeit, Hörereignisse ohne Identitätsverlust in andere Tonlagen zu transponieren,

wurde vor allem dann deutlich, wenn deren Tonhöhe nicht eindeutig bestimmbar war,

wenn es sich also um Geräusche handelte.

Luigi Russolo versuchte, diese Schwierigkeit in seiner Geräuschmusik

dadurch zu beheben,

daß er Instrumente konstruierte,

die die Transposition von Geräuschen (in Stufenabständen einer Vierteltonskala) erlaubten.

Dabei ging er von der fragwürdigen Voraussetzung aus,

daß selbst in komplexen Geräuschen immer eine dominierende Tonhöhe erkennbar bleibt,

die sich auch auf anderen Transpositionsstufen noch identifizieren läßt.

Den neuartigen Anforderungen der Geräuschkomposition wurde diese Konzeption

(die eigentlich eher der Fiktion des Geräuschklaviers verhaftet blieb,

die also traditionellem Musikdenken entspricht,

allerdings auch vorausweist auf dessen erst später entwickelte moderne technische Varianten

z. B. bei Tonbandgeräten mit variabler Wiedergabegeschwindigkeit oder bei Samplern)

nicht voll gerecht.

Die seit dem zweiten Jahrzehnt des Jahrhunderts entwickelten

Ansätze futuristischer Geräuschkomposition blieben in ihrer kompositorischen Konzeption umstritten.

Selbst avancierte professionelle Komponisten bemühten sich um andere Ansätze,

die weniger von der instrumentalen Innovation

als vom Versuch der grundlegenden und effizienten

Veränderung kompositorischen Denkens ausgingen -

sei es auch um den eventuellen Preis des Festhaltens an traditionellen Instrumenten.

Selbst Edgard Varèse hat

in seiner von Theorien Feruccio Busonis inspirierten experimentellen Klangkunst

weitgehend an traditionellen Orchesterinstrumenten festgehalten

und, trotz maßgeblicher Beiträge zur Emanzipation des Geräusches,

in seiner Instrumentalmusik (mit Ausnahme von "Ionisation")

die Arbeit mit festen Tonhöhen niemals vollständig aufgegeben,

obwohl er andererseits z. B. mit komponierten Sirenen-Glissandi

oder differenzierten Hüllkurven für ausgehaltene Töne oder Geräusche

wichtige Ansätze zur Entwicklung kontinuierlicher,

sich von festen Skalenordnung lösender Musik entwickelt hatte -

Ansätze, die später in instrumentalen und technisch produzierten Glissando-Strukturen

z. B. von Iannis Xenakis weiter entwickelt worden sind.

Diese Musik erfordert

(selbst dann, wenn sie noch mit eindeutig bestimmten Tonhöhen arbeitet

wie in den Streicherglissandi von "Metastaseis";

noch deutlicher, wenn es sich um komplexe elektroakustische Glissandi handelt

wie in "Diamorphoses")

eine Verallgemeinerung harmonischen Denkens,

das sich von festen (auch mikrointervallischen) Skalen- und Intervallstrukturen löst

bzw. feste vertikale Tonstrukturen nur noch in Grenzfällen annehmen kann,

z. B. entweder in infinitesimaler Verkürzung auf extrem kurze Zeitabschnitte,

oder an Ausgangs-, Wende- oder Endpunkten kontinuierlicher Entwicklungen.

Versuche der Loslösung vom traditionellen Tonhöhendenken unter neuren Aspekten

werden seit in den 1930er und 1940er Jahren

in Kompositionen und theoretischen Reflexionen von John Cage und Pierre Schaeffer erkennbar.

John Cage radikalisierte die schon bei Varèse vereinzelt (etwa in "Ionisation") absehbare Konsequenz

der Komposition mit Klängen mit nicht eindeutig bestimmter Tonhöhe:

Für Schlaginstrumente oder experimentelle Klangerzeuger (incl. elektroakustischer Geräte)

reduzierte sich die kompositorische Fixierung

bei der Klangmaterie auf die Angabe der Klangquelle,

ggf. mit präzisierenden spieltechnischen und dynamischen Angaben (einzelner Lautstärkewerte)

(und evtl. verbunden mit einer mehr oder weniger groben Fixierung der Tonlage, des Registers),

beim Klangverlauf auf Zeitwerte und ggf. dynamische Angaben (von Hüllkurven).

So ergab sich die Konzeption

einer vor allem in der Zeitorganisation präzise durchorganisierten Komposition

mit ansonsten mehr oder weniger unbestimmten Klängen -

eine Konzeption, die zunächst instrumental entwickelt wurde

und die später auch auf live bediente technische Medien

("Imaginary Landscape no. 1", "Credo in Us", "Imaginary Landscape no. 4")

im Extremfall ("Imaginary Landscape no. 5", "Williams Mix")

sogar auf Tonbandmusik übertragen werden konnte.

Diese kompositorische Entwicklung

verweist auf die Notwendigkeit einer Harmonielehre mit

Unbestimmtheitsgranden und -relationen -

einer Harmonielehre also, die das traditionelle Denken noch radikaler in Frage stellt

als die im Spätwerk von Cage entwickelte "Anarchic Harmony",

die zwar im Klangverlauf Variabilität und (teilweise) Unbestimmtheit

vor allem in der Zeitstruktur

(durch die "time brackets") deutlich herausstellt,

die aber in der Klangmaterie

durch die antithetische Trennung zwischen bestimmten und unbestimmten Tonhöhen

(mit weitgehend traditioneller, an das überlieferte Zwölftonsystem

oder an seine mikrotonalen Aufspaltungen gebundener

kompositorischer Fixierung der ersteren

und meistens nur grober Fixierung der letzteren)

teilweise wieder zu traditionellen Kategorien zurückkehrt.

Einen Sonderfall im Musikdenken von John Cage

stellt seine Musik für präpariertes Klavier dar.

Gerade in der Bindung an ein traditionelles,

eigentlich vollständig auf feste, eindeutig bestimmte Tonhöhen fixiertes Instrument

wird um so deutlicher,

wie sich hier das aus der Tradition bekannte

Verhältnis zwischen kompositorischer Konzeption und klanglicher Realisation

grundlegend in Frage gestellt ist -

und mit ihm die Möglichkeit standardisierter musiktheoretischer Beschreibung

insbesondere der Tonordnung, von Melodie und Harmonie:

In der traditionell notierten Partitur

lassen sich allein die rhythmischen Werte

noch auf der Basis einer traditionell geschulten Klangvorstellung entziffern.

Die notierten Tonhöhen aber werden weitgehend oder vollständig fiktiv,

wenn die entsprechenden Saiten durch Präparation

mehr oder weniger stark geräuschhaft verfremdet sind,

so daß die Anordnung der Tastatur

nicht mehr die skalare Anordnung eindeutig bestimmter Tonhöhen garantiert.

Beim Anschlag verschiedener Tasten können sich so unterschiedliche komplexe Klänge ergeben,

daß diese nicht mehr als verschiedene Stufen derselben Skala wahrgenommen werden können,

sondern nur noch als individuelle, heterogene Klangobjekte.

Damit ergibt sich neue Rahmenbedingungen

für die Erfindung, die klangliche Realisation und das Hören von Musik,

die, über den Bereich der Live-Musik hinaus,

vor allem für den Bereich der im Studio produzierten elektroakustischen Musik

bedeutsam werden sollten.

Pierre Schaeffer hat schon 1948,

im ersten Produktionsjahr der (von ihm erfundenen) konkreten Musik, bemerkt,

daß die meisten technisch produzierten Klänge

sich nicht mehr im Sinne tradierter

musiktheoretischer bzw. kompositionstechnischer Ansätze

in Skalen anordnen,

ohne Verlust ihrer klanglichen Identität

beliebig transponieren oder anderweitig klanglich transformieren lassen.

Er und Pierre Henry lösten das Problem

der (nach klassischen musiktheoretischen Kategieen) unbestimmten Klänge

anders als Cage:

Nicht in Partituren, deren Angaben für die Live-Interpretation

Spielräume der klanglichen Unbestimmtheit belassen,

sondern in Studioproduktionen,

in denen der Komponist selbst, ohne Mitwirkung eines Interpreten,

alle Details der Klangproduktion

(evtl. auch der klanglichen Projektion, z. B. spektrale, dynamische und räumliche Aussteuerung)

festlegen kann.

In dieser Perspektive ergaben sich neue Aspekte

nicht aus Aspekten der Unbestimmtheit im Verhältnis zwischen Komposition und Interpretation,

also unter Beibehaltung der traditionellen Arbeitsteilung

zwischen Komponist und Interpret (und Hörer),

sondern aus der Auseinandersetzung

mit der Phänomenologie gehörter, aufgenommener und technisch veränderter Klänge.

In dieser Perspektive ergibt sich ein neues Zentralproblem einer verallgemeinerten Harmonielehre:

Die Frage nach harmonischen und harmonisch verbundenen Klangobjekten.

Als Verallgemeinerung der traditionellen Unterscheidung

zwischen sukzessiver und simultaner Tonverbindung

bietet sich die Unterscheidung zwischen Schnitt und Montage an,

als Verallgemeinerung der traditionellen Transformationstechniken

z. B. für Motive und Akkorde und deren Gruppierungen

der Versuch einer Systematisierung elektroakustischer Transformationstechniken.

Die Ablösung der Befolgung vorgegebener Regeln

durch individuell entwickelte kompositorische Zusammenhänge,

die auch in tonhöhengebundenen,

aus Tonhöhenkonstruktionen durch Verallgemeinerung entstandenen Ansätzen des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielt,

wird hier bis zur äußersten Radikalität weiter getrieben -

in der definitiven Verwandlung traditioneller Tonkunst in autonome Klangkunst.

Die Entwicklung

des Musikdenkens sowie der Erfindung und klanglichen Realisation der Musik im 20. Jahrhundert

läßt sich beschreiben in der Polarität

einerseits der Radikalisierung des Denkens in abstrakten

(sei es naturtonorientierten, sei es temperierten, sei es aus beidem kombinierten) Tonstrukturen,

in der Verallgemeinerung des abstrakten Tonhöhendenkens

zum mehrdimensionalen abstrakten parametrischen Denken;

andererseits der Konzentration auf den real gehörten, konkreten Klang.

Die Abstraktion vom realen Klang läßt sich, vor allem im Bereich der Harmonie,

nicht nur musiktheoretisch, sondern auch kompositionstechnisch belegen

spätestens seit dem Generalbaßzeitalter,

in dem die Komponisten bei der Baßbezifferung

von der realen Lage und Intervallstruktur des Akkordes,

sogar (in der Variabilität oktavverdoppelter Töne)

von der Tonzahl, der vertikalen Dichte des Akkordes abstrahierten,

um dem Ausführenden begrenzte improvisatorische Freiheiten

bei der klanglichen Realisation der Akkorde offenzuhalten.

Die Auflösung des Generalbaßdenkens führte dazu,

daß die Einzelheiten der Akkordaussetzung (von der Intervallstruktur bis zur Instrumentation)

genauerer kompositorischer Kontrolle unterworfen

und die improvisatorischen Freiheitsspielräume des Interpreten

entsprechend eingeschränkt wurden.

Eine dieser kompositorischen Entwicklung Rechnung tragende Musiktheorie

hätte dementsprechend genauer auf Einzelheiten des Akkordaufbaus

(und evtl. auch der Akkordverbindung) eingehen,

also sich den konkret hörbaren harmonischen Merkmalen zuwenden müssen.

Statt dessen geschah jedoch spätestens im 19. Jahrhundert,

z. B. bei der Entwicklung von Stufentheorie (Weber) und Funktionstheorie (Riemann)

genau das Gegenteil:

Die Abstrahierung von den real hörbaren Tonhöhen und Tonbeziehungen,

vor allem ihre Reduktion auf einfache Akkordschemata nach dem Prinzip der Oktavverwandtschaft,

löste sich von den individuellen Besonderheiten des konkret Hörbaren

in der Rückführung auf einfache Muster der Akkorde und Akkordfolgen.

Real hörbare Zusammenklänge wurden erklärt

entweder bezogen auf Stammakkorde und daraus abgeleitete Varianten

(der Lage, der realen Intervallkonstellationen,

der Oktavverdopplung oder evtl. auch der Auslassung einzelner Töne)

oder als sekundäre, nur im größeren formalen Zusammenhang verständliche Bildungen

(z. B. mit Vorhalts-, Wechsel- oder Durchgangsnoten im Sinne der mehrstimmigen Satzlehre).

Beides wurde problematisch, sobald die traditionelle harmonische Hierarchie

in Frage gestellt wurde

sei es durch die Lösung von vorgegebenen harmonischen Ablaufsmustern,

sei es durch die kompositorische Emanzipation dissonanter Harmoniebildungen.

Komposition als Individualisierung vorgegebener harmonischer Ablaufsregeln

wurde abgelöst durch Komposition als individuelle Klangerfindung,

durch die Komposition autonomer komplexer Klangzentren.

Diese wiederum konnten im Höreindruck nur dann deutlich wahrgenommen werden,

wenn sie nicht nur im abstrakten Akkordschema,

sondern auch im konkreten Intervallaufbau und in der Instrumentation

unverwechselbar deutlich ausgeprägt waren.

Dies gelang dann, wenn die traditionellen Prozeduren

der variablen Aussetzung in verschiedenen Oktavlagen

vorsichtiger angewendet wurden als in traditioneller Musik

und so auch neuartige harmonische Bildungen sich für den Hörer deutlich profilieren konnten

(z. B. in verschiedenen Beispielen

bei Charles Ives, Arnold Schoenberg, Alban Berg und Anton Webern).

Wenn dies nicht geschah, entfernte sich die harmonische Struktur unter Umständen beträchtlich

von der in traditionellen Harmonielehren (mehr oder weniger berechtigt)

angenommenen Angemessenheit komponierter und gehörter Harmoniegesetze -

z. B. dann, wenn Harmonien primär

als Zusammenstellungen verschiedener Tonhöhenklassen

oder auch als zeitlich nicht eindeutig fixierbare

(nicht nur vertikalisierbare, sondern auch in der Sukzession permutierbare)

abstrakte Tongruppen

(z. B. als vereinzelte oder auch durch Multiplikation zum komplexeren Aggregat verdichtete Reihensegmente in einer seriellen Konstruktion, etwa bei Pierre Boulez) angesehen wurden.

Diese Radikalisierung instrumentalen

(eigentlich aus dem Generalbaßdenkens ableitbaren,

aber radikalisierend, teilweise sogar bis in die Mikrotonalität hinein weiter entwickelten) Denkens

stieß auf ihre Grenzen bei der Komposition technisch produzierter Musik,

die für die traditionellen, auf dem Notenpapier ausführbaren Ableitungsprozeduren

keine adäquaten technischen Verfahren zur Verfügung stellt.

So erklärt sich, daß selbst in a priori konstruierter, z. B. serieller elektroakustischer Musik -

und auch in von dieser inspirierter "neuer" Instrumentalmusik -

sich ein verstärktes Interesse am realen,

nicht durch abstrahierende Ableitungen verfremdeten Klang nachweisen läßt -

z. B. bei Karlheinz Stockhausen

schon in den Tongemischen der ersten beiden elektronischen Studien,

später auch in deutlich auskonstruierten instrumental/vokalen oder elektronischen Klangzentren,

die sich - als moderne Äquivalente traditioneller "Stammakkorde" -

auch mit neueren Formen "harmoniefremder" Zusatzereignisse

horizontal und/oder vertikal kombinieren lassen,

z. B. Glissando-Abweichungen, Tonhöhen- oder Lautstärke-Modulationen

oder Geräusch-Anreicherungen;

hierbei können sich, etwa in den "Hymnen",

auch neuartige Integrationsmöglichkeiten

bekannter (u. U. klanglich verfremdeter) und unbekannter Klänge ergeben,

wie sie später, in den polyphonen Schichtungen des "Licht"-Zyklus

instrumental/vokal oder apparativ

sogar in kontinuierliche Formentwicklungen,

etwa in Glissando-Übergänge zwischen verschiedenen Reihentönen

eingeschmolzen werden können.

In der kompositorischen Entwicklung Stockhausens

zeigen sich immer wieder neue Ansätze

der Neuentwicklung und gleichzeitigen Integration bereits bekannter theoretischer Ansätze -

möglicherweise Versuche der Etablierung einer Harmonie zweiten Grades,

in der nicht nur verschiedene, scheinbar miteinander unvereinbare musikalische Grundmaterialien,

sondern auch vergleichbar unterschiedliche musikalische Denkweisen

sich miteinander verbinden.

Die Suche nach der verlorenen Harmonie,

die in der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts

nach der Auflösung der Dur-Moll-Tonalität eingesetzt hat,

vollzog sich bald als Versuch der Entwicklung von Antithesen zum Tradierten,

bald als Versuch der integrativen Erweiterung,

vereinzelt (z. B. in der minimalistischen oder spektralen Musik)

auch als Versuch der Generalisierung einzelner Aspekte.

Im Bereich der Harmonik ergab sich eine Fülle verschiedener Neuansätze

im breiten Spektrum zwischen den Extremen

der versuchten Erweiterung (oder auch Reduktion) tradierter Tonalität einerseits

oder andererseits einer universellen Klangkunst,

in der sich Alternativen

zu älteren, quasi-grammatischen (oder -syntaktischen)

musiktheoretischen Ansätzen anbieten.

Die Suche nach der verlorenen Harmonie präsentiert sich in diesem Zusammenhang

in der Begegnung mit Phänomenen,

die auch das scheinbar längst der Vergangenheit Angehörige

in der Konfrontation mit neuen Entwicklungen neu zu bewerten erlauben.

Ausgewählte Literatur

Rudolf Frisius

Untersuchungen über den Akkordbegriff. Phil. Diss. Göttingen 1970

Hermann von Helmholtz

Die Lehre von den Tonempfindungen (1862). Neuausgabe Darmstadt 1968

Heinrich Schenker

Harmonielehre (1906). Neuausgabe Wien 1978 (Vorwort: Rudolf Frisius)

Feruccio Busoni

Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst (1906)

Mit Anmerkungen von Arnold Schönberg und einem Nachwort von H. H. Stuckenschmidt.

Frankfurt 1974

Luigi Russolo

L´Art des bruits(französische Übersetzung der italienischen Originalausgabe von 1916)

Lausanne 1975

Alois Hába

Neue Harmonielehre

des diatonischen, chromatischen, Vierel-, Drittel-, Sechstel-, und Zwölftel-Tonsystems (1927)

Neuausgabe Wien 1978 (Vorwort: Rudolf Frisius)

Pierre Schaeffer

A la recherche d´une musique concrète. Paris 1952

Karlheinz Stockhausen

Texte zur Musik 1-10. 1-6: Köln 1963 ff. 7-10: Kürten 1998

Pierre Boulez

Musikdenken heute I. Mainz 1963

Pierre Schaeffer

Traité des objets musicaux. Paris 1966

Musique concrète (1967, 1973). Dt. Ausgabe Stuttgart 1973

Solfège de l´objet sonore (LP-Ausgabe Paris 1967, CD-Ausgabe Paris 1998)

Richard Kostelanetz

John Cage (1968). Dt. Ausgabe Köln 1973

Franz-Josef Albersmeier (Hrs.)

Texte zur Theorie des Films. Stuttgart 1979

Pierre Boulez

Points de repère. Paris 1985

Rudolf Frisius

Aufgeklärte Musik. Über Theorie und Praxis der seriellen und konkreten Musik, in:

Rudolf Stephan (Hrsg.): Musik und Theorie. Mainz 1987

Rudolf Frisius, Helga de la Motte-Haber (Hrsg.)

Musik und Technik

Mainz 1996

Rudolf Frisius

Artikel (a) "Musique concrète", (b) "Radiokunst" (unter "Rundfunk und Fernsehen")

und (c) "Serielle Musik"

in: MGG, 2. Auflage, Sachteil: (a) Band 6, Kassel 1996; (b) und (c) Band 8, Kassel 199

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