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7.26.3 Hören und Sehen Kurzfassung b.doc


Rudolf Frisius 63 702

HÖREN UND SEHEN - SICHTBARE MUSIK

Diesseits und jenseits der Oper: Hören und Sehen als unbewältigte Konfliktsituation

"Das entschieden barocke Werk ließ eine charmante Haitianerin (Eurydice) in einer Begräbnisdekoration zu den konkretesten Klängen tanzen; Philippe Arthuys, Träger venezianischer Obelisken, brachte, von elektronischem Gluckern begleitet, vor der Aschenurne ein Trankopfer dar, während Geigen nach reinster Zigeunermanier Krokodilstränen in den Kulissen vergossen. Das war zuviel für unsere Deutschen, die zunehmend überrascht und entrüstet reagierten, aber mehr einiger herzhaft tonaler Modulationen als unserer konkreten Exzesse wegen." Diese Beschreibung gilt einem folgenreichen Skandal auf den Donaueschinger Musiktagen 1953: Der Uraufführung von "Orphée 53". Pierre Schaffer, der diese "opéra concrète" zusammen mit Pierre Henry geschaffen hat, ist damals auf heftigste Ablehnung gestoßen mit dem Versuch, neue Klangwelten mit den Aufführungskonventionen des Konzert- und Opernbetriebes zu versöhnen. Schaeffers Konzeption einer Lautsprecheroper mit live hinzutretenden Musikern und Darstellern hatte, wie er selbst später berichtet hat, damals Konflikte zwischen konventionellen und traditionellen Klangstrukturen, zwischen Hörbarem und Sichtbarem provoziert, mit denen nicht einmal sein Koautor einverstanden gewesen war: "Während Pierre Henry sein Heil in der Flucht nach vorn suchte, im Außer-Sich-Geraten des Klangs, in der Heftigkeit, in den schreckenerregenden Wirkungen einer Freisetzung des musikalischen Unbewußten, suchte ich, das zerrissene Band zur Musik der Gehörbildungsklassen und der Konservatorien, des Orchesters und der Opern neu zu knüpfen.(...) Die Autoren waren von Anfang an zu einem Kompromiß zwischen ihren Konzeptionen gezwungen, da Pierre Henry auf einer strengen stilistischen Geschlossenheit bestand, während ich mich vor allem darauf festgebissen hatte, die Möglichkeiten des konkreten Einflusses auf einen entschieden traditionellen Vokalstil zu erproben." Die Vermischung neuartiger, vorproduzierter Lautsprecherklänge mit mehr oder weniger konventionellen Live-Klängen und mit Versuchen szenischer Darstellung blieb selbst unter den beiden Autoren nicht unumstritten. So kam es dazu, daß zwei Jahre nach dem Donaueschinger Mißerfolg Pierre Henry allein des Werk zu einer reinen Tonbandmusik umarbeitete, die dann, in Verbindung mit einer von Maurice Béjart realisierten Ballett-Inszenierung, zu einem Welterfolg geworden ist: In dieser radikalen Trennung der vorproduzierten "unsichtbaren" Musik von der Live-Darbietung des Balletts wirkte die Verbindung zwischen Hörbarem und Sichtbarem offensichtlich überzeugend, während zuvor die pseudo-opernhafte Darbietung offensichtlich gescheitert war.

"Orphée 53" war der Versuch einer Synthese des Disparaten: von Klangexperiment und klanglicher Expression; von im Studio produzierter und live aufgeführter Musik; von Klang, Wort und szenischer Darstellung. Dieser Versuch kam damals offensichtlich zu früh - in einer Zeit, als junge Komponisten nach einem radikalen, streng konstruktivistischen Neubeginn suchten und dabei alle aus der Tradition bekannten Bindungen in Frage stellten - nicht nur in der Musik selbst (in bekannten Konstellationen der Melodie, der Harmonie, des Rhythmus), sondern auch in Verbindungen der Musik mit Wort und Szene. Es entstand Musik der Reduktion auf kleinste Elemente: auf Tonpunkte, Parameter und elektroakustische Klänge. Die "unsichtbare", seriell durchkonstruierte Lautsprechermusik markiert in diesem Zusammenhang (etwa in zwischen 1951 und 1954 realisierten konkreten und elektronischen Studien von Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen) eine konsequente, allerdings letztlich doch nur für kurze Zeit gehaltene Position. Es dauerte nicht lange, bis auch bei den radikalen seriellen Komponisten (beginnend mit Boulez und Stockhausen) neues Interesse an der Instrumentalmusik erwachte und, darüber hinausgehend, an neuen Synthesen zwischen Klang und Wort, Musik und Sprache: In der Öffnung zur Literatur (Pierre Boulez, "Le marteau sans maitre", 1952-1955), in neuer geistlicher Musik (Karlheinz Stockhausen, "Gesang der Jünglinge", 1955-1956) oder im politischen Engagement (Luigi Nono, "Il canto sospeso", 1956). Schon in diesem Stadium wurden, anders als in den Anfangsjahren der seriellen Musik, sehr unterschiedliche Positionen erkennbar, was dann später bei einem weiteren Entwicklungsschritt noch deutlicher werden sollte: bei der Öffnung zum Visuellen und zur szenischen Darstellung. Bei Nono konkretisierte sie sich schon frühzeitig im Wunsch nach der Erneuerung von Oper und Musiktheater. Sein musiktheatralisches Werk "Intolleranza" (1960-1961) hat Nono als "azione scenica", als Alternative zur traditionellen Oper charakterisiert mit folgenden Worten:

Und heute? Das Musiktheater ist noch unterwegs. Das entscheidende Bedürfnis: Kommunikation. Neue menschliche Situationen suchen dringend ihren Ausdruck.

Dieses Manifest zur Erneuerung des Musiktheaters gilt gleichwohl einer Komposition, die, wohl auf der Suche nach expressiver Deutlichkeit und Wirkung, in ihrer Dramaturgie durchaus noch narrative Elemente duldet und die auch musikalisch manchen Klischees der traditionellen Opernkomposition verbunden bleibt (z. B. in der Präsentation des politischen Flüchtlings als Heldentenor, in der plakativen Verwendung von Sprechtexten und Geräuschen und in dramatisch-lyrischen Kontrasten der Instrumente und Stimmen). - Andererseits ist bemerkenswert, daß der Komponist dieses (im Spannungsfeld zwischen heroischer Oper und politisch engagiertem Zeitstück angesiedelten) Werkes sich entschieden für neue Rezeptionsformen einsetzt, wenn er vorschlägt:

Das Publikum sollte zur Vorstellung kommen, umhergehen, zuhören, zusehen, bleiben oder weggehen können, weder lokal noch optisch gebunden; dafür aber aktiv in seiner Wahl dessen, was ihm nacheinander und gleichzeitig gezeigt wird.

Wenn man an die Fülle, die Verschiedenheit und die Komplexität des akustischen und optischen Materials denkt, das wir bewußt oder unbewußt psychologisch oder physiologisch jeden Tag aufnehmen, an die daraus folgende Erhöhung der Aufnahmefähigkeit und damit die Fähigkeit, die Wirklichkeit auch in ihrer Simultaneität zu erkennen, muß man sich mit Verwunderung fragen, weshalb man die Gewohnheit immer noch erzwingt, das zu sehen, was man hört und zu hören, was man sieht, und damit die perspektivische Beschränkung eines einzigen optischen und akustischen Brennpunkts.

Was Nono in den frühen 1960er Jahren vorschlug und fragte, überschreit teilweise Grenzen, die er selbst damals und auch später in seinen Arbeiten für das Musiktheater noch respektiert hat. Variabel rezipierbares und realisierbares Musiktheater ist, zumal im Bereich des etablierten Opernbetriebes, bis heute auch von anderen Komponisten nur in seltenen Ausnahmefällen realisiert worden (etwa 1971 in der Partitur von Kagels "Staatstheater" oder 1973 in den Aufführungen des von Nicolas Schöffer und Pierre Schaeffer realisierten luminodynamischen Opernprojektes "Kyldex").

Nonos Hoffnung, daß die Verbindung des Klanges mit dem Wort und mit dem Gesang neue, von der Tradition unbelastete Verbindungen zwischen Hörbarem und Sichtbarem im modernen Musiktheater ermöglichen könnte, hat keineswegs ungeteilte Zustimmung gefunden. Von Heinz Klaus Metzger mußte der serielle Ausdrucksmusiker und (Quasi-)Opernkomponist sich als "serieller Pfitzner" verspotten lassen. Die szenische Wiederaufbereitung älterer Kompositionen mit gelegentlichen Ansätzen zu holzschnittartigen ideologischen Zuspitzungen, die in "Intolleranza" und, stärker noch, in Nonos zweitem Hauptwerk für das Musiktheater ("Intolleranza", 1972/74), hat schwierige Probleme nicht zuletzt in durchaus heterogenen und kontroversen Versuchen der Inszenierung provoziert. Nono, der in seinen Partituren auf Regieanweisungen weitgehend oder vollständig verzichtete, hat seine im Musiktheater mündenden ästhetischen und ideologischen Vorstellungen, in seinem Spätwerk dann weitgehend selbst in Frage gestellt: In seinem Streichquartett "Fragmente - Stille. An Diotima" (1979-1980) werden Text-Fragmente von Hölderlin nicht gesungen, sondern nur noch stumm in der Partitur (mit)gelesen. In "Prometeo" (1981/84; 2. Fassung 1985) mutiert das Musiktheater zur "Tragedia dell´ascolto". So findet die Musik auf anderer Ebene wieder zur intensiven Konzentration auf das Innere der Klangstrukturen und Klänge zurück, die wir aus vielen Werken des jungen Nono kennen. Die Hinwendung zum Musiktheater in seiner mittleren Periode erscheint bei Nono, anders als bei vielen anderen Komponisten auch seiner Generation, keineswegs als Ziel, sondern als Versuch einer Öffnung, der sich über mehrere Jahrzehnte hinweg entwickelte, aber letztlich dann doch wieder zurückgenommen wurde.

Wege vom abstrakten Klang über die Stimme zur szenischen Darstellung, wie sie der Luigi Nono seit den 1950er Jahren gesucht hat, standen in beziehungsreichem Kontrast zu anderen Ansätzen, die sich vor allem in ihrer Position zum traditionellen Opernbetrieb anders artikulierten: Während Nono bei der Aufführung seiner Opern oft eher mit politischen als mit aufführungspraktischen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, obwohl seine Musiksprache weitgehend kompromißlos blieb, gerieten andere Komponisten seiner Generation, sobald sie sich dem Musiktheater näherten, häufig in aufführungspraktische Konfliktsituationen, denen entweder durch Anpassung an die Anforderungen des konventionellen Opernbetriebes oder durch alternative (Musik-)Theaterarbeit in anderen Institutionen Rechnung getragen werden mußte. Den erstgenannten Weg betrat schon in den 1950er Jahren Hans Werner Henze (der sich 1959 mit einer Darmstädter Aufführung des "König Hirsch" definitiv von den Idealen der "Darmstädter Schule" distanzierte), im folgenden Jahrzehnt Krzystof Penderecki (dessen Weg von bruitistisch-postserieller Orchestermusik über die Lukaspassion bis zur politisch engagierten Auseinandersetzung mit Glaube und Aberglaube in der Oper "Die Teufel von Loudon" geführt hatte; ähnlich, wenngleich nicht so geradlinig und weniger konventionell, verlief die kompositorische Entwicklung György Ligetis, der nachdem er durch seine Emigration den Zwängen des sozialischen Realismus entronnen war, zunächst elektronische Tonbandkompositionen und Orchesterstücke komponierte, dann die latent szenischen Werke "Aventures" und "Nouvelles Aventures", der anschließend geistliche Musik vertonte im "Requiem" und in dessen Seitenstück "Lux aeterna" und der einige Jahre später dann auch mit "Le grand macabre" den Weg zur Oper fand ). Während Henze und Penderecki sich von traditioneller Operndramaturgie nicht wesentlich weiter entfernten als viele andere gemäßigt moderne Opernkomponisten ihrer Zeit, hatte Bernd Alois Zimmermann mit viel größeren Schwierigkeiten zu kämpfen, als er in seiner Oper "Die Soldaten" traditionelle narrative Strukturen aufbrach und in die polyphone Überlagerung verschiedener szenischer Prozesse hineintrieb. Auch dieses Werk aber fand schließlich seinen Platz auf großen offiziellen Opernbühnen - also einen besseren Platz im nach wie vor stark konventionell geprägten Musikleben als viele Arbeiten, die in der Verbindung von Klang und Szene sich noch wesentlich weiter vom konventionell Etablierten entfernten.

Die Suche nach neuen Möglichkeiten der Verbindung zwischen Hörbarem und Sichtbarem abseits der etablierten Institutionen des Musiktheaters manifestiert sich, vor allem in den späten 1950er und in den 1960er Jahren, teils latent, teils in offener Rebellion gegen traditionsbedingte Zwänge. Im einfachsten Falle, wenn die Musik mit weitgehend konventionellen Aufführungsbedingungen vorlieb nehmen muß, kann dies schon durch die Theatralisierung einer Musikaufführung geschehen. Dieter Schnebel hat dies am Beispiel von Mauricio Kagels "Sur scène" (1959-1960) beschrieben: Die Instrumentalisten sind in doppeltem Sinn Spieler - sie spielen Musik und eine Rolle. Letztere ist allerdings nicht in dem Maß verfremdet wie die des Sprechers oder Sängers. Die Drei tun kaum anderes, als was Interpreten sonst auch tun, höchstens daß sie übertreiben. Schnebel hat darauf hingewiesen, daß Kagel bereits wenig später, in dem Ensemblestück "Sonant" (1960/...), auf diesem Wege einen Schritt weiter gegangen ist: Hier wird instrumentales Spiel nicht nur wirklich Spiel - Spielerei: ein Ball ist auf die Pauke zu werfen - sondern Spiel noch in anderem Sinn, nämlich Thetaer - der Instrumentalist spielt eine Rolle. Das tat er zwar auch bisher, aber nur einiges davon erachtete man als relevant. Realisierung von Musik wurde abstrakt vom Ergebnis her gesehen, als ob der Vortrag eines Musikstückes nur darin bestünde, die Vorschriften des Textes in richtiges Niederdrücken und Loslassen von Tasten und Pedalen umzusetzen.(...) Der Musik "Sonant" indes liegt gerade am Vorgang der Realisation. Sie ist begriffen als Komplex menschlicher Handlungweisen, die Wililkürliches und Unwillkürliches, Bewußtes und Unbewußtes enthalten. Die bis ins Szenische hineinführende Theatralisierung des musikalischen Aufführungsprozesses führt so weit, daß in einem Teil des Stückes die Interpreten auch aus den Spielanweisungen vorlesen, so daß das Publikum einerseits die Ausführungsanweisungen kontrollieren kann wie ein die Partitur mitlesender Dirigent (eine Möglichkeit, die Kagel später, in "Diaphonie" mit projizierten Partiturbildern noch weiter entwickelte), andererseits motiviert wird, die gehörten sprachlichen Anweisungen und klanglichen Resultate auch mit den Augen zu verfolgen, mit den sichtbaren Aktionen der Instrumentalisten zu vergleichen. - In späteren Werken konzentriert Kagel sich, unter dem Stichwort "instrumentales Theater", auf die Visualisierung instrumentaler oder vokaler Klangproduktionen (in Werken wie "Match", 1964; "Pas de cinq", 1965; "Unter Strom", 1969; "Dressur", 1977), in einem Falle sogar auf die Visualisierung "unsichtbarer" Musik: Unter dem Titel "Antithese" findet sich in seinem Werkverzeichnis nicht nur eine 1962 entstandene Tonbandkomposition "für elektronische und öffentliche Klänge", sondern auch eine szenische Fassung dieses Werkes als "Spiel für einen Darsteller mit elektronischen und öffentlichen Klängen" (entstanden ebenfalls aus dem Jahre 1962; die Uraufführung fand 1963 am Kölner Schauspielhaus statt) und ein "Film für einen Darsteller mit elektronischen und öffentlichen Klängen", der (als szenische/filmische Visualisierung nicht nur der gleichnamigen Tonbandkomposition, die elektronische Klänge mit aufgenommenen und transformierten Publikumsgeräuschen konfrontiert, sondern auch von gleitenden Klangstrukturen aus der 1958 entstandenen, rein elektronischen Komposition "Transicion I") 1965 für das 3. Fernsehprogramm des NDR produziert worden ist. In diesem Film thematisiert Kagel, im aussichtslosen Kampf eines Live-Darstellers mit elektroakustischen Apparaturen und Materialien, die gestörte Kommunikation (auch fragwürdig gewordene Wahrnehmungs-Konventionen im Zusammenwirken von Hören und Sehen) im technischen Zeitalter. Ein Jahr später ließ sich Kagel durch die "visible music II" von Dieter Schnebel zu einem Film anregen, der das Verhältnis zwischen Hören und Sehen, zwischen hörbarer und sichtbarer Musik, in produktiver Kritik des konventionelles Konzert-Rituals darstellt. Kagel selbst hat erläutert, was ihn an Schnebels Vorlage besonders interessierte, und er hat dabei einerseits die Musikalisierung "sichtbarer Musik", von aus dem 19. Jahrhundert überkommenen, ins Konzert-Ritual eingegangen Gesten betont, andererseits aber auch deren Verwandlung im Geiste des 20. Jahrhunderts, die Hören und Sehen zunächst analytisch trennt, bevor sie sie in neuen Synthesen wieder zu verbinden wagt. Kagel orientiert sich deswegen nicht am konventionellen Zusammenwirken von Hörbarem und Sichtbaren in der Oper, sondern an der analytischen Trennung von Hören und Sehen, am Stummfilm (und indirekt an der Lautsprechermusik), wenn er sich für Schnebels Ansatz interessiert: "Was mich primär an ´visible music´ von Dieter Schnebel faszinierte, war seine Idee, ein Stück für einen Solo-Dirigenten zu schreiben.(...) Es ist eine raum-zeitlich ungebundene Partitur, und soll stumm vorgetragen werden. Sie wäre etwa mit Stummfilmen zu vergleichen, die ebenso wie absolute Musik einer zusätzlichen Dimension nicht bedürfen." Dieter Schnebel hat darauf aufmerksam gemacht, daß Kagel nicht nur der filmischen Vorlage, sondern auch seiner eigenen Affinität zu deren kompositorischen Ansätzen gefolgt ist: "Der Film ´Solo´ gehört kompositorisch in die Reihe jener Stücke Kagels, wo er optische Verläufe gestaltet, als ob sie musikalische wären." Damit führt Kagel weiter, was in ersten Ansätzen John Cage schon 1952 versucht hat in seinem dreisätzigen Schweigestück "4´33": Der Interpret soll den dreiteiligen Aufbau dieser Komposition deutlich machen, ohne dabei einen Laut hervorzubringen. David Tudor gelang dies durch geräuschloses Öffnen und Schließen des Klavierdeckels. In dieser Interpretation zeigte sich, daß Cage hier erstmals eine "Komposition mit nicht klingenden Materialien" gelungen war. Dies hatte Konsequenzen nicht nur für seine eigene Arbeit, sondern nicht zuletzt auch für Mauricio Kagel. Kagel hat experimentelle Kombinationen zwischen Hören und Sehen schon in den sechziger Jahren weiter entwickelt bis in Bereiche hinein, die für Cage erst später bedeutsam werden sollten: "Solo" ist bedeutsam nicht nur als experimenteller Musikfilm, sondern auch in der Konfrontation des Neuen mit fragwürdig gewordenen Konventionen. Dieter Schnebel hat dies erkannt, als er die Aktionen von Alfred Feussner in diesem Film mit folgenden Worten beschrieb: "Er hat fünf Rollen zu spielen. Zwar ist er immer Dirigent, aber mal ein alter in Einstein-Maske, mal ein junger Beau und mal mehr Toscanini, mal ein dämonischer Typ - langhaarig, mit Blessur. Teils hat er zu dirigieren - auch dies in verschiedensten Weisen: scharf und aggressiv, senil-vertrottelt, majestätisch oder behutsam und in sich gekehrt. Teils geht er im Raum umher - langsam und würdig, aber auch panisch einherjagend, ja springend; endlich beginnt er gar zu fliegen - schwebt an einem Kran aufgehängt in der Luft umher. So sind die Bewegungen des Dirigenten (...) musikalisch gestaltet (...)." "Sichtbare Kritik" konkretisiert sich hier als Kritik an musikalischen Konventionen - unter einem Aspekt also, der seit den späten sechziger und frühen siebziger Jahren in Kagels Musik zentrale Bedeutung gewonnen hat: Skandalöse Popularität errang sein Beethoven-Film "Ludwig van" (1969) , in dem sich neben der Karikatur eines provinziellen Liederabends mit "In questa tomba oscura" auch eine groteske Elly-Ney-Parodie findet: Als "Klavierabend eines Transvestiten", dessen Beschreibung durch Werner Klüppelholz teilweise noch über das im Film tatsächlich Realisierte hinausführt: "´Waldsteinsonate´ im Playback, dazu allerlei asynchrone Aktionen, etwa das Spiel auf geschlossenem Deckel. Ihre Perücke wächst langsam, doch stetig an, umwuchert am Ende das ganze Klavier."

Hörbares und Sichtbares, sichtbare und unsichtbare Musik haben sich im oeuvre Kagels seit den 1960er und 1970er Jahren nicht in geradliniger Entwicklung, sondern in vielfältigen Brechungen dialektisch entwickelt. Auffällig in diesem Zusammenhang war seit den späten 1960er Jahren eine Akzentverlagerung vom technischen und ästhetischen Experiment zur kritischen Auseinandersetzung mit der Tradition: Selbst in der Entwicklung der experimentellen Musikfilme von "Antithese" (mit filmisch adaptierter elektroakustischer Musik) über "Match" (eine Filmfassung des gleichnamigen Ensemblestückes), "Solo" (mit Alfred Feussner als einzigem Darsteller), "Duo" (mit Alfred Feussner und dem Gitarristen Karlheinz Böttner) und "Hallelujah" (ein Film über das gleichnamige Chorstück, in den überdies auch die "Phantasie für Orgel mit Obbligati" eingegangen ist) bis zu "Ludwig van" (der kritischen hommage zum Beethovenjahr 1970) wird dies deutlich, und seit den 1970er Jahren hat sich Kagel noch stärker als zuvor auf filmische Adaptionen von Konzertstücken konzentriert (z. B. in der Fernsehfassung seiner 1976 auf den Donaueschinger Musiktagen uraufgeführten "Kantrimiusik"). Dies war nicht das einzige Indiz dafür, daß, nach dem Ende einer mehrjährigen erfolgreichen Zusammenarbeit mit Hansjörg Pauli und dem NDR-Fernsehen, der Musikfilm für Kagel an Bedeutung verloren hatte. Daraus zog er zwei extrem gegensätzliche Konsequenzen: Erstens den völligen Verzicht auf die optische Komponente in reinen Hörwerken: in zahlreichen seit 1969 entstandenen Radiostücken (u. a. "(Hörspiel) Ein Aufnahmezustand", 1. Dosis 1969, 2. und 3. Dosis 1971; "Guten Morgen!", 1971; "Soundtrack", 1975; "Die Umkehrung Amerikas", 1976); zweitens die Annäherung an konventionelle Aufführungsmöglichkeiten in dem 1971 aufgeführten Werk "Staatstheater", einer Auftragskomposition für das Hamburger Staatstheater, für ein konventionelles Opernhaus. Diese Komposition, einer der wichtigsten Beiträge für die Erneuerung des Musiktheaters im 20. Jahrhundert, zielt auf die grundlegende Erneuerung nicht nur einer traditionsbelasteten Gattung, sondern auch der sie tragenden Institution des Musiklebens. In dieser radikalen Zielsetzung, die einen vollständigen Bruch mit den musikalischen und dramaturgischen Konventionen der Operngeschichte bedeutet, ist "Staatstheater" singulär selbst im oeuvre Kagels (der sich später in den Opern "Die Erschöpfung der Welt" (1980) und "Aus Deutschland" (1981) teilweise um die Wiederbelebung traditioneller Konzeptionen der erzählenden und/oder darstellenden Libretto-Oper bemühte). In "Staatstheater" komponiert Kagel mit zunächst isolierten, dann aleatorisch auf neue Weise wieder zusammengefügten Versatzstücken der Operngeschichte - sei es, daß er aus den Einsingübungen der Sänger musikalische Strukturen entwickelt, sei es, daß er in der Umfunktionierung dramaturgischer Konventionen Solisten zum Chor vereinigt oder Requisiten als Hauptdarsteller einsetzt. Vergleichbar ist das Werk in seiner dramaturgischen Realität allenfalls mit anti-narrativen Experimentalopern wie "Kyldex" von Pierre Henry (einem technisch produzierten Werk mit einem variablen, vom Publikum beeinflußbaren Formverlauf und mit einer dramaturgischen Disposition, in der nicht Opernsänger, sondern von Nicolas Schöffer konstruierte Roboter die Hauptrollen spielen) (Uraufführung Hamburg 1973) oder "Europeras I und II" von John Cage (1985, Uraufführung Frankfurt 1987). Henrys Oper mit ihrer Konzentration auf vorproduzierte Tonbandmusik und dem weitgehenden Verzicht auf Live-Darbietungen (mit Ausnahme einiger Ballett-Sequenzen) bleibt selbst unter den Ausnahmewerken neuen Musiktheaters singulär. (Vergleichbar wäre allenfalls Karlheinz Stockhausens Oper "Freitag aus Licht", die 1991-1994 entstand und 1996 in Leipzig uraufgeführt wurde - ein Werk, das, in computergesteuerter Regulierung des szenischen Ablaufes, eine durchlaufende Schicht elektronischer Musik mit vorproduzierten Aufnahmen verfremdeten Gesangs und mit vokal-instrumentalen Live-Szenen kombiniert, allerdings in seiner Szenenabfolge noch Spuren narrativer Dramaturgie erkennen läßt.) Kagels "Staatstheater" und Cages "Europeras" (nicht nur in den ersten beiden, sondern auch in den folgenden Teilen) aber sind vergleichbar insofern, als sie in der Verbindung von Hörbarem und Sichtbarem versuchen, sich einerseits der traditionellen Oper zu nähern, andererseits aber auch diese gerade im Prozeß der Annäherung und der Radikalisierung ihrer Ansätze von innen heraus zu überwinden. Beide, Kagel ebenso wie Cage, sind in der Umfunktionierung des Traditionellen an die Grenzen dessen gegangen, was sich in traditionsgebundenen musikalischen Institutionen noch realisieren läßt. In ihren radikalsten Arbeiten für das Musiktheater definieren sie Extrempositionen neuer musikalischer Ansätze, die, ausgehend von der im technischen Zeitalter manifest gewordenen Auflösung traditioneller Verbindungen zwischen Hörbarem und Sichtbarem, auf neuen Wegen nach der Wiederzusammenführung des Getrennten gesucht haben.

Zahlreiche Beispiele für die Verbindung klanglicher und szenischer Aktionen finden sich auch in den Kompositionen von Dieter Schnebel. Im Vorwort seiner Partitur "Glossolalie 61" für drei oder vier Sprecher und drei oder vier Instrumentalisten (einer Ausarbeitung des 1959-60 definierten Projektes Glossolalie), die außer der Musik auch zahlreiche Regieanweisungen enthält, schreibt der Komponist unter dem Stichwort "Szenische Aufführung" Folgendes: Glossolalie kann, allerdings nur auf genügend großer Bühne, auch szenisch aufgeführt werden, sodaß die Sprecher gänzlich als Schauspieler agieren. Diese Anweisungen verweisen darauf, daß der Übergang zur szenischen Aktion dem Sprecher (ebenso wie dem Sänger) oft leichter gelingen als dem Instrumentalisten. Die Weiterentwicklung dieses Aspektes hat Michael Hirsch am Beispiel von Schnebels "Maulwerken" (1968-1974) beschrieben:

In den "Maulwerken" sind Organbewegungen, die zu akustischen Resultaten führen, akustisch vorgegeben. Hier ist die Inszenierung von Musik und Theater perfekt. Die Ausführenden sind mit dem Tätigkeitsfeld von Sängern oder Vokalisten nicht mehr zu identifizieren, sondern sie sind Darsteller von Vorgängen, die eine (Mikro-)Kosmogonie des Sprechens entwickeln.

Der Übergang vom Klang zum assoziativ deutbaren (und eventuell tatsächlich visualisierten) Klangbild kann sich, deutlicher noch als in gesprochenen oder gesungenen Texten, in freien, vom Sprachlichen losgelösten Stimmäußerungen oder in andersartigen, den Stimmklang imitierenden oder verfremdenden (instrumentalen oder elektroakustischen) Klängen konkretisieren. Beispiele hierfür finden sich schon in den ersten Jahren der elektroakustischen Musik (collagiert in der "Symphonie pour un homme seul" von Pierre Schaeffer und Pierre Henry, 1949-1950; vollständig elektronisch verwandelt in der Ballettmusik "Haut Voltage" von Pierre Henry, 1956; mit gleichsam zum Sprechen gebrachten elektronischen Klängen in "Artikulation" von György Ligeti, 1958). Luciano Berio hat gezeigt, welche Impulse die Arbeit mit der elektronisch gespeicherten und verarbeiteten Stimme auch für die Live-Vokalmusik geben kann: In der Zusammenarbeit mit Cathy Berberian entstanden nicht nur "Musiken für unsichtbare Stimme(n)" ("Tema - Omaggio a Joyce", 1958; "Visage", 1961), sondern auch ein Vokalsolo mit szenischen Elementen ("Sequenza III"; 1965). Erst seit den 1980er Jahren hat Berio sich der Opernkomposition zugewandt (beginnend mit "La vera storia", 1982, und "Un re in ascolto", 1984; kurz vor der Jahrhundertwende sich erneut umorientierend mit der 1999 in Salzburg uraufgeführten musiktheatralischen Komposition "Cronaca del luogo").

Experimentelle "sichtbare Musik" konnte seit den 1950er Jahren nicht nur aus neuartiger "Musik mit Stimmen" entstehen, sondern auch aus theatralisch inszenierter neuer Instrumentalmusik oder aus szenischen Aktionen mit unkonventionellen Klangerzeugern. Diese Musik konnte (und kann auch am Ende des 20. Jahrhunderts noch) leicht zwischen die Fronten geraten, wenn sich die Frage nach adäquaten Aufführungsorten und -situationen stellt. In mehr oder weniger konventioneller Darbietung auf einem etablierten Musikfestival (und mit Interpreten, deren darstellerische Qualitäten nicht immer das Niveau ihrer musikalischen Professionalität erreichten) läßt sich musikalisches Theater nicht überzeugend präsentieren; andererseits fehlten und fehlen oft die Voraussetzungen für eine szenisch überzeugte Darbietung, wenn die etablierten Institutionen des (Musik-)Theaters sich verweiger(te)n und allenfalls die begrenzten Möglichkeiten einer Experimentierbühne zur Verfügung stell(t)en. Wenn aber seit den 1970er Jahren auch avancierte Komponisten schließlich Zugang zu etablierten Opernhäusern fanden, so ergaben sich daraus für experimentelle Bestrebungen nicht nur Chancen, sondern gelegentlich auch Risiken: Die etablierten Opern-Institutionen förderten nicht selten die Produktion mehr oder weniger etablierter Opernmusik - auch bei Komponisten, die womöglich zuvor andere Erwartungen geweckt hatten. Hören und Sehen verbanden sich nicht selten wieder an Konstellationen, die mehr oder weniger deutlich an bereits aus der Tradition Bekanntes erinnerten. Dennoch konnte nicht in Vergessenheit geraten, daß die Intentionen Neuer Musik, auch auf der Suche nach neuen audiovisuellen Konstellationen, ursprünglich wesentlich ehrgeiziger gewesen waren und daß viele Probleme auf dem Wege ihrer Lösung nach wie vor ungelöst blieben.

John Cage hat darauf deutlich gemacht, daß neue Zusammenhänge zwischen Hören und Sehen sich nicht nur aus aktuellen musikimmanenten Entwicklungen ergeben können, sondern auch aus neuen Entwicklungen in visuellen Künsten, insbesondere im Theater, wie er es mit absichtsvoll sehr allgemein gehaltenen Worten beschrieben hat:

Ich bemühe mich, mit meinen Definitionen nichts auszuschließen. Ich würde einfach sagen, daß eine Sache wie das Theater Augen und Ohren in Anspruch nimmt. Sehen und Hören sind die beiden sinnlichen Tätigkeiten des Publikums (...) Ich verstehe unter Theater ein Ereignis, das eine unbegrenzte Anzahl von Personen - also mehr als eine Person einbezieht.

Diese weite Definition macht Verbindungen zwischen Hören und Sehen möglich, die sich von der traditionellen Operndramaturgie denkbar weit entfernen. Als frühes Beispiel hierfür erwähnt Cage das erste Happening im Jahre 1952:

Ich glaube, die Idee des Happenings ist durch das zufällige Zusammentreffen mehrerer Leute im Black Mountain College entstanden - Merce war dort, David Tudor und Publikum... Viele Leute, viele Möglichkeiten und die schnelle Realisierung, all das hat zur Entstehung des Happenings beigetragen. Ich habe am Vormittag über eine Idee nachgedacht, und am Nachmittag wurde sie umgesetzt - mir war es möglich, einen umfassenden Plan zu entwerfen.

Cage beschreibt das Happening nach den Kriterien der Unbestimmtheit und der zufallsbestimmten Gleichberechtigung musikalischer und nichtmusikalischer Ereignisse:

An einer Stirnwand des rechteckigen Saals wurde ein Film gezeigt, am anderen Ende wurden Dias projiziert. (...) In gewissen Zeitabschnitten, die ich Zeitklammern nannte, konnten die Interpreten innerhalb bestimmter Grenzen machen, was sie wollten. (...) Robert Rauschenberg ließ Musik auf einem altmodischen Phonographen mit einem Trichter und einem lauschenden Hund auf der Seite abspielen. David Tudor spielte Klavier. Merce Cunningham und andere Tänzer bewegten sich durch und um das Publikum herum. Über uns waren Rauschenbergs Bilder aufgehängt.

Es dauerte nicht lange, bis deutlich wurde, daß die in diesem Happening erschlossenen neuen Zusammenhänge zwischen Hören und Sehen, zwischen Musik und Theater für die kompositorische Arbeit von Cage bedeutsam werden sollten. Cage selbst meint, daß er sich schon damals von seinen amerikanischen Komponistenfreunden dadurch unterschied, daß er sich eher mit dem Theater auseinandersetzte, und er konkretisiert dies an zwei 1952 entstandenen Kompositionen ("4´33" und "Water Music"):

Was könnte wohl mehr mit Theater zu tun haben als das stille Stück - jemand betritt die Bühne unt tut überhaupt nichts. (...)

Die "Water Music" sollte ein Musikstück sein, das aufgrund seiner visuellen Elemente als Theaterstück rezipiert werden kann. Das heißt, das Musikstück nimmt Elemente des Theaters auf. Das erste theatermäßige Moment besteht darin, daß der Klavierspieler auf die Partitur sieht. (...)

In diesen und anderen Beispielen wird deutlich, daß völlig neuartige Verbindungen zwischen Hören und Sehen als neues Musiktheater sich zunächst nur in alternativen Veranstaltungsformen abseits etablierter Institutionen, vor allem abseits des traditionellen Opernbetriebes, realisieren ließen - sei es in experimentellen Verbindungen mehrerer Wahrnehmungsbereiche, sei es in theatralisch uminterpretierten und umfunktionierten Konzertaufführungen. Vielleicht läßt sich dies dadurch erklären, daß Cage seine vom Happening ausgehenden Neuerungen nicht musikgeschichtlich, sondern theatergeschichtlich motiviert hat: unter Berufung auf Antonin Artaud. Von ihm lernte er, daß das Theater nicht auf einem Text basieren muß, daß der Text nicht alle anderen Handlungen vorschreiben muß, so daß sich Klänge, Aktivitäten usw. unabhängig voneinander entfalten können, ohne aufeinander zu verweisen. Cage hat hieraus radikalere Konsequenzen gezogen als selbst diejenigen europäischen Komponisten, die sich seit den 1960er Jahren, oft von ihm angeregt, dem instrumentalen oder dem experimentell-musikalischen Theater zugewandt haben. Sein Artaud-Verständnis trennte ihn jahrzehntelang von der Opernbühne, und selbst die ursprüngliche Idee für sein "Europera(s)"-Projekt sah keinen anderen Weg, als das dort konventionell Vorgegebene aus sich selbst heraus aufzulösen:

Ursprünglich wollte ich in der Komposition ausschließlich die Musik aus dem Repertoire des entsprechenden Opernhauses verarbeiten. Bühnenausstattung und Kostüme wären also schon vorhanden gewesen. Sie sollten einfach völlig neu zusammengestellt werden. Statt einer einzigen Oper könnte man alle Opern an einem einzigen Abend aufführen.

Wie stark Cage sich selbst in der Rezeption seiner Vorbilder von anderen Komponisten unterscheidet, zeigt sich besonders deutlich im Vergleich mit einem jüngeren europäischen Komponisten, der sich durch Artaud zu traditionell ausnotierten Werken für Ballett und Opernhaus inspirieren ließ, die sich - ausgehend vom Ballett "Tutuguri" (1981 ff.) über "Die Eroberung von Mexiko" über die verschiedenen Fassungen des "Seraphin"-Projektes (z. B. "Seraphin-Spuren", 1996) erst Schritt für Schritt von tradierten dramaturgischen Vorstellungen lösten und schließlich deutlich machten, welche Zielvorstellung Rihm leitet, wenn er neue Musik für Opernhäuser im Geiste von Artaud komponiert:

Der Wunsch, eine Theaterform zu finden, die nicht auf Handlung fußt, sondern selbst Handlung ist. Das Theater als sein eigener Text. Höhle und Gleichnis, die Bühne: das Stück (der Raum)... Die Bilder/Bildebenen treten hinzu und sind die Inszenierung des jeweiligen sichtbaren Augenblicks. Gleichzeitigkeit mit dem Hörbaren ist stets neu zu schaffen.

Hören und Sehen haben sich im 20. Jahrhundert, nicht zuletzt unter dem Einfluß technischer Entwicklungen und ihrer Auswirkungen auch auf traditionelle Bereiche des kulturellen Lebens, weiter entwickelt in der polaren Spannung zwischen Autonomie und polyästhetischer Koexistenz. Die unteilbare Einheit eines musikalischen Live-Erlebens, in dem Hörbares und Sichtbares untrennbar miteinander verknüpft sind, wurde in Frage gestellt durch technische Entwicklungen, die die Isolierbarkeit und die - isolierte oder kombinierte - Manipulierbarkeit getrennter Sinnesbereiche und Sinneserfahrungen in zuvor unvorstellbaren Ausmaßen vorangetrieben haben. In Frage gestellt wurde nicht nur die Aura des Kunstwerkes (auch des Gesamtkunstwerkes älterer oder neuerer Provenienz), sondern auch seine Geschlossenheit und die Bindung der Rezeption an konventionell etablierte Institutionen und Situationen. Die Automatisierung der künstlerischen Produktion und von Prozessen der künstlerisch geformten Vermittlung sinnlicher Erfahrungen haben neue Möglichkeiten der Kommunikation in einzelnen oder in mehreren miteinander verbundene Sinnesbereichen geschaffen, in denen sich das Potential künstlerischer Gestaltung jeweils in verschiedenen Richtungen erweitern kann: einerseits in der ästhetischen Öffnung zur Alltagserfahrung, andererseits in der experimentellen Erforschung neuer Wahrnehmungsinhalte und Wahrnehmungsstrukturen. Die Entwicklung bleibt offen. Wer sie sich in größeren Zusammenhängen sich vergegenwärtigt und befragt, kann dabei auch auf Fragen stoßen, die auch am Endes des 20. Jahrhunderts noch aktuell sind: als "unanswered questions."

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