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7.30.5 KAGELEP.DOC


Rudolf Frisius

AMBIVALENZEN DES AKKORDEONS - AMBIVALENZEN DER NEUEN MUSIK

Anmerkungen zu Mauricio Kagels Komposition:

EPISODEN, FIGUREN - Solo für Akkordeon (1993)

"Gleichgültig ob man es liebt oder ablehnt: die Mischung aus Bauchorgel, Schoßharmonium und Knieharmonika bleibt einzigartig... Man schmunzelt, wenn man über das Akkordeon nachdenkt... Es ist, als ob alle Stücke, die darauf gespielt werden, ihre Wurzeln entweder in der Volks- oder in der Unterhaltungsmusik hätten. Diese vorprogrammierte Mißdeutung ist mir nicht unlieb: eine neue NeueMusik bräuchte viele solcher Klangerzeuger."

Diese Worte haben Wolfgang Eschenbacher daran zweifeln lassen, ob ihr Urheber "das Akkordeon ´ernst´ nimmt". Teodoro Anzellotti hat sie anders interpretiert: "Sie zeigen eine souveräne und charmante Haltung, die nicht gegen das Akkordeon gerichtet ist, sondern mit den Vorurteilen gegen das Akkordeon spielt." Anzellotti fügt hinzu: "In der Öffentlichkeit wurde meines Wissens dieser Text immer als Liebeserklärung für das Akkordeon verstanden."

Die eingangs zitierten Sätze handeln nicht nur vom Akkordeon, sondern auch von der Neuen Musik - und nicht zuletzt von der Konzeption dessen, der sie formulierte: Mauricio Kagel, einer der wichtigsten Komponisten in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, hat hier, in einer Programmnotiz zu einer eigenen Komposition für Akkordeon solo, deutlich gemacht, was ihn nicht nur am Akkordeon, sondern auch in der Neuen Musik interessiert: Das Spiel mit Illusionen und Ambivalenzen - Klangfarben im Niemandsland zwischen Orgel, Harmonium und Harmonika - Musik im Niemandsland zwischen den Zonen der Volks- und Unterhaltungsmusik und den Zonen der "alten" und "neuen" Neuen Musik (die er offensichtlich vor allem deswegen unterscheidet, um seine besondere Stellung im Bereich der "neuen" Neuen Musik zu charakterisieren).

Mauricio Kagel schreibt Musik zwischen den Fronten des (scheinbar oder tatsächlich) Alten und Neuen, und er interessiert sich deswegen intensiv für ein Instrument zwischen den Fronten des Populären und des künstlerisch (inzwischen weitgehend sogar auch avantgardistisch) Etablierten.

Kagel erzählt in seiner Programmnotiz eine "knappe Pointe aus Italien", die, ursprünglich auf den ambivalenten Charakter des Akkordeons gemünzt, auch als hintersinnige Selbstcharakteristik von Kagels Schreibweise, insbesondere seiner Schreibweise für das Akkordeon gelesen werden kann: "Was ist wohl das älteste Instrument der Welt? Das Akkordeon. Keines hat so viele Falten." Teodoro Anzelotti, der Kagels (am 17. Oktober 1993 vollendetes) Akkordeon-Solo-Stück "Episoden, Figuren" am 22. April 1994 auf den Wittener Tagen für Neue Kammermusik zur Uraufführung gebracht hat, macht im Gespräch mit Wolfgang Eschenbacher deutlich, daß diese Pointe auch jenseits aller Ironie Licht auf Kagels Konzeption des Stückes werfen kann: "Es entstand nämlich mit der Imagination, als bestünde schon eine über 200jährige seriöse Akkordeon-Tradition und -Literatur..." Kagel selbst konkretisiert dies, indem er satirisch die "Pointe aus Italien" weiterdenkt und sich die Existenz des Akkordeons "schon seit der Prähistorie musikalischer Betätigung" vorstellt. In dieser Perspektive erscheint es nachgerade bescheiden, wenn Kagel aus der Pseudo-Anciennität des Instrumentes eine zentrale Gestaltungsidee des Stückes ableitet, die nur um einige Jahrhunderte hinter die realen Anfänge des Akkordeons zurückführt: "Von solch antikem Charme verzaubert, lag es nahe, mich mit der Rhetorik des musikalischen Figurendenkens zu beschäftigen. Ich habe mich also bemüht, mit konkreten Klanggestalten zu komponieren und sie in Episoden verschiedener Dauer einzuweben." Erst im letzteren Satz verläßt Kagel die ironische Fiktion in einer Formulierung, die den Versuch nahelegt, als Andeutung einer konkreten kompositionstechnischen Information interpretiert zu werden. Anschließend wird er noch konkreter: "Weil das Akkordeon ein Instrument ist, das unterschiedliche Klangwirkungen mit dem linken oder rechten Knopfmanual erlaubt, wandern die Figuren von Seite zu Seite und verändern sich so entsprechend dem Register und der Tessitura."

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Zu Beginn des Stückes stellt Kagel dem Interpreten eine Interpretationsweise anheim, die schon in seiner Komposition PANDORASBOX eine wichtige Rolle gespielt hat: Der Solist artikuliert sich nicht nur instrumental, sondern auch vokal. In EPISODEN, FIGUREN ist dies aber nicht obligatorisch. Kagel notiert: "Gelegentliches Mitsummen während des Spiels ist nicht unerwünscht." Teodoro Anzellotti hat von dieser Empfehlung keinen Gebrauch gemacht. Er hat sie im Gespräch mit Wolfgang Eschenbacher mit der Entstehungsgeschichte des Stückes erklärt, weil Kagel Anzellotti ursprünglich kein eigenständiges Akkordeonstück, sondern eine Umarbeitung seines älteren Bandoneonstückes PANDORASBOX für Akkordeon geben wollte: "Das Mitsummen ist noch ein Relikt aus der anfänglichen Beschäftigung mit PANDORASBOX... Beim Mitsummen in EPISODEN, FIGUREN kann allerdings die Gefahr bestehen, daß man es der Konzentration beraubt, deshalb Misummen nur gelegentlich und nicht unbedingt." - Anders ist Anzellotti mit einer verbindlich vorgeschriebenen musikszenischen Anweisung am Schluß des Stückes verfahren, für den Kagel, als szenische Begleitung eines hohen Akkordes und von diesen artikulierenden, von hoher in tiefe Lage absteigenden melodischen Figuren, Folgendes vorschreibt: "bis zum Ende des Stückes auswendig spielen! - Zuhörer mit weit geöffneten Augen bis zum Ende des Stücks anschauen - anschauen - allmählich lächeln - (lächelnd anschauend) - lächelnd erstarren." Anzellotti erklärt diese Anweisung aus einem kontrapunktischen Spannungsverhältnis zwischen Klang und szenischer Aktion, da Kagel "mit dem Erreichen und Aushalten des hohen Akkords einen musikalisch quasi bedrohlich diabolischen Zustand" artikuliere, während nach seinen Worten "das Lächeln zum Publikum... konträr zum Zustand der Musik steht und den Spieß umzudrehen versucht." Auffällig ist immerhin, daß Kagel, ein an musikszenischen Aktionen und am instrumentalen Theater intensiv interessierter Komponist, nur am Schluß des Stückes eine szenische Anweisung gibt, die die Schlußwirkung der Musik selbst in witzig-effektvoller Weise verstärkt.

Teodoro Anzellotti hat berichtet, daß EPISODEN, FIGUREN in enger Zusammenarbeit zwischen Komponist und Interpret entstanden und in diesem Entstehungsprozeß auch vielfältig verändert worden ist; wir wissen von Anzellotti, daß einige ad-libitum-Vorschriften Kagels im Zusammenhang mit nachträglichen Veränderungen stehen. So erklärt es sich, daß Anzellotti sich zu den ad-libitum-Vorschriften unterschiedlich verhalten hat und daß überdies die Aufnahme der von ihm gespielten Uraufführung, die auf CD veröffentlicht ist, sich in einigen von ihm erwähnten Aspekten vom definitiven Notentext unterscheidet - z. B. mit anderen Oktavlagen oder der Auslassung von Wiederholungen (während Anzellotti von anderen faktultativen Kürzungsmöglichkeiten, etwa der von Kagel erlaubten Weglassung einer Überleitung, keinen Gebrauch macht). Interessant ist auch Anzellottis Information, daß die komplexe Vielschichtigkeit mancher Passagen sich erst als Resultat einer späteren Überarbeitung ergeben hat: "Aus einem zweistimmigen Satz wurde ein drei- oder gar vierstimmiger Satz..."

Was Anzellotti berichtet, eröffnet weitere Perspektiven der Ambivalenz des Stückes: Mehrdeutig ist nicht nur sein instrumentales und tonstrukturelles Erscheinungsbild, sondern - in verschiedenen Details - auch seine satztechnische und formale Erscheinung.

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Man kann versuchen, beim Studium der Partitur die im Titel des Stückes genannten Figuren und ihre Gruppierung in Episoden herauszufinden, etwa in folgender Weise:

1. Episode (T. 1-11) rubato e quasi cadenza, Haupttempo 48-52 oder 48

Die Hauptfigur (beginnend in rascherer Bewegung, mündend auf einem längeren Zäsurton)

und ihre Verwandlungen: T. 1, T. 2, T. 3 mit Auftakt, T. 5 Ende, T. 8 Ende, T. 9, T. 10;

ziemlich ruhig und leise

(Notenbeispiel: Seite 2 und 3, Takt 1 bis 24)

Schon in den ersten Takten des Stückes wird deutlich, daß Kagel systematisch mit verschiedenen Zeitwerten einerseits für die Dauern einer Figur, andererseits für ihre kleinsten Unterteilungen arbeitet. Dies zeigt sich einerseits beim Vergleich der ersten drei Figuren (T. 1 bis T. 3 Anfang), deren Dauer sich Schritt für Schritt verkürzt: 5 Viertel - 4 Viertel - 3 Viertel; andererseits zeigt sich beim Vergleich der Figuren , daß die Unterteilungseinheiten in beiden Systemen wechseln, und zwar im oberen System zwischen Sechzehntel-Sextolen, Sechzehntel-Quintolen und Sechzehnteln (6-5-4, T. 1-2), im unteren System zwischen Sechzehnteln, Achtel-Triolen und Sechzehntel-Quintolen (4-3-5, T. 1-2). Die ersten beiden Abschnitte (T. 1-2) sind insofern besonders eng miteinander verwandt, als hier alle in Frage kommenden Unterteilungen (zwischen 6 und 3 Einheiten pro Viertel) vorkommen und jeweils um zwei Einheiten unterschiedene Unterteilungen überlagert sind (6 und 4 in Takt 1, 5 und 3 in Takt 2), so daß die überlagerten Figuren in T. 2 nicht nur als Verkürzungen von Takt 1 (von 5 Viertel auf 4 Viertel) erscheinen, sondern auch als Verlangsamungen der Figuren (von 6 auf 5 Einheiten im oberen System, von 4 auf 3 Einheiten im unteren System). Beim Übergang zu den folgenden überlagerten Figuren (Takt 2 Ende) ergibt sich einerseits eine Verlangsamung (von 5 auf 4 Unterteilungseinheiten im oberen System), andererseits eine Beschleunigung (von 3 auf 5 Einheiten im unteren System).

Die in den ersten drei Takten aufgestellten Figuren spielen auch im weiteren Verlauf eine Rolle - beispielsweise die einleitende Sextole (Takt 1 - in anderer Harmonisierung und lauter wiederkehrend in Takt 5 Ende) oder die ihr folgende Quintole (T. 2 oberes System - Takt 8 Ende unteres System, eine Oktave tiefer) oder die darauf folgenden Sechzehntel (T. 2 Ende oberes System pp - T. 10 Mitte oberes System, mit Umstellung der Töne, anschwellend bis zum mf). Die Figuren sind aus Ausschnitten aus der chromatischen Skala gebildet (z. B.: h-c-des-d-es-e, T. 1 oberes System; (c-)h-b-a-as-g-ges, T. 1-2 unteres System). Sie werden begleitet von ausgehaltenen Tönen, wobei sich häufig pseudotonale Konstellationen ergeben (z. B. in T. 1: 2 verminderte Dreiklänge übereinander - h-d-f, g-b-des; die Akkordtöne werden meistens in Halb- oder Ganztonschritten weitergeführt).

In den ersten Takten (T. 1-4) bewegen sich melodische Figuren und Akkorde in kleinen Schritten. Erst später erscheinen Tonkonstellationen, die über die Grenzen eines Oktavraumes hinausführen (beginnend mit T. 5 auf der zweiten und dritten Zählzeit - in beiden Systemen, die jeweils zwei Oktavräume ausnutzen; man kann feststellen, daß benachbarte Stufen der chromatischen Skala in verschiedenen Oktavlagen vorkommen: c2-h-B, a1-as-G; die Wiederholung der Töne c, b und d wird teilweise verschleiert dadurch, daß sie beim ersten Auftreten nur extrem kurz, als Vorschlagsnoten, zu hören sind; insgesamt ermöglich die Erweiterung um verschiedene Oktavräume eine weiträumig aufsteigende melodische Bewegung, die im "movendo" sinnfällig die Wiederkehr der ersten chromatischen Figur vorbereitet, jetzt in schnellerem Tempo; die Arbeit mit verschiedenen Oktavlagen setzt sich auch im folgenden Takt (T. 6) vor, jetzt mit anderen rhythmischen Unterteilungen im unteren System: Achteltriolen - Sechzehntel - Achtel, also 3-4-2, anstatt 3-4-5 im vorausgegangenen Takt. Im folgenden Takt lassen sich denselben Oktavraum erfüllende und aus dem Oktavraum herausspringende Töne noch deutlicher unterscheiden (T. 7: 1 Vorschlagston c1 - chromatisches Skalenfragment d-es-e-f (4 Töne); 2 Vorschlagstöne c1-d (wiederkehrende Töne) - Skalenfragment es-e (2 Töne); 4 Vorschlagstöne c1-d-es-As (erster und letzter Ton aus dem Oktavraum herausspringend, 1-3 wiederkehrende Töne) - Skalenfragment f-g-fis (3 Töne)).

2. Episode (T. 12-13), Haupttempo 92 (in sehr hohe Lage aufsteigende Melodie - Begleitung mit Halteton und pendelnden Terzen in sehr tiefer Lage); ruhig und sehr leise

Die Melodie exponiert sieben verschiedene Töne (ohne Anrechnung der Vorschlagsnote es, die, in tieferer Lage, auch in der Begleitung erscheint); 5 weitere Töne, ein Halteton und zwei hin- und herpendelnde große Terzen, erscheinen in der Begleitung, so daß sich insgesamt hier (wie übrigens auch schon in früheren Takten) ein vollständiges chromatisches Total ergibt. Fast alle Melodietöne haben verschiedene Dauern (gemessen in Achtel-Triolen: 7-1-6-2-4-6-3; unter den Zahlen 1 bis 7 kommt 6 zweimal vor, während 5 fehlt; es ergibt sich eine fast gleichmäßige Berücksichtigung der verschiedenen Dauern - eine serielle Verteilung mit einer vereinzelten Ausnahme, d. h. zugleich Bestätigung und Modifikation serieller Konstruktion, wie man sie außer bei Kagel beispielsweise auch bei György Ligeti finden kann; auch in der Begleitung werden teilweise quasi-serielle Gruppierungen geschaffen in Gruppen von Legato- und anschließenden Staccatotönen, etwa 4-2-3-6 in T. 12).

3. Episode (T. 14-23), Überleitung zu rascherer Bewegung, Haupttempo 46 bzw. 48-50

(2 Figuren mit absteigender großer Sekunde T. 14; Überleitung zu pendelnder Bewegung T. 15; pendelnde Bewegung in hoher Lage, überlagert mit Baßmelodie T. 14/15-21; erste Tremolando-Ankündigungen T. 22); laut beginnend - ab- und wieder anschwellend

In den ersten beiden Takten dominieren dieselben Melodietöne (e3 und d3) - zunächst in zwei zweitönigen Gruppierungen (ff, Dauer 3 Viertel - mf, Dauer 2 Viertel; d. h. Weiterführung quasi als verkürztes Echo), dann in einer seriellen Gruppierung, die zu einem neuen melodischen Spitzenton führt (e3-d3-e3-f3(-g3), Dauern in Sechzehnteln: 2-3-4-1). Die Begleitung führt Schritt für Schritt abwärts - zunächst in Akkorden (T. 14-15), dann in einer Baßmelodie mit Tongruppen, die in Abschlußtönen stets wechselnder, sich regelmäßig verkürzender Dauern münden (Dauern, gemessen in Sechzehnteln, in T. 15-20: 10-11, 7-6-5-4-3-2-1; zwischen den längeren Tönen finden sich jeweils drei kürzere Töne - außerdem gibt es eine, durch die durchlaufende rhythmische Struktur weitgehend verdeckte, Periodizität wegen der mehrfach wiederkehrenden siebentönigen Folge H-F-A1-Es-E1-Des-Ges). Im gesamten Abschnitt geht die Musik nach langsamem Beginn schrittweise über zu immer kürzeren Notenwerten - in T. 22 mündend in Tremolandi, die bereits auf den kommenden Abschnitt vorausweisen (statt der zuvor gehörten, ruhig pendelnen großen Terzen erscheinen jetzt rasch tremolierende große Dezimen, d. h. um eine Oktave erweiterte große Terzen, auf verschiedenen chromatischen Stufen).

4. Episode (T. 24-44), Tremolandi und Triller, Tempo 84/168 bzw. 88/176

Diese Episode beginnt mit aufwärts oder abwärts einsetzenden Tremolo-Brechungen von Intervallen - zunächst sind es Quinten, später kommen auch andere Intervalle vor, wobei sich insgesamt die intervallische Bewegung verengt und dabei mehrere Takte lang (T. 32-39) in Triller übergeht. Auch bei den Trillerketten, die in beiden Systemen verschieden rhythmisiert sind, finden sich serielle Gruppierungen, z. B. in den Zweiklängen von T. 38 f. die Dauern 2-4-3 (gemessen in Achteln) und die Intervalle 6-7-5 (gemessen in Halbtonschritten: Tritonus - reine Quinte - reine Quarte). Der gesamte Abschnitt wird extrem rasch gespielt, so daß die einzelnen Intervalle teilweise nur noch undeutlich zu identifizieren sind; in ihm steigern sich die akkordische Dichte und vor allem Lautstärke.

Notenbeispiel: S. 4, 3 untere Systeme

5. Episode (T. 47-61), 2 Klangschichten mit tremolierenden Sekundklängen (Schritt für Schritt absteigend von sehr hoher in hohe Lage) bzw. mit aufwärts führenden Figuren (schrittweise übergehend von höheren zu tieferen Oktavlagen); extreme Lautstärke (mehrfach ab- und wieder anschwellend), noch schnelleres Tempo als zuvor (112)

Im oberen System entstehen quasiserielle Gruppierungen durch Einfügung von längeren Zäsurtönen:

3 Viertel - 2 Viertel - 4 Viertel (- 3 Viertel) (T. 47-52, in tieferer Lage T. 53-57);

im unteren System ergeben sich serielle Pausengruppierungen:

0 - 1 - 3 - 2 (T. 47-50, gemessen in Achteln)

Notenbeispiel: S. 5, erstes und zweites System (T. 45-52)

6. Episode (T. 62-92, 93-147), 3 Klangschichten mit schnellen bzw. mittelschnellen Tremolandi und längeren Melodietönen, Prestissimo mit Haupttempo 170 (Binnenzäsur nach Beruhigung T. 83-92; danach Rückkehr zum Prestissimo, dynamischer Höhepunkt T. 115 ff., Beruhigung ab T. 135)

Notenbeispiel: S. 8, oberes System (T. 112-117)

7. Episode (T. 148-155), kurzer Ruhepunkt; leise, ruhig, ziemlich tiefe Lage; Tempo ca. 40

8. Episode (T. 156-183), ruhige melodische Pendelbewegungen abwärts führend (182, 183 Überleitungstakte - 183 in melodischer Entsprechung zu T. 14)

Serielle Gruppierungen durch längere Zäsurtöne (T. 156 ff.): 4-2-3-5-1, 3-4-2-1-5, 2-5-4-3, 5-1-4-2-3, 2-5-1-3-4

Notenbeispiel: S. 9, drei untere Systeme (T. 152-170)

Serielle Gruppierungen im Schlußtakt (T. 183): 6-5-4-7 (Dauern in Achteln)

Notenbeispiel: S. 10, 3 untere Systeme (T. 183-188)

9. Episode (T. 184-216), Allegretto, Tempo ca. 96 (184-197) (repetierte und pendelnde Zweiklänge) - Höhepunkt mit repetierten Akkorden Tempo ca. 104, sehr laut und dicht (198-201) - Abwandlung des ersten Teils mit Verlagerung der Zweiklangsfiguren in die tiefe Lage, dynamische Steigerung (T. 202 ff., Beruhigung T. 215 f.)

Figurationen mit chromatisch absteigenden Spitzentönen: e3-es3-d3-des3-c3 (T. 184-193)

serielle Gruppierungen in hohen und tiefen Zweiklängen (T. 190, 194, 208, 211: 3-1, 2-2, 1-3)

Notenbeispiel: S. 11, 3 obere Systeme (T. 189-195)

10. Episode (T. 217-220), kurzer Ruhepunkt, Ausweitung im Tonraum mit aufsteigenden Terzen und absteigenden Dreiklängen, ruhig und leise

Quasi-seriell dosierte Dauern: 4-5-2-6-3-7, 9-10 (in Achteln)

Notenbeispiel: S. 13, 3 obere Systeme (T. 212-221)

11. Episode (T. 221-228), Andante Tempo ca. 58, kurze Terzakzente in wechselnden Oktavlagen überlagert mit ausgehaltenem übermäßigem Dreiklang in tiefer Lage, sehr ruhig und leise

12. Episode (T. 228-231), Überleitung: aufsteigende Akkorde (Dreiklänge), ruhig und leise

13. Episode (T. 232-247), pendelnde Akkorde (chromatisch, ab T. 242 Mitte ganztönig), an- und abschwellend, mit Vibrati

Seriell dosierte Dauern der pendelnden chromatischen Akkorde (T. 232-238): 5-5, 6-3, 4-4, 3-6

seriell dosierte Paare von Dauern in Ganztonakkorden (T. 239 Mitte - T. 247): 5-5, 4-4, 3-3, 6-6

Notenbeispiel: S. 14, 3 obere Systeme (T. 232-251)

14. Episode (T. 248-251), Überleitungstakte ad libitum über ausgehaltenem Akkord - harmonische Akzente lauter Zweiklang - dichterer, aber leiserer Akkord, ausklingend in Einzelton

15. Episode (T. 252-258), Überleitungstakte ad libitum,

Wiederkehr der Pendelbewegung (d2-a1 bzw. d2-a2, Quarten)

16. Episode (T. 259-265), repetierte Zweiklänge (Quinten) im Quartabstand hin- und herpendelnd, begleitet von ruhigeren Zweiklangsfolgen (aufsteigend - meist Tritoni)

17. Episode (T. 266-268), Überleitungstakte - schnellere Notenwerte, Zäsur

18. Episode (T. 269-270), Überleitungstakte - langsamere Notenwerte in rascherem Tempo, Zäsur

19. Episode (T. 271-307), Akkordfolgen, sehr laut und dicht (pendelnde viertönige Akkorde in verwandten rhythmischen Konstellationen) - diminuendo (aufsteigende Folge von dreitönigen Akkorden in mehreren Durchläufen)

Notenbeispiel: S. 15, T. 269-290 (T. 288-290 in Fotokopie evtl. abdecken)

20.Episode (T. 308), sehr leiser dreitöniger Akkord in sehr hoher Lage, überlagert von Tongruppen, absteigend von hoher in tiefe Lage (2 Viertongruppen - 2 Dreitongruppen - 2 Sechstongruppen - 2 Zweitongruppen - 2 Einzeltöne - 2 Fünftongruppen) - leiser Abschluß mit 6 Tönen in sehr tiefer Lage

Notenbeispiel: S. 16 T. 299-308)

Kagels Akkordeonstück beginnt mit mehreren chromatischen Figuren, die jeweils in lange Töne und Tongruppen münden (T. 1 - 11). Es folgt eine weiträumig, in weiten Intervallen in eine extrem hohe Lage aufsteigende Melodie, die in extrem tiefer Lage begleitet wird mit einem langen Ton und darunter gesetzten, ruhig (in Achteltriolen) hin und her pendelnden großen Terzen (T. 12-21). Anschließend setzt die Pendelbewegung, langsamer als zuvor, in hoher Lage ein: Zunächst mit einzelnen Tönen (e3 und d3 im Wechsel, T. 14-15), dann wieder in großen Terzen (T. 16-21). Die Pendelbewegung hat sich dabei wieder beschleunigt (bis zu Achteln). Hieraus entwickelt sich ein Prozeß, der bis zu extrem schnellen, hin- und herpendelnden Bewegungen führt: Mit raschen Tremolandi in großen Dezimen (also intervallisch um eine Oktave weiter als zuvor die großen Terzen: T. 22) und anderen, meist weiteren Intervallen (T. 24-31), schließlich in Trillern und tremolierenden Zweiklängen (T. 32 mit Auftakt bis T. 46). Im weiteren Verlauf verlangsamt sich die Pendelbewegung der tremolierenden Töne (Zweiklänge in Sechzehntel-Quintolen, häufig unterbrochen mit längeren Zäsurtönen, T. 47-61 - ein zwei verschiedenen Geschwindigkeiten gleichzeitig, in Sechzehnteln und Achteltriolen, T. 62-84, mit anschließender Beruhigung, T. 85-92, und Wiederkehr der raschen zweischichtigen Pendelbewegungen,T. 93-114 - diesmal nicht sogleich in einer Beruhigung mündend, sondern zunächst in extrem lauten, markant hin- und herpendelnden gegenläufigen Terzketten in Viertelbewegungen in extremer Lautstärke "con tutta la forza", T. 115-140, sich wieder beruhigend, ab T. 135, und ruhig ausklingend, T. 146-155). Im weiteren Verlauf verbinden sich ruhige Pendelbewegungen mit abwärts führenden Melodielinien (in Achtelbewegungen, T. 156-180, mit anschließender Beruhigung und Überleitung, T. 181-182). Es folgt eine kurze Reminiszenz an die zuvor (T. 14 ff.) gehörten, ruhig hin- und herpendelnden Terzen (T. 183). Danach geht die Musik wieder zu rascherer Bewegung über: Man hört eine Pendelbewegung in Sechzehntelnoten, bei der abwechselnd Sexten oder Septimen (in höherer Lage) und Sekunden (in tieferer Lage) zu hören sind; die Spitzentöne dieser Figuren beginnen in hoher Lage und steigen von hier aus schrittweise chromatisch abwärts (von e3 bis d3, T. 184-189; von des3 bis c3 in T. 190-193 und anschließend, als Wiederholung, in T. 194-197; anschließend, in etwas unregelmäßigerer Bewegung, in repetierten Akkordketten weiter abwärts geführt bis f2, T. 198-201). Anschließend wandern die zuvor (T. 184-197) gehörten Zweiklänge in die tiefe Lage und überlagern sich mit raschen Tremolandofiguren in höherer Lage (T. 202-213), bevor die Musik sich beruhigt in ruhig auseinander strebenden Zusammenklängen (in hoher Lage schrittweise aufsteigend, in tiefer Lage schrittweise absteigend, T. 214-216; erneut in mittlerer Lage ansetzend, anschließend mit aufsteigenden Terzen und absteigenden Dreiklängen, T. 217-221). Die Bewegung beruhig sich auf einem lange ausgehaltenen übermäßigen Dreiklang in tiefer, weiter Lage (T. 221 mit Auftakt bis T. 228). Diesem leisen Akkord überlagern sich kürzere, durch längere Pausen voneinander abgesetzte Terz-Akzente in verschiedenen Lagen (T. 222-227). Anschließend verdichtet sich die Tonstruktur mit dreitönigen Akkorden, die zunächst aufsteigen (T. 228-230), dann - zunehmend kräftiger modelliert durch an- und abschwellende Dynamik sowie durch Vibrati im Wechsel weniger Akkorde hin- und herpendeln (chromatische Akkorde, T. 230-242; ganztönige Akorde, T. 242-247). Anschließend leitet Kagel über zu einem längeren Abschnitt mit repetierten und hin- und herpendelnden Zweiklängen (T. 259-266 - als Abwandlung von Figurationen, wie sie zuvor , T. 184-214, zu hören waren; die mit Akkorden, Terzketten und pendelnden Bewegungen diesen Abschnitt vorbereitende Überleitung, T. 248-258, notiert Kagel "ad libitum", sie kann also ausgelassen werden). Am Schluß des Stückes verwandeln sich die Figuren der hin und her pendelnden Töne in Wiederholungen und Abwandlungen verschiedener (melodischer oder harmonischer) Tongruppen: Den Tonraum markierend (T. 269-270 im forte, T. 271-287 fff in kompakten Akkorden); in einer mehrfach wiederholten Kette aufsteigender Akkorde (T. 287-307); mit melodischen, von hoher in tiefe Lage absteigenden Figuren, die sich einem leisen hohen Akkord, dem Zielpunkt der vorausgegangenen Akkordbewegungen, überlagern (T. 308).

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Die stilistisch-kompositionstechnische Ambivalenz in Kagels Akkordeonstück ergibt sich - wie auch in vielen anderen seiner Stücke, vor allem in den meisten seit den siebziger Jahren entstandenen Kompositionen - vor allem aus dem Spannungsverhältnis zwischen (quasi-)tonalen und (quasi-)

seriellen Tonstrukturen: Man hört Bekanntes in unbekannten Konstellationen. Die Figuren, von denem Kagel in seinem Werkkommentar spricht, bewegen sich im Niemandsland zwischen melodischen Floskeln, etüdenartigen Spielfiguren und Begleitfloskeln. Sie erscheinen bald in wörtlichen Wiederholungen, bald in wechselnden Rhythmen, Tonlagen, Intervallen oder Klangfarben. Auf Assoziationen mit der traditionellen, an der Rhetorik orientierten musikalischen Figurenlehre würde der Hörer oder der Analysierende wahrscheinlich ohne Kagels ausdrücklichen Hinweis nicht ohne weiteres kommen. Seine hintergründig-ironischen Anspielungen auf den Stellenwert des verwendeten Instrumentes im heutigen Musikleben artikulieren sich in scheinbar provozierenden Widersprüchen zu den vertrackten seriellen Strukturen. Bekanntes un Unbekanntes, spontan Assoziiertes und intrikat Konstruiertes verbinden sich im provozierend Neuen.
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