FORUM ANALYSE:
MEDIENSPEZIFISCHE ANALYSE - ANALYSE MEDIENSPEZIFISCHER MUSIK

Rudolf Frisius
Einführung
Wie hören und analysieren wir Musik im Zeitalter des Lautsprechers und des Computers?
Welche Möglichkeiten eröffnen ältere und neuere Medien für das Hören und Analysieren von Musik?

Unter dem Einfluß technischer Medien haben sich nicht nur die primären musikalischen Verhaltensweisen, das Musikhören und das Musikmachen, verändert, sondern auch die Methoden der wissenschaftlichen Beschreibung von Musik. Die Analyse komponierter Musik ist jetzt nicht mehr auf eine Partitur, d. h. auf eine der klanglichen Realisation vorgeordnete schriftliche Vorlage angewiesen. Nicht nur Musik verschiedener Epochen und Kulturkreise ist in weltweit verbreiteten, beliebig häufig reprodzierbaren Aufnahmen zugänglich geworden, sondern auch Hörereignisse aller Art (beides in vielen Fällen überdies nicht nur in „unsichtbaren“ Klängen, die über Lautsprecher wiedergegeben werden, sondern auch in Verbindung mit technisch konservierten, evtl. auch produzierten und/oder transformierten, stehend oder bewegten, die Klänge parallel oder kontrapunktisch, homogen oder heterogen begleitenden Bildern). Auch dann, wenn es nur um das Hören geht (und nicht um seine Verbindung mit anderen Sinnesbereichen, insbesondre nicht mit technogenen Bildern), kann dies zu einer grundlegenden Änderung der Aufgaben musikalischer Analyse führen:

Musik aller Art wird, im Kontext der gesamten Hörerfahrung, primär nicht mehr im abstrakten Notenbild, sondern im konkreten Klangbild beschrieben. Alles Hörbare wird potentielles Objekt musikalischer Analyse. Dadurch erweitert sich insbesondere auch das Spektrum analysierbarer Musik über den Spezialfall exakt ausnotierter Musik hinaus, z. B. auch auf Musik aus oralen Traditionszusammenhängen und auf ohne Noten komponierte technisch produzierte Musik. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Klang und Notation kann sich neu stellen, wenn im Zusammenhang von Höranalysen Hörnotationen entstehen oder wenn apparative Notationen einbezogen werden. Das Verhältnis zwischen musikalischer Rezeption und Produktion kann sich dann grundlegend verändern, wenn Musik mit technischen Hilfsmitteln so weitgehend analysierbar geworden ist, daß der Analysierende sie mit seinen Hilfsmitteln nicht nur beschreiben, sondern auch experimentell verändern kann.

Die folgenden Beiträge behandeln allgemeine Veränderungen des Hörens und Analysierens unter dem Einfluß der Medien (Frisius), allgemeine Probleme der Analyse medienspezifischer Musik (Delalande), Einzelanalysen elektroakustischer Musik (Hoffmann, Tutschku, Brümmer) und allgemeine Aspekte medienspezifischer Musik in Verbindung mit Einzelbeispielen (Schwan)

(NB: Anschließend die Beiträge FORUM ANALYSE in folgender Reihenfolge:
- Rudolf Frisius
Musikhören und Musikanalyse in einer gewandelten Wirklichkeit
- Francois Delalande
Eine Musik ohne Noten: Einführung in das Hören und Analysieren der Elektroakustischen Musik
- Pascal Decroupet
Prinzip Montage: das andere Komponieren im 20. Jahrhundert?
- Peter Hoffmann
GENDY3 von Iannis Xenakis - eine Höranalyse
- Tutschku (Text über „Sieben Stufen“ - liegt dem Verlag bereits vor)
- Brümmer (Saxl) (wurde vom Autor bereits direkt an den Verlag geschickt)
- Brümmer (De la nuit) (wurde vom Autor bereits direkt an den Verlag geschickt)
- Schwan (liegt dem Verlag bereits vor - es gilt die Fassung mit dem neuesten Datum)

10. 10.: Bereits beim Verlag: Hoffmann, Tutschku, Brümmer Saxl, Brümmer De la nuit, Schwan)

 

I. Rudolf Frisius
Musikhören und Musikanalyse in einer gewandelten Wirklichkeit
1. Vorbemerkungen
1.1 Allgemeines
1.2 Polaritäten des Hörens und Komponierens:
Erfahrungsorientierung und Konzeptorientierung

2. Wandlungen des erfahrungsorientierten Hörens
2. 1 Live-Musik und ihr Funktionswandel
durch Konservierung und Wiedergabe über Lautsprecher
2.2 Umfunktionierung von Live-Musik zu radiophoner Musik
2.3 Konservierte Live-Musik - umfunktioniert durch Montage und Mischung

3. Veränderungen des Musikhörens -
     Polarisierungen des Hörens und Analysierens
4. Analyse erfahrungsorientierter Musik
(Ruttmann, Weekend - mit einem aktuellen Ausblick auf Elio Martusciello
5. Wandlungen des konzeptorientierten Komponierens und Hörens:
Von der erfahrungskonstitutiven zur erfahrungserschließenden Musik
(Stockhausen, Studie I - mit einem aktuellen Ausblick auf Hans Tutschku)

5.1 Konzeptorientierte Musik
auf  naturwissenschaftlicher (und kompositionstechnischer) Legitimationsbasis (1):
Ein Entwurf serieller Obertonmusik
(Karlheinz Stockhausen, Vorstudien zu „Studie I“, 1953:
Die Anfänge der Elektronischen Musik im oeuvre Karlheinz Stockhausens)
5.2 Konzeptorientierte Musik
auf (naturwissenschaftlicher und) kompositionstechnischer Legitimationsbasis (2):
Musik aus einer Dreitonreihe

 

 

 


Rudolf Frisius
Musikhören und Musikanalyse in einer gewandelten Wirklichkeit

1. Vorbemerkungen
1.1 Allgemeines
Die technischen Medien haben das Verhältnis der Musik und der mit Musik Umgehenden mit der Wirklichkeit verändert: Hörerfahrungen und allgemeinere, auch an andere Sinnesbereiche gebundene Erfahrungen könnten direkt, ohne Umcodierung in Elemente einer schon bekannten Tonsprache (z. B. in Töne und Tonkonstellationen), durch Speicherung und technische Verarbeitung, durch Montage und Mischung zum Ausgangsmaterial musikalischer Gestaltung werden: Musik als Widerspiegelung oder produktive Kritik allgemeinerer Erfahrungszusammenhänge. Musikalische Analyse, die direkt vom Klangergebnis technisch produzierter Musik ausgeht, unterscheidet sich überdies von der traditionellen Partitur- uind Höranalyse dadurch, daß sie nicht nur den Höreindruck, sondern auch das materiale Substrat des Gehörten (das Klangbild, das aufgenommene Klangergebnis) mit technischen Hilfsmitteln berschrieben kann: In einer gewandelten Wirklichkeit präsentiert sich nicht nur die Musik selbst, sondern auch ihre Analyse (einschließlich der Konfrontation des Gehörten mit neuen Möglichkeiten seiner Visualisierung).

1.2 Polaritäten des Hörens und Komponierens:
Erfahrungsorientierung und Konzeptorientierung
Wie entsteht Musik? Durch Verarbeitung von Bekanntem oder durch Suche nach Neuem?
Ist es möglich, auf der Basis der Verarbeitung von Bekanntem Neues zu finden,
und ist es andererseits auch realistisch, bei der Suche nach Neuem
zunächst Bekanntes zu prüfen (sei es auch nur, um es zu überwinden)?

Beide Fragen zielen auf unterschiedliche Extrempositionen der musikalischen Kreativität:
Auf unterschiedliche Akzentuierungen musikalischer Schaffensprozesse,
die entweder die Entdeckung von etwas schon Vorhandenen (aber zuvor noch nicht Zugänglichen oder Erschlossenen) oder die Erfindung von etwas noch nicht Dagewesenem in den Vordergrund stellen.
Obwohl bei der Entstehung neuer Musik beide Aspekte meistens zusammenwirken,
ist es nicht unangemessen, unterschiedliche Möglichkeiten ihrer Gewichtung zu unterscheiden
(und damit auch unterschiedliche Möglichkeiten, Bekanntes und Unbekanntes aufeinander zu beziehen).

In der technisch produzierten Musik scheint die Unterscheidung zwischen beiden Aspekten dann naheliegend zu sein, wenn man danach fragt, von welcher Art die verwendeten Klangmaterialien sind: Geht diese Musik von Aufnahmen aus dem Bereich der realen Hörwelt, also von Bekanntem aus
oder von ganz neuartigen, im Studio hergestellten Klangmaterialien?
Besonders in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren,
in den Anfangsjahren der auf Tonträgern konservierten
und nur über Lautsprecher hörbaren elektroakustischen Musik
spielte diese Unterscheidung zunächst eine wesentliche Rolle:
Zielte diese Musik auf ein identifizierendes Hören,
das z. B. Umweltgeräusche wieder zu erkennen versucht,
oder auf ein strukturierendes Hören des bis dahin noch nicht Bekannten?

So sehr sich die beiden Ausgangsfragen voneinander unterscheiden,
so deutlich wird jedoch auch andererseits,
daß die hier angenommen extremen Unterschiede sich verringern können,
wenn man weiter fragt und dabei erkennt,
daß sich letztlich keine der beiden hier angenommenen Ausgangsperspektiven
isolieren und verabsolutieren läßt:
Bekannte, der Hörwelt entnommene Klänge (oder auch Klänge,
die - obwohl möglicherweise anderer Herkunft -
sich mit solchen Klängen assoziativ in Verbindung bringen lassen)
sind in der elektroakustischen Musik
(insbesondere in der konkreten, mit aufgenommenen Realklängen arbeitenden Musik)
oft nur dann von Interesse, wenn sie in neuartigen Zusammenhängen zu hören sind;
andererseits kann es vorkommen, daß neuartige Klänge,
wie man sie beispielsweise in der elektronischen, mit synthetischen Klängen arbeitenden Musik findet,
in aus der Erfahrung bekannten Hörweisen wahrgenommen werden
(indem der Hörer z. B. in ihnen nach Formzusammenhängen sucht,
die er auch aus Konstellationen weniger bekannter Klänge kennt -
z. B. nach formalen Bestimmungen etwa der Gliederung oder der formalen Entwicklung
oder auch nach Charakterisierungen bestimmter Klangtypen (wie etwa Impulsen oder Dauerereignissen - sei es tonhaft oder geräuschhaft, sei es konstant oder verändertlich)
und (primärer oder sekundärer) Schalleigenschaften
(wie Lautstärke, Höhe oder Farbe oder auch Dichte und Geschwindigkeit).

Die beiden benannten Positionen lassen sich schlagwortartig unterscheiden:
Die eine Extremposition markiert der realitätsbezogene Hörfilm,
die andere die synthetische Klangstruktur.

 

In der Entwicklungsgeschichte der technisch produzierten Hörkunst
hat sich die erstere Position (Hörfilm) seit den späten 1920er Jahren
zunächst theoretisch und praktisch weitgehend nach dem Vorbild
der technischen und ästhetischen Entwicklung des Stummfilms
und seiner von der Montage dominierten Produktionsverfahren entwickelt.

Die zweite Position (Klangstruktur) war zunächst weniger klar definiert und weniger weit verbreitet
(und erschien insofern als exponierte Ausnahmeposition,
vergleichbar einzelnen älteren Ansätzen des abstrakten Stummfilms aus den 1920er Jahren).
Erst seit den frühen 1950er Jahren gewann sie deutlichere Konturen
in Versuchen einer radikalen Verallgemeinerung
der bis dahin bekannten Ansätze der Musik- und Kompositionstheorie.

In der Gegenüberstellung wird deutlich, daß der erste, erfahrungsbezogene Ansatz
zumindest in frühen Entwicklungsstadien eng verbunden war
mit dem Versuch einer Öffnung der Musik in andere Erfahrungsbereiche hinein,
mit einer Verwandlung der Musik im engeren Sinne
in eine mehrdimensional erfahrungsorientierte Hörkunst -
während andererseits der zweite, konzeptorientierte Ansatz
zunächst vorrangig auf musikimmanente Erneuerung zielte.
In den frühen 1950er Jahren konkretisierte sich dies
in der Polarität zwischen konkreter und elektronischer Musik:
Erstere suchte auf der Basis bekannter Klänge
nach neuen Klangstrukturen und einem neuen Musikdenken,
während letztere neuartige Klänge und Klangstrukturen
mit aus der Erfahrung bekannten (allerdings radikalisierend weiter geführten)
Ansätzen des Musikdenkens zu erschließen und schöpferisch zu verarbeiten versuchte.
Dies führte zu der paradoxen Situation, daß der technisch radikalere und modernere Ansatz,
der Ansatz der (radikal konstruktivistischen) seriellen Musik,
von älteren Denkansätzen (auf der Basis der klassischen Akustik) ausging
als der technisch ältere, auf Hörfilm und konkrete Musik ausgerichtete Ansatz,
der sich auf neuere Denkansätze (der Technik und Ästhetik des Films) stützte.
Erst seit den späteren 1950er Jahren begannen die hiermit verbundenen
produktionstechnischen und ästhetischen Unterschiede sich zu verwischen,
da in allen Bereichen der elektroakustischen Musik
die technische Verarbeitung des Klangmaterials erheblich an Bedeutung gewann,
so daß die Unterscheidung z. B. zwischen konkreten und elektronischen Ausgangsmaterialien
an Bedeutung verlor, oft sogar vom Hörer ohne externe Zusatzinformationen
gar nicht mehr exakt nachvollzogen werden konnte.

Obwohl die ursprünglich bezogenen Ausgangspositionen
sogar von denen, die maßgeblich zu ihrer Festlegung beigetragen hatten,
schon relativ frühzeitig verändert und aneinander angenähert wurden
(z. B. einerseits von Pierre Schaeffer und Pierre Henry, den Begründern der konkreten Musik
und andererseits von Karlheinz Stockhausen,
dem wichtigsten theoretischen und kompositorischen Exponenten
der frühen seriell-konstruktivistischen elektronischen Musik),
ist es auch aus späterer Sicht noch sinnvoll, zu prüfen,
wie es zur Definition so extrem unterschiedlicher Ausgangspositionen gekommen ist
und inwieweit diese anfängliche Polarität,
trotz zahlreicher sie anschließend modifizierender Integrationsversuche,
gleichwohl doch längerfristig für die musikalische Entwicklung bedeutsam geworden ist.

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Was hören wir? Wie hören wir?
Wie hängt das, was wir hören,
einerseits vom momentanen Eindruck ab,
andererseits von vorgegebenem Wissen bzw. vorgegebenen Denkweisen?

In welchen Lebenssituationen hören wir?
Welche Zusammenhänge gibt es
zwischen der allgemeinen Auswirkungen einer bestimmten Lebenssituation
und besonderen Auswirkungen eines in ihr wahrgenommenen Hörereignisses?
Wie kann sich ein Hörereignis und seine Wirkung verändern,
wenn es von einer Lebenssituation in eine andere verlagert wird?

Welche Zusammenhänge gibt es zwischen rezeptivem und produktivem Hören,
zwischen dem registrierendem Hören von bereits Vorhandenem
und dem imaginierenden Hören von etwas Neuem?

Diese und ähnliche Fragen können sich neu stellen
im Kontext medienspezifischer Musik.

 

 


2. Wandlungen des erfahrungsorientierten Hörens
2.1 Live-Musik und ihr Funktionswandel
durch technische Konservierung und Wiedergabe über Lautsprecher

Beispiel 1
Yves Daoust: Suite baroque Qu´ai-je entendu (1989). Anfang bis Klangband. 1´02
Aus: Anecdotes, empreintes digitales IMED-9106-CD, take 3 (Gesamtdauer 2´29)

Festliche Musik erklingt aus dem Lautsprecher und verwandelt sich später in andersartige Klänge:
Mit diesen unsichtbaren Klängen traditioneller Musik könnte ein Hörer Klangbilder assoziieren: Was ist zu sehen, wenn diese Musik im Konzertsaal  gespielt wird? Welche außermusikalischen Vorgängen könnten zu beobachten sein, wenn diese Musik beispielsweise im Opernhaus gespielt wird und szenische Abläufe begleitet, die auf der Opernbühne zu sehen sind?

Der kanadische Komponist Yves Daoust hat deutlich gemacht, daß solche und ähnliche Fragen nicht ausreichen, wenn man über Musikhören (und Musikanalyse) heute nachdenkt: In seiner Komposition mach er deutlich, daß selbst ältere Musik heute, im Zeitalter der technisch konservierten und technisch manipulierbaren Klänge, anders gehört wird als zuvor: Klangereignisse und Musiken, die heute - wesentlich häufiger als in früheren Zeiten - an unsere Ohren dringen, verweisen nicht in allen Fällen auf tatsächliche, konkret wahrnehmbare Vorgänge. Musikalische und außermusikalische Klänge entpuppen sich vielmehr oft als Klangbilder. Dabei kann sich Gehörtes aus gewohnten Erfahrungszusammenhängen lösen.

Yves Daoust macht dies deutlich in einer 1989 entstandenen Lautsprechermusik, die anfängt wie die High-Fidelity-Fiktion einer musikalischen Aufführung und sich dann erst später decouvriert: 
- Die aus dem Lautsprecher dringenden Klänge soll(t)en, wie es scheint, zunächst die Illusion wecken, der Hörer säße im Konzertsaal. (Tatsächlich wird sogar die Illusion der häuslichen Opernmusik schon unverzüglich entlarvt, weil der  pathetische Operngesang „Qu´ai-j´entendu“  schon nach wenigen Tönen technisch verfremdet wird, durch einen Sprung im Stereo-Panorama und durch einen stark verhallten Akkordabschluß).
(0´´-0´05´´; vgl. hierzu Notationsausschnitt: 0´´ - 4.864´´)
- Im weiteren Verlauf wird noch deutlicher, daß die Illusion des konventionellen Hörens konservierter Musik tatsächlich zerstört werden soll: Man hört, wie eine Frau mitsingt, und bald machen Geräusche aus dem Badezimmer deutlich, daß der Hörer am Lautsprecher nicht simulierte Konzert- oder Opernhausmusik, sondern deren Klangbild in der Wohnung eines (weiblichen) Hörers zu hören bekommen soll: Operngesang und Gesang im Badezimmer werden surrealistisch ineinander überblendet.
(0´05´´-0´25´´)
- Später wird selbst diese Illusion des häuslichen Musikhörens zerstört, wenn die Lautsprechermusik gleichsam ins Stocken gerät und wenn (zunächst nur auf dem linken Lautsprecher) sich statt dessen nur noch ein winziges Gesangsfragment sich mechanisch wiederholt, wie bei einer defekten alten Schallplatte, und wenn wenig später, auf dem rechten Lautsprecher, mechanisch fragmentierte und repetierte Instrumentalmusik einsetzt: Es geht um Musikhören zweiten Grades. Wesentlich ist nicht allein, daß man etwas hört; entscheidend ist, daß man hört, daß etwas gehört wird.
(0´25´´-1´02; vgl. hierzu Notationsausschnitte: 25.147´´ - 37.697´´ und 48.564´´ - 1´01.149´´)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Abb. 1-3: YVES DAOUST: Qu´ai-je entendu, aus Suite baroque (1989)
Buchstaben G-H-d-g: Operngesang, aufsteigendes Arpeggio (Frauenstimme, von g1 bis g2)
rechts: Qu´ai je entendu g1-h1, links: quel bruit h1-d2 etc. (d2-g2) (Zäsurstriche: neu einsetzende Töne)

 0´´ - 4.864´´: Operngesang (Frauenstimme Orchester)
(Fortsetzung: auf Nachhall des Schlußtons Hinzublendung: Frauenstimme, leise summend: 1. Phrase;
2. Phrase kurz nach 10´´, zusätzlich Geräusch Zähneputzen: Simulation Gesang im Badezimmer)

 

25.147´´ - 37.657´´:
Gesang im Badezimmer (Forts.,  Gesang vorwiegend rechts: a1-d1) - Gesangsschleife (links: +, auf es2)
Badezimmergeräusche (Impulse unregelm,: Klopfen Zahnbürste/Glas - regelm.: Tropfen/Wasserhahn)

Forts. ab ca. 37´´: Operngesang Tenor mit Orch. a-d1-fis1 a1-b1, vorw. rechts - Gesangsschleife Forts.

 

48.564´´- 1´01.149´´: Operngesang Tenor (Schlußtöne fis1-a1-b1) - Gesangsschleife
am Schluß Ausblende und Verhallung

2.2 Umfunktionierung von Live-Musik zu radiophoner Musik
Technisch geprägte, über Lautsprecher übermittelte Klänge unterscheiden sich von anderen Klängen, die auf mechanischem Wege in Live-Situationen erzeugt werden, häufig dadurch, daß sie aus gewohnten Erfahrungssituationen herausgelöst sind. Die in das häusliche Ambiente versetzte Konzert- oder Opernmusik ist ein sinnfälliges Beispiel für neue Aspekte des Musikhörens in einer gewandelten Wirklichkeit: Musik wird in anderen Hörsituationen erlebt und anders gehört. Auf dieser Basis ergeben sich neue Fragestellungen auch für die Musikanalyse in einer gewandelten Wirklichkeit: Klangerlebnisse und Musikerlebnisse und ihre wissenschaftliche Beschreibung sind nicht mehr unlöslich mit einem einmaligen, unwiederholbaren, an ein Hier und Jetzt gebundenen Vorgang verknüpft. Sie lassen sich einerseits häufig reproduzieren (in der Lösung vom Jetzt), andererseits weltweit verbreiten (in der Lösung vom Hier) - und dies nicht nur als simulierte (Pseudo-)Realität, sondern auch als deren technisch geprägte, zufällig oder absichtlich veränderte Abbildung.

Klangbilder lassen sich als solche besonders leicht dann erkennen, wenn sie als Fragmente aus einem größeren Erfahrungszusammenhang identifiziert werden können - z. B. als Ausschnitte aus komponierter Musik, die ein Kenner abendländischer Kunst leicht identifizieren und in einen Formzusammenhang einordnen kann:

Beispiel 2:
Franz Schubert: Streichquartett d-moll „Der Tod und das Mädchen“,
2. Satz: T. 12 (3. Viertel) bis T. 19 (2. Viertel). LP Electrola 1C 185-29 289/93 (Heutling-Quartett)
21´´

Ein aufgenommenes Fragment aus einer abendländischen Komposition ist das variable Abbild eines Gegenstandes, das schwer eindeutig zu bestimmen ist: Ein Abbild einer Interpretation, die ihrerseits - in anderer Weise - auf das Original eines Werkes bezogen wird, als dessen wesentliches Merkmal häufig die mehrdeutige Abbildbarkeit angesehen wird - sei es in verschiedenen Interpretationen, sei es in verschiedenen Aufnahmen: Ein Ausschnitt aus einer Langspielplatte wird meistens, wenn keine groben interpretatorischen oder technischen Mängel vorliegen, als Darstellung derselben Musik angesehen wie ein entsprechender Ausschnitt aus einer neueren CD-Aufnahme mit anderen Interpreten.

Beispiel 3:
Franz Schubert: Musikausschnitt wie Beispiel 2, moderne CD-Aufnahme. 21´´
BR 100 201 CD (Stamitz-Quartett)

Ein Ausschnitt aus traditioneller abendländischer Kunstmusik, der über Lautsprecher wiedergeben wird, wird auch heute noch meistens vorrangig als Musik aus einem bestimmten Werk identifiziert - und erst in zweiter Linie als Musik bestimmter Interpreten oder gar als Klangdokument einer bestimmten Aufführung. Dies gilt auch dann, wenn dieses Musik-Fragment nicht als High-Fidelity-Konserve eines vergangenen oder fiktiven Konzerts präsentiert wird, sondern als offensichtliches Studioprodukt, z. B. in einer Radiosendung, in der diese Musik einen gesprochenen Text untermalt.


Beispiel 4
Cinq Histoires Étranges (ORTF 1952, Realisation Pierre Henry):
Vorspann, 3. Ankündigung (mit Schubert-Fragment). 27´´
Text u. a.: Josephine, tu es perdue. Am Schluß: Hinzumischung leise pochender Oktavklänge
(d1-d: Sechzehntel - punktiertes Achtel,  auf B7)

Pierre Henry, der führende kompositorische Pionier der konkreten Musik, hat 1952 am Pariser Rundfunk ein Radiostück realisiert, in dem ein kurzer Ausschnitt aus dem 2. Satz von Franz Schuberts berühmtem Streichquartett in d-moll zitiert wird: „Der Tod und das Mädchen“. Die Radiosendung heißt „Cinq Histoires Étranges“ („Fünf merkwürdige Geschichten“). Im Vorspann dieser Sendung werden die zu erwartenden Geschichten beschrieben und in kurzen Ausschnitten vorangekündigt. Die letzte Vorankündigung wird musikalisch untermalt mit einem kurzen Fragment aus Schuberts Streichquartett, mit einigen Takten aus dem zweiten Teil des Themas des zweiten Satzes.

Schon der landläufige Titel des hier zitierten Musikwerkes macht deutlich, daß die radiophon umfunktionierte Musik hier genauestens auf den vorgegebenen Sprechtext abgestimmt ist:
Der Tod und das Mädchen“, der vom Hörer hier assoziierbare musikalische Werktitel, paßt zur dramaturgischen Situation im Radiostück: Einem Mädchen, Josephine, wird verhießen, daß es verloren ist.

Ein Fragment von Franz Schubert in radiophoner Aufbereitung: In der französischen Radiosendung von 1952 setzt Pierre Henry dieses wohlbekannte Stück mit seinem wohlbekannten Titel als musikalisches Symbol ein. Es wird gleichsam umfunktioniert zur Hörspielmusik, zur atmosphärischen und symbolischen Verstärkung des Geschehens auf der unsichtbaren Bühne. Dabei beläßt Henry es aber nicht. Wenn man genauer verstehen will, wie Henry in diesem Radiostück Schuberts Klänge mit seinen eigenen Klängen verbindet, ist man angewiesen auf genauere Nachforschungen im Bereich der Musikanalyse.

In Schuberts Fragment gibt es eine Stelle, an der der volle Streichquartettsatz aussetzt und nur noch pochende Bratschentöne übrig bleiben.

Beispiel 5
Schubert: Streichquartett d-moll, 2. Satz T. 16. CD-Aufnahme (wie Beispiel 3). 4´´
(B-Dur-Dreiklang mit pochenden Wiederholungen des Grundtons in der Bratsche:
b  - b-b; Halbe - Viertel, Viertel)

Ein Ton löst sich aus der Harmonie in pochenden Wiederholungen: Der Grundton. Henry zitiert diese Stelle und führt sie fort bis zu einer ähnlichen Stelle, an der der B-Dur-Dreiklang wiederkehrt. An dieser Stelle findet sich eine Tonwiederholung nicht in Schuberts Original, wohl aber in der radiophonen Verarbeitung bei Henry: Henry fügt hier einen eigenen, mehrmals wiederholten Klang hinzu.

Beispiel 6
Cinq Histoire Étranges, Ausschnitt 17´´
(Anfang: Schubert T. 16 mit Frauenstimme „... tu es perdue.“
Schluß: Schubert T. 19 1. Hälfte,
dazu pochender repetierter Klang Henry: d1-d, Sechzehntel-punktiertes Viertel:
auf B-Dur-Dreiklang in T. 18, 2. Hälfte und auf B7-Vierklang in T. 19 Anfang )

Auch der pochende Klang, den Pierre Henry den Streichquartettklängen Schuberts hinzugefügt hat, paßt genau in die Harmonie. (Allerdings repetiert Henry, anders als Schubert, nicht den Grundton, sondern, in zwei Oktavlagen, die Terz). Der Zusatzklang paßt allerdings nicht nur in diesen Zusammenhang: Er  ist in den „Cinq Histoires Étranges“ schon vorher zu hören, und zwar unabhängig von Schuberts Harmonien.

Beispiel 7
Cinq Histoires Étranges. Vorspann (Anfang). 35´´ 
- Anfangssignale: Hoher Repetitionsklang, tieferer Repetitionsklang (0´´-2.5´´)
- 3 Akkorde auf dem präparierten Klavier:
  Lang - kurz - lang: punktierte Halbe - Viertel - Ganze (2,5´´-4´´)
- Schleife (Instrumentalmusik) 4x (4´´-11´´)
  3. Mal heruntergeblendet und  (bei 8´´) überlagert von einem lauten menschlichen Schrei;
  4. Mal leiser Rest
- pochendes Motiv (Achtel - punktierte Viertel) (11´´-35´´)
 Motiv allein 6x (11´´-19´´ Abblende ab 5. Mal)

Ein pochender Klang, der sich in regelmäßigen Abständen wiederholt: Mit denkbar einfachen und zugleich prägnanten Klangmitteln sorgt Pierre Henry dafür, daß der Vorspann seines Radiostückes nicht nur eine geeignete atmosphärische Klanguntermalung erhält, sondern auch formale Konsistenz. Er wird hier zum Klangbild und Klangsymbol des Spannenden, Unheimlichen, Verhängnisvollen.

Beispiel 8
Cinq Histoires Étranges vollständiger Vorspann. 2´26´´
Repetitionsklänge, Akkorde, Schleife mit Schrei: 0´´-11´´
pochender Klang, hinzugemischter Text (Titel-Ansage): 11´´-35´´
Anrede der Hörer (35´´-49´´) (dazu Fortsetzung des pochenden Klanges)
1. Geschichte (49´´-1´07´´):
des histoires inquiétantes, improbables peut-etre:
beunruhigende, vielleicht unwahrscheinliche Geschichten
(Ausblende des pochenden Klanges, dumpfes Ostinato)
(weibliche Reporterstimme: Beschreibung der Frau mit dem Messer)
2. Geschichte (1´07´´-1´28´´):
des histoires terribles: schreckliche Geschichten
(hohe Streicherklänge, Glissandi, leise Baßakzente; dazwischen leise Männerstimme,
später angstvoll rufender Mann: Non, non! non, ce n´est pas possible!
Nein, nein! Nein, das ist doch nicht möglich!
3. Geschichte (1´28´´-2´01´´):
ou simplement cruelles: oder einfach grausame (Geschichten)
(mit pochendem Klang und unterlegter Schubert-Musik)
Anrede der Hörer (Kinder, Erwachsene) (dazu pochender Klang) ( 2´01´´-2´26´´)

Der unheimliche pochende Klang, den Pierre Henry im Vorspann dieses Radiostückes präsentiert, klingt so, als sei er 1952 eigens für dieses Radioprojekt erfunden worden. Dem ist aber nicht so: Dieser Klang ist einer Tonbandkomposition entnommen, die Pierre Henry 1952 realisiert hat: „Musique sans Titre“. Der pochende Klang erschient in dieser Komposition an zentraler Stelle des Eröffnuingssatzes „Les Étoiles“ („Die Sterne“).

Beispiel 9
Pierre Henry: Musique sans Titre. 31´´
Mantra 032, WM 366, 64 20 32. CD 1, take 2:
1. Satz Les Étoiles, 3´02-3´33: Pochender Klang (Achtel - punktierte Viertel)
(h-H, ab 3. Mal Hinzublendung einer höheren Schleife;
nach 9. Mal, bei 16´´,  Aussetzung des pochenden Klanges;
bei 22´´ leiser Wiedereinsatz des pochenden Klanges)

Pierre Henry: Musique sans Titre, 1. Satz „Les Etoiles“: Pochendes Motiv (3´02 - 3´33)

Der pochende Klang mit seinen Wiederholungen macht deutlich, worum es in dieser Hörkunst geht: Selbst einzelne Töne und winzigste Klangmuster werden nicht abstrakt (fixiert auf dem Notenpapier, in verbalen und/oder grafischen Skizzen) entworfen, sondern sie entstehen in einem empirischen Arbeitsprozeß, als konkrete Ergebnisse der Studioarbeit.

In der Hörkunst von Pierre Henry werden alle hörbaren, speicherbaren und technisch manipulierbaren Klänge zum potentiellen Ausgangsmaterial künstlerischer Gestaltung - seien es Ausschnitte aus einem Streichquartett von Schubert, seien es von Henry neu produzierte Klänge. Der Vielfalt verwendbarer Klangmaterialien entspricht eine Vielfalt funktionaler Verwendungsweisen - von der autonomen musikalischen Komposition bis zu funktionalen Einbindung in Kombination z. B. mit Sprache, Bild, Architektur oder Szene, mit Rundfunk, Film oder experimentellem Musiktheater. Diese Hörkunst, deren erste Produktionen Pierre Schaeffer und Pierre Henry seit 1948/1949 in einem Pariser Radiostudio geschaffen haben, zeigt ihre produktive (materiale und funktionale) Ambivalenz besonders sinnfällig in ihrer Präsentation als Radiokunst.

Musikhören und Musikanalyse sehen sich in einer gewandelten Wirklichkeit neuen Fragestellungen konfrontiert: Traditionelle Abgrenzungen gelten nicht mehr - z. B. Abgrenzungen zwischen Tonkunst und Geräuschkunst, zwischen reiner und angewandter Kunst, zwischen einer nur auf das Hören konzentrierten und einer auch mit anderen Sinnesbereichen in differenzierter Integration verbundenen (Hör-)Kunst. In diesem größeren Kontext wandelt sich auch der Stellenwert traditioneller Kunstmusik - z. B. auch der Stellenwert eines anderen Ausschnittes aus Schuberts d-moll-Streichquartetts, den Pierre Henry in einem 1984 entstandenen Radiostück verwendet, das schon in seinem Titel auf ein ganz anderes Musik- und Klangverständnis verweist: „La Ville - Die Stadt“.

Beispiel 10
Pierre Henry: La Ville - Die Stadt: Pendules (Schluß). 1´
Schubert-Schleifen, Pendel, Babygeschrei (0´´-53´´)
Klingel (ab 53´´); quietschende Metalltür (ab 55´´); zufallende Metalltür, Wassertropfen (ab 59´´):
Musikmischungen mit dem Schlußtakt des Vordersatzes
als Schleife links
, teilweise in kürzeren die Periodizität aufbrechenden Schnitten (2´´-21´´)
und, nach einem Uhrengeräusch rechts,
mit dem Schlußtakt des Nachsatzes als Schleife in ständigem Rechts-Links-Wechsel,
überlagert mit sich selbst (21´´-1´):
Periodische Uhrgeräusche, aperiodische Babylaute,
modifiziert periodische und vervielfältigte Musikfragmente;
Schlußgeräusche: knarrende/quietschende und ins Schloß fallende Tür

Ein Satz in Henrys Radiostück heißt „Pendules“ („Pendel“). Der Titel bezeichnet eines der drei Klangelemente des Stückes. Die beiden anderen kontrastieren deutlich hierzu und miteinander: Geräusche und Musik; Babylaute und Fragmente aus Schuberts Streichquartett „Der Tod und das Mädchen“.

Die Babylaute, die Pendelschläge und die Streichquartett-Musik erscheinen als Klangsymbole der Geburt, der (verfließenden) (Lebens-)Zeit und des Todes - oder, anders gesagt: der Erlebniszeit, chronometrischen Zeit und der im engeren Sinne musikalisch gestalteten Zeit bzw. der die Periodizität planmäßig/artifiziell modifizierenden Zeit. In solchen Konstellationen können sich neue Fragestellungen auch für die Musikanalyse ergeben. Die Untersuchung kann dabei ausgehen von der (in radiophoner Umfunktionierung verwendeten) Musik Franz Schuberts. Sie findet sich im ersten Teil der zweiten Variation in Schuberts Variationssatz über das Liedthema „Der Tod und das Mädchen“.

Beispiel 11
Schubert: Streichquartett d-moll „Der Tod und das Mädchen“
2. Satz, 2. Variation 1. Teil (vollständige achttaktige Periode) (Takt 49-56)

Diese Musik verarbeitet Henry in anderer Weise als die (frei in die Zeit gesetzten) kindlichen Stimmlaute - auch in anderer Weise als die periodischen (und dabei gelegentlich die Periodizität durch einfache Beschleunigung oder Verlangsamung wechselnden) Geräusche der Pendeluhren: Während Stimmlaute und Uhrengeräusche einfache Klangschichten bilden, erscheint die Musik in reicherem Klanggewand:
- einerseits reduziert auf kleine Fragmente, die zu Schleifen geklebt und so zu sich regelmäßig wiederholenden Klangmustern umfunktioniert werden;
- andererseits vervielfältigt in Überlagerungen gleicher oder verschiedener Schleifen.

Schuberts Musik wird also einerseits zerlegt, andererseits aus den Bruchstücken wieder in neuen Konstellationen zusammengesetzt, z. B. in verschiedenen Schleifen (A1, A2; B; C; D) auf dem linken Kanal:

Diese Fragmente (auf dem linken Kanal) entstammen dem ersten Teil der II. Variation Schuberts.


Auch auf  dem rechten Kanal sind Ausschnitte aus dieser Variation zu hören,
aber teilweise in anderer Anordnung und Auswahl
(z. B. anfangs T. 56, der Schlußtakt des 1. Teils, rückwärts,
und anschließend T. 57 f., die beiden Anfangstakte des 2. Teils, ebenfalls rückwärts).

Die prägnantesten Bruchstücke finden sich in zwei zäsurbildenden Takten: In komplizierten, vom Hörer kaum noch exakt rekonstruierbaren Überlagerungen verschiedener kurzer Fragmente lassen sich nicht alle einzelnen Fragmente heraushören, wohl aber einzelne besonders häufig bzw. besonders deutlich vorkommene Bruchstücke (vorwiegend Einzeltakte, z. B. T. 55, oder noch kürzere Fragmente, z. B. aus T. 54). Zunächst dominiert, in fortwährender Wiederholung (als Bandschleife), der Schlußtakt des Vordersatzes.

Beispiel 12
Schubert, Streichquartett d-moll, 2. Satz 2. Variation: Schlußtakt Vordersatz (Takt 52)
a) als Einzeltakt,
b) als Schleife

Später setzt sich , wiederum in ständigen Wiederholungen als Bandschleife und überdies überlagert mit sich selbst, der Schlußtakt des Nachsatzes durch.

Beispiel 13
Schubert, Streichquartett d-moll, 2. Satz 2. Variation: Schlußtakt Nachsatz (Takt 56)
a) als Einzeltakt,
b) als Schleife

Diese beiden, zu Schleifen zusammengekleben und fortwährend wiederholten Einzeltakte verbinden sich in Henrys Radiostück mit anderen, teils gleich langen, teils kürzeren Schleifen, und sie kombinieren sich in dichten, vom Ohr nur schwer zu entwirrenden Schichtungen mit den Stimmlauten und Uhrgeräuschen: Die vervielfältigte Todesmusik verrätselt die freien Stimmlaute des Lebens und die Geräusche der abgemessenenen Zeit, und letztlich treibt sie die vielschichtigen Klangstrukturen seiter bis in eine definitive Schlußwendung hinein.

Die Schleifentechnik, die Henry hier für Einzelausschnitte aus vorhandener Musik verwendet, findet sich schon in seinen frühen Werken, dort allerdings häufiger angewendet auf selbst produzierte neuartige Klänge - z. B. in den pochenden Klängen im ersten Satz der „Musique sans titre“.

Beispiel 14
Musique sans titre, pochende Klänge im 1. Satz Les Étoiles (wie Beispiel 9). 30´´

 

2.3 Konservierte Live-Musik - umfunktioniert durch Montage und Mischung
Die Materialien experimenteller Hörkunst sind vieldeutig - und sie sind dies nicht nur im Hinblick auf unterschiedliche Verarbeitungs- und Kombinationsweisen, sondern auch im Hinblick auf darin sedimentierte unterschiedliche Einstellungen zum verwendeten Ausgangsmaterial. Dies kann sich schon in verschiedenen Umfunktionierungen von Ausschnitten aus derselben Komposition zeigen - natürlich nicht nur in verschiedenen Verarbeitungen desselben Komponisten, sondern auch in Verarbeitungen derselben Komposition durch verschiedene Komponisten. Dies läßt sich auch am Beispiel von Schuberts d-moll-Streichquartett zeigen, z. B. einerseits im Bereich avantgardistischer Tonbandmusik und Hörkunst bei Pierre Henry, andererseits, im Grenzbereich zwischen U- und E-Musik, bei einem Musiker, der seit den späten 1960er Jahren als Mitglied der Popgruppe CAN bekannt geworden ist: Holger Czukay verarbeitet Schuberts Quartett in seiner collagierenden Komposition „Maidendeath“.


 

Holger Czukay: Maidendeath (Ausschnitt)

Beispiel 15
Holger Czukay: Maidendeath, 1. Teil. 1´24
(Coda-Anfang mit Einschüben und Rücksprüngen)

Czukay verarbeitet Ausschnitte aus dem ersten Quartettsatz. Er beginnt dabei nicht mit den ersten Takten, sondern mit einer Passage aus dem Schlußteil dieses Satzes: Im Stadium einer Stauung und dann vollständigen Erstarrung der Musik (zu Beginn der Coda). In Czukays Bearbeitung wird potenziert, was auch in der Originalmusik von Schubert zu finden ist: Immer wieder setzt die Musik neu an, um sich dann andersartigen Klängen auszusetzen und abzubrechen. So paraphrasieren und erweitern sich in „Deathmaiden“ Sprünge, Brüche und Neuansätze, wie sie sich auch in der Originalmusik von Schubert finden.

Beispiel 16
Schubert: Streichquartett d-moll, 1. Satz, Anfang der Coda (akkordisch, leise) (T. 299-310). 28´´

Schuberts Brüche und Neuansätze, wie sie sich in der Coda seines Streichquartettsatzes finden, hat Holger Czukay in seiner Umgestaltung weitergetrieben mit Montagestrukturen, bei denen sich nicht nur ein Fragment wiederholen kann, sondern bei denen die Musik im Schubert-Zitat zeitlich noch weiter zurückspringt: In Czukays Verarbeiten folgt etwas, das in Schuberts Original vorausgegangen war.

Beispiel 17
Czukay: Stauung-Rücksprung ( Beispiel 15 Anfang: Vordersatz 1 - Nachsatz 1 - Geräusche). 41´´

Holger Czukay konzentriert sich in seiner Verarbeitung auf kontrastiv-dialogische Ergänzungen und auf montierte Zeitsprünge. Wie er hierbei vorgeht, läßt sich auch an anderen Stellen seiner Schubert-Adaption genauer beschreiben im Vergleich mit der Originalmusik - etwa am Beispiel der ersten großen Überleitung:

- Anfangsgestalt (T: 25-28): Leiser Beginn (ansteigend - am Schluß sich leicht absenkend)
Haupttonart d-moll - am Schluß Umbiegung, Vorbereitung einer Ausweichung

- Entwicklung (T. 29-40): Rückstau und Ansteigen - Rücksprung und erneutes, stärkeres Ansteigen
Rückführung von der Ausweichung in die Haupttonart

- Höhepunkt (T. 41-44): Rückkehr zum Hauptthema in seiner ursprünglichen Form (Unisono)
Haupttonart

- Rückentwicklung (T. 45-51)
Modulation von der Haupttonart d-moll in die Nebentonart F-Dur

- Verwandlung der Anfangsgestalt (von Moll nach Dur) (T. 52-60): Leise - Steigerung (2 Ansätze)
Nebentonart

- Kontrastgestalten (Neue Begleitfigur ab T. 61 - neue Melodie ab T. 62): Leiser Beginn (Beruhigung)
Nebentonart

 


 

Beispiel 18
Schubert: d-moll-Quartett, 1. Satz:
Überleitung nach dem 1. dynamischen Rücksprung (bis Seitensatz, Ende des Vordersatzes)
Steigerung: Kontrast (T. 25-65). 1´18´´


 

Schuberts Überleitung ist eine weiträumige Formentwicklung, die immer wieder neu einsetzt und dabei Schritt für Schritt expandiert, bis schließlich die neue Tonart erreicht ist und die Musik von dort aus zielstrebig in das Gesangsthema hineinführt. Diese Entwicklung hat Holger Czukay intensiviert durch Verlängerungen und Anreicherungen: Durch einmontierte Wiederholungen, die die Steigerungsprozesse verlängern und erweitern - durch gelegentliches unkonventionelles Mitspielen. Zum Ausgleich für die verlängernden Montagen überspringt er den exaltierten, motivisch entwickelnden Zentralteil der Überleitung. Andererseits sorgt er für Verlängerungen, um einen Zeitsprung deutlich zu machen. Sein Schubert-Zitat beginnt am Ende - dort, wo Schuberts Entwicklung eigentlich hinführt. Schuberts Klangmuster überblendet er in populäre Klangmuster aus neuerer Zeit.

Czukay beginnt mit einem Klangmuster Schuberts, das er anschließend populäre neuere Klangmuster überführt. Erst danach zitiert er, erweitert und mit Anreicherungen, die Steigerungen, die in Schuberts Quartett seinen Klangmustern, seiner Einleitung zum Gesangsthema, vorausgegangen waren.

Beispiel 19: Czukay, Maidendeath (Schubert-Schleifen und -Fragmente, mit Live-Ergänzungen)
Seitensatz (Begleitfigur) - Rücksprung zum Überleitungssatz (Steigerungen)
 -
Seitensatz
Anfang (Begleitfigur): Schleife (32mal) mit Live-Erweiterungen (ab 7. Schleife)
T. 61, 1. - 2. Viertel
-
Überleitung
ssatz Anfang: Fragmente (z. T. als Schleifen) / Steigerungen (mit Live-Erweiterungen)
T. 25 Schleife 8mal
                                 T. 26 Schleife 2mal
                                                                           T. 27 28 29 30 31 32 33 34 35
                                                                                                        32 33 34 35
                                                                                                        32 33 34 35 36 37 38 39
- (Überspringen des zentralen Mittelteils mit dem Rückgriff auf den 1. Einsatz des Hauptthemas)
- Überleitungssatz Schluß: T. 52 53 54 55 56 57 58 59 60
                                                                                        60
                                                                                        60

 

 

 

 

 

 

 

 

 

61:32x

25:8x

26

 

 

 

 

 

 

 

 

 

26

27

28

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

29-31

32-35

 

 

 

 

 

 

 

 

 

32-35

 

 

 

 

 

 

 

 

 

32-35-

36-39

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

51-59

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

60

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

60

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

60

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Holger Czukay verwandelt Schuberts Tonkunst in eine integrative Klangkunst, in der auch Stimmlaute, kontinuierlich gleitende Prozesse und Geräusche eine wichtige Rolle spielen. Damit nähert sich, wie (in anderer Weise) auch bei Henry, die Tonkunst der komplexen Hör-Wirklichkeit an.

Czukay und Henry stehen, jeder in seiner Weise, in einer Tradition, die sich in ihren radikalsten Extrempositionen einerseits auf Luigi Russolos Geräuschorchester zurückführen läßt, andererseits auf Walter Ruttmanns Konzeption des montierten Hörfilms.

Vor allem Walter Ruttmanns Montagestrukturen haben deutlich gemacht, wie radikal sich das Verhältnis der Hörkunst zur Hör-Wirklichkeit verändert hat - spätestens seit der 1930 entstandenen Produktion „Weekend“.

„Weekend“ ist die erste radikal-experimentell Komposition montierter Klänge. Diese Produktion hat Tendenzen vorweggenommen, die danach erst Jahrzeznte später in der französischen musique concrète und im westdeutschen „Neuen Hörspiel“ wieder aufgefriffen werden sellten - beispielsweise bei Pierre Schaeffer und Ferdinant Kriwet.

Im Hörfilm Ruttmanns, in der frühen musique concrète Schaeffers und in den Hörtexten Kriwets zeigen sich Ansätze inhaltsbezogener Auswahl, Verbindung und Verarbeitung von Klängen, wie sie bis zum Ende des 20. Jahrhunderts weitgehend singulär geblieben sind. Neue Wirklichkeitsbezüge der Hörkunst sind in vielen Fällen davon abhängig geblieben, daß in der politisch-gesellschaftlichen Realität weitreichende, über die Grenzen der Hörerfahrungen hinausführende Veränderungen sich abzeichneten - beispielsweise in den späten 1960er und in den späten 1980er Jahren. Unabhängig von solchen äußeren Anlässen sind wirklichkeitsbezogene Hörstücke nur in seltenen Ausnahmefällen entstanden.

In polarer Gegensätzlichkeit zu ästhetischen Positionen, die von vorgefundenen Wirklichkeiten ausgehen, haben sich auch Positionen der künstlerischen Erschaffung neuer Realitäten herausgebilden. Zu den extremsten Beispieln hierfür zählen einige Produktionen seriell elektronischer Musik aus den frühen 1950er Jahren - Produktionen, unter denen Karlheinz Stockhausens „Studie I“ als erstes bahnbrechendes Beispiel gelten kann.

3. Veränderungen des Musikhörens -
Polarisierungen des Hörens und Analysierens
Musikhören und Musikanalyse haben sich durch die Technisierung von Klangproduktion, Klangfixierung und Klangverarbeitung grundlegend verändert. Die Veränderungen lassen sich nur teilweise als Prozesse mit klarer Ausrichtung und klarem Ziel beschreiben. Es haben sich auch Spannungsfelder zwischen Entwicklungen gebildet, die in gegensätzliche Richtungen führen und polar gegensätzliche Ziele ansteuern.

Eine fundamentale Gegensätzlichkeit im Bereich des Hörens und Analysierens, die sich in der Musikentwicklung des 20.Jahrhunderts herausgebildet hat, ergibt sich aus unterschiedlichen Bewertungen der unmittelbar sinnlichen, konkreten Hörerfahrung und ihrer Bedeutung für das musikalische Denken. Hierbei kann es zu extrem unterschiedlichen Ansätzen kommen. Dies läßt sich zeigen im Vergleich zweier Stücke, die in verschiedenen Entwicklungsphasen entstanden, am Anfang extrem gegensätzlicher Entwicklungen stehen:

- Das ältere der beiden Stücke ist „Weekend“ von Walter Ruttmann, ein Hörstück aus dem Jahre 1930.

Beispiel 20
Ruttmann, Weekend, Montagestücke 1-57 (Anfang: Gongschläge, Schluß: Aber Fräulein!) 1´58´´

- Das mehr als zwei Jahrzehnte jüngere Kontrastbeispiel zur Ruttmann ist „Studie I“ von Karlheinz Stockhausen, eine elektronische Tonbandomposition aus dem Jahre 1953.

Beispiel 21: Stockhausen, Studie I Anfang

Beide Stücke existieren primär nicht als Partituren, sondern als im Studio produzierte Aufnahmen, die zum Abhören über Lautsprecher bestimmt sind. Trotz dieser Gemeinsamkeit stellen beide Stücke den Hörer vor völlig unterschiedliche Probleme. Er kann bei beiden Stücken versuchen, Gehörtes einerseits an Vorerfahrungen zu messen und andererseits auf Unerhörtes, bisher noch nicht Erfahrenes zu befragen. Die Frage nach der Unterscheidung zwischen Bekanntem und Unbekanntem stellt sich allerdings in beiden Stücken ganz verschieden.

4. Analyse erfahrungsorientierter Musik
(Ruttmann, Weekend - mit einem aktuellen Ausblick auf Elio Martusciello)
Zunächst könnte man meinen, daß die Unterscheidung zwischen Bekanntem und Unbekanntem in Ruttmanns Stück wesentlich leichter fällt als bei Stockhausen: Das Ausgangsmaterial besteht aus Fragmenten aufgenommener Klänge, die aus dem Kontext der allgemeinen Hörerfahrung bekannt sind, die aber im Stück durch Montage in neuartige Zusammenhänge eingeschmolzen sind; im ersten Teil des Stückes zeigt sich dies schon frühzeitig: nach einigen einleitenden Geräuschen (s. u. Grafik Take 1- 4 (Anfangssignale: Gongschläge, Gongwirbel und Trommelwirbel), in einer aus zwei
verschiedenen Arbeitsgeräuschen gebildeten Montagestruktur (Take 5 - 8, entspr. Beispiel 2
2):

Beispiel 22
Ruttmann Weekend (Ausschnitt aus 1. Teil: Geräusche)
5 Sägen - 6 Hämmern, 7 Sägen (kürzer) - 8 Hämmern (kürzer)
ab 14´´  - ab 17´´;         ab 21´´                - ab 23´´ (bis 25´´)

Take 1+2+3+4: Gongs, 2 Wirbel

Take 1

2 Gongschläge

Take 2

2 Gongschläge

Take 3

Gong­-
wirbel

Take 4

Trommel­wirbel

2,13“          2,16“

2,05“       1,77“

3,28“

2,36“

4,29“

3,82“

3,28“

2,36“

Takes 5+6+7+8: Sägen, Hämmern, Sägen, Hämmern

Take 5

Sägen

Take 6

Hämmern

Take 7

Sägen

Take 8

Hämmern

0,35“   0,66“   0,51“   0,65“        0,58“

0,77“     0,49“   0,76“       0,48“   0,79“   0,44“

0,56“               0,60“   0,57“            0,51“

0,82“          0,50“   0,86“        0,45“

0,35“

1,17“

1,23“

1,26“

1,24“

1,23“

1,16“

1,08“

1,32“

1,31“

2,8“

3,7“

2,2“

2,6“

 

 

Take 1: Gongschläge

Take 2: Gongschläge

Take 3: Gongwirbel

Take 4: Trommelwirbel und Schlag


 

Take 5: Sägen

Take 7: Sägen

 

 

Man hört zunächst signalartige Eröffnungsgeräusche und danach zwei Arbeitsgeräusche: im zweimaligen Wechsel, in sich verkürzenden Fragmenten. Beide Geräusche sind aus der allgemeinen Hörerfahrung bekannt. Wer sie identifiziert, erkennt Gehörtes als Verweis auf einen realen Vorgang - und zwar ohne daß er diesen Vorgang auch noch mit anderen Sinnen erfassen, z. B. sehen müßte. 

Beide Arbeitsgeräusche sind in denkbar einfacher Weise durch Montage verknüpft: Als paarige Wechselmontage mit sich verkürzenden Montagestücken. Dadurch lösen diese Geräusche sich aus dem Kontext der primären Hörerfahrung und geraten in den Kontext einer Erfahrung zweiten Grades, einer filmisch strukturierten Erfahrung: Aus der Direkterfahrung der Arbeitswelt kennen wir die Arbeitsgeräusche als Verweise auf reale Vorgänge; aus der Erfahrung im Umgang mit Filmen kennen wir deren Verknüpfung in Wechselmontagen (wie sie in der Filmgeschichte zunächst im Stummfilm entwickelt und dann einige Jahrzehnte später - beispielsweise von Ruttmann, der zuvor selbst in den 1920er Jahren Wesentliches zur Entwicklung der Montagetechnik im Stummfilm beigetragen hatte - von der Bildmontage auf die Klangmontage übertragen worden sind).

Fast alle Klangfragmente, die Ruttmann in „Weekend“ zusammenmontiert hat, lassen sich ohne größere Schwierigkeiten identifizieren. Auch die zahlreichen Schnittstellen lassen ohne Schwierigkeit heraushören, so daß aus dieser Perspektive der Gesamtverlauf des Stückes zunächst als eine gewaltige Anhäufung winziger Einzel-Takes erscheinen könnte.

 

Die einzelnen Takes lassen sich während des Hörens schwerlich genau mitzählen, aber gleichwohl verfolgen: Es fällt beispielsweise nicht schwer, darauf zu achten, ob Geräusche, Sprache oder Musik zu hören sind. So kann sich eine nach inhaltlichen Kriterien hierarchisch strukturierte Gliederung des Stückes ergeben: Geräusche, Sprache und Musik verdeutlichen in verschiedenen Konstellationen der 218 Montagestücke unterschiedliche Stadien des „Weekend“.





Im ersten Teil des Stückes sind vor allem aufgenommene Geräusche zu hören, d. h. klingende Verweise auf reale Vorgänge. Im zweiten Teil tritt eine andere Klangkategorie in den Vordergrund: Hier dominiert aufgenommene Sprache: Man hört aufgenommene Stimmen mit (mehr oder weniger deutlich verständlichen) sprachlichen Mitteilungen; verständlich sind sie zumindest für einen Hörer, der der deutschen Sprache mächtig ist.


Beispiel 23
Ruttmann, Weekend: Anfang 2. Teil: Sprache (ab 0´51´´):
Anfang: 23 Hallo, Fräulein!   Schluß:  Aber Fräulein!

 


23

Hallo Fräulein

0'51''

0,5

S

24

Kassenklingeln

0'51,5''

1

G

25

Bitte Dönhoff 42-4-0

0'52,5''

2

S

26

Kassenklingeln

0'54,5''

2

G

27

Erlkönig

0'56,5''

0,5

S

28

Vorbeifahrendes Auto

0'57''

3

G

29

Trillerpfeife

1'00''

1

G

30

Kassenklingeln

1'01''

1

G

31

Gemurmel

1'02''

3

S

32

Ich verbitte mir das

1'05''

2

S

33

Bitte!

1'07''

1,5

S

34

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind

1'08,5''

3,5

S

35

Kassenklingeln

1'12''

2

G

36

Es ist der

1'14''

1

S

37

Sägen ,´.

1'15''

1

G

38

Schreibmaschine

1'16''

1

G

39

Hämmern .

1'17''

1

G

40

Fräulein: Sie ha´m mich ja falsch verbunden!

1'18''

2,5

S

41

Trillerpfeife

1'20,5''

1

G

42

Dönhoff zwo-undvierzig,vier...

1'21,5''

2,5

S

43

vier mal vier ist (Kind)

1'24''

2

S

44

vierter Stock: Spielwaren, Schuhwaren-laden, Lebensmittel-abteilung

1'26''

3

S

45

Kassenklingeln

1'29''

1

G

46

Vorbeifahrendes Fahrzeug  

1'30''

4

G

47

Bitte, erlauben Sie mir doch

1'34''

2

G

48

und erlauben wir uns

1'36''

2

S

49

Schreibmaschine

1'38''

1

G

50

Erlauben Sie mal!

1'39''

1

S

51

Sie ebenso dringend wie höflich

1'40''

2

S

52

Hallo, Frollein!

1'42''

2

S

53

Mein Sohn

1'44''

1

S

54

Schreibmaschine

1'45''

1

G

55

Sägen´,´,´,´

1'46''

2

G

56

Klavier, Frauenstimme, Violinstimme im Hintergrund: Einsingen C-Des

1'48''

8

G

57

Aber Fräulein!

1'56''

2

S


 


Sprachlaute werden anders gehört als Geräusche:
Wer ein Geräusch hört, fragt: Was geschieht?
Wer Sprache hört, fragt: Was bedeutet es?

Dieser Unterschied ist bedeutsam auch für das Hören und Analysieren von Ruttmanns Stück:
Im ersten Teil dieses Stückes kann jeder Hörer versuchen, die einzelnen Klangfragmente (es sind vorwiegend Geräusche) hörend zu identifizieren.
Im zweiten Teil kommt eine andere Aufgabe hinzu: Es geht darum, in Fragmenten aufgenommener Sprache zu verstehen, was gesagt wird und was dies zum Verständnis der Situation beiträgt.

Im dritten Teil dominiert wiederum eine andere Dimension: die Musik.
Dabei stellt sich dem Hörer wiederum eine andere Frage: Wie klingt es?

Beispiel 24
Ruttmann, Weekend: 3. Teil
155 Anfang Wanderlied 5´20 - 155 Motorradknattern (bis 6´55)
                                                  (Abschlußgeräusch vor Beginn des Marsches)

Montierte Musikfragmente können anders gehört werden als montierte Fragmente von Stimm- bzw. Sprachlauten oder Geräuschen. Dies gilt besonders dann, wenn der Hörer ein Musikfragment als Bestandteil eines ihm bereits bekannten Musikstückes erkennen kann - z. B. in Ruttmanns „Weekend“ als Bestandteil eines bekannten Liedes. Im dritten Teil des Hörstückes, der das eigentliche „Weekend“, das Leben in der Freizeit beschreibt, beginnt an zentraler Stelle der Kindergesang eines bekannten deutschen Wanderliedes: „Das Wandern ist des Müllers Lust.“ In die Mitte der ersten Gesangsstrophe hat Ruttmann, genau an dem wichtigsten Zäsurpunkt der Melodie, ein Geräusch eingeschnitten, das die Situation verdeutlichen soll: Ein Hahn kräht. Dieses eingefügte Geräusch soll deutlich machen, daß´die Kindergruppe das Wanderlied tatsächlich am Wochenende im Freien singt (nicht werktags in der Schule). - Nach dem Hahnkrähen setzt sich der Kindergesang fort, und nach einiger Zeit werden wieder Tiergeräusche eingeschnitten, die an das vorige erinnern: Man hört gackernde Hühner und Enten.

Die Geräusche erfüllen hier verschiedene Funktionen:
- semantisch verdeutlichen sie die Singsituation und den zu dieser passenden Inhalt des (gesungenen) Textes;
- syntaktisch markieren sie die beiden wichtigsten Einschnitte der Melodie.

Dem Wanderlied mit Geräusch-Einschüben folgt eine Passage mit zusammenmontierten Geräuschen, Tier- und Menschenstimmen: Akustische Verweise auf menschliche Geselligkeit mit klingenden Gläsern, auf ländliche Idylle mit gackernden Hühnern, auf Verkehr und auf menschliches Stimmengewirr. Danach ist wieder Gesang zu hören. Diesmal wird ein Choral mit Orgelbegleitung gesungen: „Großer Gott, wir loben dich“. Dieses Lied verweist auf ein anderes Erfahrungsfeld des „Weekend“: Auf sonntäglichen Kirchengesang im Gottesdienst. Auch dieser Gesang wird zwei Mal von eingeschnittenen Geräuschen unterbrochen: Beim ersten Mal sind dies ein Hupgeräusch und ein hinzukommendes Motorengeräusch - akustische Hinweise auf den auch sonntags nicht ruhenden Verkehr. Beim zweiten Mal ist es wieder ein Tierlaut: Taubengurren. Dieses Geräusch läßt sich unterschiedlich deuten - sei es beispielsweise als Verweis auf die Kirche,aus der der Choralgesang zu hören ist; sei es als Erinnerung an die Tierlaute, die zuvor als montierte Einsprengsel in das im Freien gesungene Wanderlied zu hören waren. Hier wird besonders deutlich, daß auch die in den Kirchengesang eingeschnittenen Geräusche nicht nur semantische, sondern auch syntaktische Funktionen erfüllen.

Nach dem Kirchengesang setzt wieder das Wanderlied ein. Auch diesmal wird der Gesang wieder gestoppt durch ein einmontiertes Geräusch: Erneut ist zu hören, daß ein Hahn kräht. - Auch diesem akustisch kommentierten Wanderliedgesang folgt wiederum eine Passage mit zusammenmontierten Klangfragmenten. Diesmal sind ausschließlich Stimmen zu hören: Menschenstimmen (Kinderstimmen; ein kurzer Wortwechsel zwischen einer Frau und einem Kind) - anschließend eine Tierstimme (wiederum Taubengurren). Danach erklingt nochmals das Wanderlied; unterbrochen wird es ein erstes Mal durch Menschen- und Tierstimmen (Kindergeschrei, Entengegacker), ein zweites Mal durch einen gesungenen Kinderreim; abschließend ist Motorradknattern zu hören.   

Wichtig ist hier, daß in diesem letzten Durchgang des Wanderliedes die Musik des Gesanges   -27-
nicht nur durch Geräusche und Stimmlaute aufgebrochen wird, sondern durch Musik: Zusammengeschnitten werden nicht nur Fragmente desselben Kindergesanges, sondern auch Fragmente verschiedener Kindergesänge (das Wanderlied - ein gesungener Kinderreim) oder auch Fragmente aus demselben Wanderlied, die von verschiedenen Sängern gesungen werden (in der Regel ernsthaft: von Kindern, wahrscheinlich von Jungen; einmal jedoch parodistisch übertrieben: von jungen Männern).

Montierte Geräusche - montierte Stimm- und Sprachlaute - montierte Musiken oder Musikausschnitte: Je nach Beschaffenheit der Ausgangsmaterialien können sich unterschiedliche Montagestrukturen, unterschiedliche Perspektiven und Differenzierungen des Hörens und Analysierens ergeben. Darüber hinaus können sich weitere Fragestellungen dann ergeben, wenn in der Montage auch Fragmente aus unterschiedlichen Erfahrungsbereichen miteinander verbunden werden, z. B. Geräusche und Stimmlaute.

Beispiel 25
Ruttmann, Weekend: Inhaltsbezogene Kombinationen:
Werktagsatmosphäre (Beginn des neuen Arbeitstages):
Geräusche und Stimmlaute
Anfang 181 schnarrende Uhr - Schluß 201 Männerstimme: Na also, bitte.

Der vierte und letzte Teil von Ruttmanns Hörfilm beginnt mit zusammenmontierten Geräuschen und Stimmlauten, in denen sich eine inhaltsbezogene Kombination von Klangfragmenten aus verschiedenen Erfahrungsbereichen erkennen läßt: Die Montagestrukturen stellen den Beginn eines neuen Arbeitstages dar - mit Bruchstücken aus verschiedenen, z. T. ineinander geschnittenen Erfahrungsbereichen, u. a.:
Weckerklingeln, Gähnen, Verkehrsgeräusche, Bürogeräusche, Musik- und Sprachfetzen vorbeiparadierender Soldaten und im Alltagsdialog.

Inhaltsbezogene Kombinationen können sich auch in abstrakteren Konstellationen ergeben, z. B. in aneinandermontierten Signalen aus der Freizeitwelt:

Beispiel 26
Ruttmann, Weekend: Inhaltsbezogene/formal-funktionale Kombinationen:
Signale (3. Teil)
113 Pfeifen

                    114 Hallo
                                      115 Hupen
                    115 Huhu
                                      116 verschiedene Hupen
                                                                               117 Mädchenlachen

119 Pfeifen

                    120 Huhu
                                                                               121 Stimmengewirr
                    122 Huhu
                                                                                                                123 Flugzeug (Schlußgeräusch)

Im dritten Teil des Hörstückes, dessen Montagestrukturen das Freizeitleben am Wochenende beschreiben, spielen Pfeifsignale eine wichtige Rolle. An zentraler Stelle finden sich zwei Montagestrukturen, in denen diese den Anfang bilden und dabei gleichzeitig als Geräuschsignal und als Musikfragment fungieren: Gepfiffen wird ein Leitmotiv von Wagner: Das Siegfried-Motiv. Danach erklingen zunächst Ruf- und Hupsignale im Wechsel, und es folgen, vorläufig abschließend, nonverbale Stimmlaute: Mädchenlachen. - Eine ähnliche, aber kürzere Montagestruktur beginnt wiederum mit dem Pfeifsignal des Siegfried-Motivs. Es folgen wieder Rufsignale, unterbrochen durch Stimmgewirr, und, als Abschluß, das Motorengeräusch eines Flugzeugs.

In anderen Montagestrukturen finden sich auch Kombinationen, deren Zusammenhänge sich   -28-
weniger aus inhaltsbezogenen als aus formalen Aspekten ergeben. Ein charakteristisches Beispiel hierfür finden sich schon zu Beginn des ersten Teils, in den ersten Klängen des Stückes:

Beispiel 27
Ruttmann, Weekend: Formale, klang- und klangtypenorientierte Kombinationen:
Anfang des 1. Teils
Zwei Gongschläge - zwei Gongschläge, Gongwirbel - Trommelwirbel
1                            - 2                             3                   - 4

Zwei Gongschläge - zwei weitere Gongschläge: Man hört vier Klang-Impulse, gruppiert in zwei Zweiergruppen. Danach folgen zwei Wirbel auf verschiedenen Schlaginstrumenten: zwei Klangketten. Die erste Klangkette wird auf dem Gong gespielt, d. h. auf demselben Instrument wie zuvor (in der Funktion der Verknüpfung des ersten Paares von Montagestücken mit dem zweiten: gleichbleibendes Instrument, gleichbleibende Klangfarbe); die zweite Klangkette erklingt auf der Trommel.

Diese 4 Anfangssignale artikulieren den Wechsel zwischen Impulsen und Klangketten in teils gleich bleibender, teils wechselnder Instrumentation. Sie eröffnen eine Kollektion von Montagestücken, die teilweise später, in anderen Montagezusammenhängen wiederkehren:

 

 Montagezusammenhänge können sich auch in der Kombination der beiden vorgenannten Möglichkeiten ergeben, als zugleich formale und inhaltsbezogene Kombinationen, z. B. beim zugleich morphologisch und semantisch strukturierten Übergang von der Sprache zur Musik.

Beispiel 28
Ruttmann, Weekend: Übergang vom ersten zum zweiten Teil: GERÄUSCH - Musik - SPRACHE
Tuckern (Automotor) - Geigenüben (Durtonleiter) - Klavier(üben) (Durchdreiklang) - Hallo Fräulein!
20                                 21                                           22                                                   23
48´´                              49´´                                        
Klangkette                 - Klangkette
Geräusch                      

                                     Musik                                  - Musik
                                                                                                                                           Sprache

Ein Automotor tuckert - auf der Violine wird eine aufsteigende Durtonleiter gespielt: Man hört zunächst ein Geräuschfragment als Klangkette, dann ein Musikfragment als Klangkette. Das erste und das zweite Fragment sind formal miteinander verbunden: Morphologisch verwandet, als Klangketten. Das zweite und das dritte Fragment sind inhaltlich dadurch verbunden, daß beide dem Erfahrungsbereich der Musik angehören: Er erklingen die Durtonleiter und der Durdreiklang als Grundklischees der tonalen Musik - und zugleich als musikalischer Übungsstoff für das werktägliche Musikzieren auf der Geige oder auf dem Klavier.

Anschließend ist erstmals im Stück ein Fragment aufgenommener Sprache zu hören: „Hallo, Fräulein“ - gesprochen von einer Männerstimme. Die folgenden Montagestücke erwecken den Eindruck, als werde hier ein Fräulein angesprochen, das in der Telefonvermittlung arbeitet. Erst später wird  erkennbar, daß auch eine andere Deutung möglich ist:

Dem Übergang vom 1. zum 2. Teil, einem Übergang vom Geräusch über die Musik zur Sprache, folgt später eine Reminiszenz, die auf Musik und Sprache nochmals zurückgreift: Man hört Durdreiklänge auf dem Klavier - diesmal nicht isoliert, sondern als Begleitung von Gesangsübungen. Im Hintergrund ist überdies Geigenspiel zu hören. Wenn anschließend die schon vorher gehörte Männerstimme sich wieder meldet, läßt sich das Fräulein anders identifizieren als zuvor: Es könnte die Frau gemeint sein, die zuvor die Gesangsübungen gemacht hat. - Wie auch immer: Das übende Musizieren erscheint auch hier wieder im engen Zusammenhang mit anderen Arbeitsgeräuschen, also engstens integriert in die Klangwelt eines Arbeitstages.

Verschiedene Perspektiven der Montageästhetik, wie sie sich in Ruttmanns Stück finden, können sich einerseits aus dem inhaltlichen und formalen Vergleich Montagestücke ergeben, andererseits aber auch aus deren zeitlicher Positionierung innerhalb des gesamten Formverlaufes. Dies zeigt sich besonders deutlich an Anfangs- und Schlußbildungen, z. B. gleich an den ersten Klängen des Stückes.

Beispiel 30
Ruttmann, Weekend, Anfang: Anfangssignale - Arbeitsgeräusche. 0´´ - 31´´
1 (2 Gonschläge) - 10 (Trommelrhythmus)

Die ersten Instrumentalsignale sind unmißverständlich als Anfang auskomponiert: Gongschläge, wie sie Ruttmann hier verwendet, kannte man als Anfangssignale zur Entstehungszeit seines Hörstückes auch aus anderen, weniger radikal-experimentellen Hörspielen. - Erst im weiteren Verlauf von Ruttmanns Stück wird erkennbar, worin der Unterschied zu konventionelleren Vergleichsbeispielen besteht: Ruttmanns Gongschläge kündigen nicht eine konventionelle Ansage an, sondern eine unkonventionelle Geräuschstruktur, und sie sind nicht musikalisch konventionell rhythmisiert, sondern völlig frei.

Entsprechendes gilt für die beiden fogenden Wirbel, den Gongwirbel und den Trommelwirbel.

Ein deutlich auskomponierter Anfang findet sich nicht nur zu Beginn des gesamten Stückes, sondern auch an Binnenzäsuren - besonders sinnfällig zu Beginn des 2. Teiles:

Beispiel 31
Ruttmann, Weekend, Anfang des 2. Teils (Ersteinsatz von Sprache)

Hier ist erstmals Sprache zu hören, und auch der Inhalt des Gesprochenen verweist auf die Situation des Beginns: „Hallo, Fräulein!“

Ein Mann redet ein Fräulein an, anschließend klingelt eine Kasse: Der Hörer könnte vermuten, daß hier ein Fräulein an der Ladenkasse angeredet wird. Das folgende Montagestück aber belehrt den Hörer eines anderen: Der Mann, dessen Stimme hier zu hören ist, möchte mit einer bestimmten Telefonnummer verbunden werden. Dies könnte den Hörer dazu bringen, den situativen Kontext rückwirkend umzudeuten: Die zuvor von demselben Manne Angesproche läßt sich jetzt (im Erfahrungskontext von 1930, dem Entstehungsjahr von Weekend) identifizieren als Fräulein von der Telefonvermittlung. Ein Hörer, der das Gehörte in diesem Sinne nachträglich umgedeutet hat, wird allerdings gleich im folgenden Klang wieder verunsichert: Er hört erneut ein Kassenklingeln - jetzt offensichtlich in veränderter Funktion: Nicht semantisch verdeutlichend, sondern syntaktisch gliedernd, einen Zwischenabschnitt abschließend. In dieser (gliedernden bzw. abschließenden) Funktion kommt das Arbeitsgeräusch des Kassenklingelns auch später wieder vor - übrigens ohne hier wie dort die semantische Funktion des Arbeitsgeräusches gänzlich einzubüßen.

Im Gesamtzusammenhang zeigt sich noch deutlicher, daß auch der Beginn des 2. Teiles als Anfang auskomponiert ist: Die Anrede als sprachliches Eröffnungssignal und die späteren Äußerungen derselben Männerstimme einerseits sowie das Geräusch des Kassenklingelns als charakteristisches Signal der Geschäftswelt andererseits sind antithetisch aufeinander bezogen: als Anfänge, denen sogleich Ansätze zu Abschlüssen folgen. Diese Polarität wird am Schluß des Stückes vollends deutlich: Vieles, was zuvor als Anfangssignal eingeführt worden war, kehrt jetzt wieder in der Umfunktionierung oder Umwandlung zum Schlußsignal.

Beispiel 32                                                                                                                       
Ruttmann, Weekend: Schluß
205 lautes Schlagen (10´59´´) - 219 Null (11´12´´)

Der Schluß von Ruttmanns Stück ist nicht weniger sinnfällig als die zuvor exponierten Anfangssignale und Anfangsstadien. Oft sind bei ihm bestimmte Schlußsignale unmißverständlich auf zuvor exponierte Anfangssignale bezogen:
- Ein wiederkehrender, jetzt den Schluß ankündigender Gongschlag,
- die Sirene,
- das Kassenklingeln,
- die letzte Ziffer der mühsam durchgegebenen Telefonnummer,
  die - passender Weise als „Null“ - das gesamte Stück beschließt.

Ruttmanns Stück ist für den Hörenden und Analysierenden einfach und kompliziert zugleich: Viele Klangfragmente lassen sich mehr oder weniger eindeutig identifizieren und deswegen auch in verschiedenen Aspekten mit anderen (benachbarten oder anderweitig montagetechnisch verwandten) Klangfragmenten vergleichen. Dies ist relativ leicht, weil es nur Montagen, aber keine Mischungen gibt und weil Ruttmann die aufgenommenen Klänge nicht verfremdet. Deswegen läßt sich sein Stück einerseits leichter und andererseits auch ausführlicher analysieren als vergleichbare Hörstücke aus späterer Zeit.

Beispiel 33
Elio Martusciello: A@traversio.it (1998)
1´09-2´03:Verwandlungen Geräuschfläche - Geräuschsignale - Sprache: SEMANTISIERUNG

Elio Martusciello hat 1998 eine Lautsprechermusik komponiert, in der sich neuartige Lautsprecherklänge mit collagierten Klängen aus der Alltagswelt begegnen: A@traversio.it. Einige Quellen für die hier von ihm verwendeten bekannten Alltagsklänge hat der Komponist in seinem Programmtext verraten, in dem er verschiedene Erfahrungsbereiche und Verarbeitsweisen nennt. Er sagt:

Die Stimmen ohne Körper kommen von Anrufbenatwortern, von CDs, aus dem Radio, dem Fersehen, dem Kino und aus dem Internet. Unscheinbar geschnitten und verwandelt.“

Besonders sinnfällige Verwandlungsprozesse können sich dann ergeben, wenn die Klänge sich von einem Erfahrungsbereich auf einen anderen verlagern, z. B. kurz nach Beginn des Stückes vom Geräusch zur Sprache in einem Prozeß der SEMANTISIERUNG. An späterer Stelle des Stückes findet sich auch der umgekehrte Vorgang: Die Verwandlung von Sprache in Geräusch, ein Prozeß der MUSIKALISIERUNG.

Beispiel 34
Elio Martusciello: A@traversio.it
4´22-5´11 VerwandlungSprache - Geräusch: MUSIKALISIERUNG

Elio Martusciello beschreibt sein Stück mit Begriffen, die auf Ambivalenzen verweisen - und die insoweit auch hinausführen über einfache Hörfilm-Konzeptionen im Geiste Walter Ruttmanns. An deren Stelle setzt Martusciello bildkräftige und spannungsreiche Metaphern:

„Transit, Stimulus, Abwesenheit von Körpern, analoge und digitale Strukturen, Klang als ort von Virtuellem, Tochnologie, die Klang aussendet und empfängt.“

Elio Martusciellos Komposition A@traversio.it bewegt sich im Spannungsfeld zwischen bekannten und unbekannten, zwischen fragmentarischen und kontinuierlichen, zwischen identifizierbaren und nicht identifizierbaren Klängen. Immer wieder hört man in dieser Musik, wie realistische Klangfragmente und deren Collagierungen eindringen in neuartige, vorwiegend kontinuierliche Klangwelten und Klangprozesse. Realistische - bzw. pseudo-realistische - Klangelemente verweisen so gleichzeitig auch auf etwas ihnen polar Entgegengesetztes: auf das elektroakustische Klangkontinuum, zu dessen Erschließeung es nicht nur der strukturellen Analyse, Transformation und Umstrukturierung bedarf, sondern auch der synthetischen Kreation neuer Klangwelten.

 

                                                                                                                                                         

5. Wandlungen des konzeptorientierten Komponierens und Hörens:
Von der erfahrungskonstitutiven zur erfahrungserschließenden Musik

 5.1 Konzeptorientierte Musik
auf naturwissenschaftlicher und kompositionstechnischer Legitimationsbasis (1):
Ein Entwurf serieller Obertonmusik
(Karlheinz Stockhausen, Vorstudien zu "Studie I", 1953:
Die Anfänge der elektronischen Musik im oeuvre Karlheinz Stockhausens)

Jeder „natürliche“ „Ton“ (außer dem ... obertonfreien Sinuston) ist ein „Akkord“ („Klang“) von Teiltönen, die sich nach bestimmten Proportionen von Zeit (Frequenz und Dauer) und Raum (Amplitude) zueinander verhalten.[1]

Mit diesen Worten hat Karlheinz Stockhausen im Frühjahr 1953 Erkenntnisse der klassischen Akustik angesprochen, die sich in anderer Formulierung bereits bei Hermann von Helmholtz finden lassen: Dieser hat bereits in seiner (erstmals 1862 erschienenen) „Lehre von den Tonempfindungen“ festgestellt, dass die Klangfarbe des musikalischen Teiles eines Klanges nur abhängt von der Zahl und Stärke der Teiltöne (...)[2]

Stockhausen interessierte sich für diese Tatsache nicht als Naturwissenschaftler, sondern als Komponist, der schon 1952 eine neue, von der bisherigen Tradition sich radikal abgrenzende Definition des Komponierens gefunden hatte:
Tonordnung meint (...) die
Unterordnung von Tönen unter ein einheitliches Prinzip, das vorgestellt ist. Und: Widerspruchslosigkeit zwischen der Ordnung im Einzelnen und im Ganzen. (...)
Das Einzelne ist der Ton mit seinen vier Dimensionen: Dauer, Stärke, Höhe, Farbe.[3]

Akustische und kompositionstechnische Aspekte verbindet Stockhausen 1953 erstmals in einer Bemerkung, die er als Fazit einer Analyse von Weberns Konzert op. 24 einführt. Er interpretiert dieses Werk als Ankündigung neuer Möglichkeiten, künftig mit Sinustönen unter Proportionierung der drei Dimensionen Höhe, Dauer und Stärke zu komponieren.[4]

Eine Notiz in erhaltenen (und später in limitierter Auflage veröffentlichten) Arbeitsaufzeichnungen des Komponisten teilt mit, daß Stockhausen aus seinen theoretischen Voraussagen relativ rasch praktische kompositorische Konsequenzen gezogen hat:
Elektronische Klänge
begonnen am 1. 7. 1953 (...)

Die ersten Versuche ziehen kompositorische Konsequenzen aus den Aussagen von von Helmholtz:
Der Aufbau von Klängen aus Obertönen wird nicht mehr in der Wirklichkeit, an vorgefundenen Instrumenten und an Gesangstönen, festgestellt und analysiert, sondern es werden, nach neuen kompositorischen Grundideen, neue, bis dahin nicht existierende Klänge synthetisch erzeugt:
Überlagerungen ausgewählter Naturtöne in bestimmten Lautstärke-Abstufungen - in mehreren, entsprechend der kompositorischen Grundidee systematisch auseinander abgeleiteten Varianten:

 

6 verschiedene „homogene“ Spektren (SH) entstehen daraus, daß die 6 Sinustöne
in unterschiedlichen Abfolgen der Reihe nach einsetzen (im Abstand von je einer Sekunde),
sich überlagern und dann Schritt für Schritt wieder aussetzen
(der zuerst eingesetzte Sinuston verschwindet als erster, der zweite als zweite usw.,
der zuletzt eingesetzte als letzter, wiederum im Abstand von jeweils einer Sekunde):

                     
In 6 verschiedenen „variablen“ Spektren (SV) gibt es
- einerseits feste, abgestufte Werte: unterschiedliche Lautstärken der überlagerten Sinustöne
(in gleichen Lautstärkeabstufungen für jeweils unterschiedliche Tonkonstellationen) und
- andererseits gleitend veränderte Werte:
eine „Hüllkurve“ mit raschem Anstieg und langsamerem Ausklingen für jedes Spektrum,
als „Schlagklang“.



Es finden sich also Ansätze einer quantitativ kontrollierten Komposition,
die Detailstrukturierungen auf größere Zusammenhänge zu übertragen versucht:
- 6 verschiedene Sinustöne bilden ein (homogenes oder variiertes)Sinuston-Spektrum
- 6 verschiedene Varianten eines (homogenen oder variierten) Sinustonspektrums
  ergeben sich aus unterschiedlichen Anordnungen von Tonhöhen oder Lautstärken.

Nach einfachen quantitativen Regeln geordnet
sind nicht nur die Zusammenhänge in verschiedenen Dimensionen der formalen Gestaltung
(bei der Gruppierung sei es von einzelnen Sinustönen, sei es von Sinuston-Spektren),
sondern auch verschiedene Varianten auf derselben Gestaltungsebene.
Dies kann man erkennen, wenn man verschiedene Varianten
der Abfolge und der dynamischen Abstufung einzelner Sinustöne miteinander vergleicht: Sie ergeben sich aus Auswahl und Permutation von 6 Werten:
 

 

Im Folgenden sind Versuche protokolliert, aus diesen einfachen Grundklängen kompliziertere Klangmaterialien abzuleiten - sei es durch Überlagerung (additive Mischung) oder durch klangliche Weiterverarbeitung (Bildung von Summations- und Differenztönen zweier eingegebener Frequenzen: mulitiplikative Mischung durch Ringmodulation). Danach brechen die Skizzen ab:
Anscheinend wurden die Versuche nicht weitergeführt.
Der Versuch, auf der Basis der klassischen Akustik
aus einfachen harmonischen Spektren
nach seriellen Prinzipien ein Musikstück zu komponieren,
führte hier offensichtlich auch bei komplexeren (additiven oder multiplikativen) Mischungen
nicht über relativ einfache Klangbildungen hinaus.
Vielleicht läßt sich so erklären,
daß Stockhausen bei der weiteren kompositorischen Arbeit,
die dann auch bruchlos bis zur endgültigen Komposition fortgeführt worden ist
(bis zur Elektronischen Studie I, 1953),
eine andere, komplexere Tonkonstruktion zu Grunde gelegt hat.

 

4.2 Konzeptorientierte Musik
auf naturwissenschaftlicher und kompositionstechnischer Legitimationsbasis (2):
Musik aus einer Dreitonreihe (Von Beethoven, Schönberg und Webern zu Stockhausen)

Nach dem Abschluß seiner Experimente mit 2x3=6 Sinustönen in elementaren Naturtonproportionen hat Stockhausen eine neue Versuchsreihe begonnen, die nicht direkt von der Ordnung der Naturtonreihe ausgeht, sondern von charakteristischen Tongestalten:
Von Intervallproportionen zwischen abwechselnd auf- und absteigenden Tönen;
von einer Dreitonreihe (mit weit absteigender und eng aufsteigender Tonbewegung)
und ihrer Spiegelung:

         1920      800     1000        625      1500    1200 Hz

             12   :     5                         5     :     12

                          4    :     5                            5     :    4

                                      8      :      5         

im Vergleich mit den vorausgegangenen Experimenten mit 6 Naturtönen
ergibt sich hier die größere Komplexität einer neuen Sechstonstruktur 
- einerseits aus den Intervallproportionen
(es werden nicht nur die ersten sechs ungeraden Teiltöne 1, 3, 5, 7, 9 und 11 benutzt,
sondern von Ton zu Ton wechselnde Intervallproportionen, die bis zum 12. Teilton reichen) und
- andererseits aus einem historischen Vorbild:
Die Intervallproportionen der sechs Ausgangstöne
resultieren aus Adaption und Abwandlung
der ersten sechs Töne aus Weberns Konzert für neun Instrumente op. 24 -
einem Werk, dessen ersten Satz Stockhausen 1953 als unmittelbare Vorstufe
der proportionsgesteuerten elektronischen Klangkomposition analysiert hat:


 

Wenn Stockhausen bei der Konstruktion serieller Tonstrukturen im Elektronischen Studio seinen ursprünglichen Ansatzpunkt, die serielle Komposition neuartiger Naturtonspektren, aufgibt und statt dessen serielle Spektren mit komplexeren, an Weberns „organische Chromatik“ erinnernden konstruiert und realisiert, dann macht er damit deutlich, daß die Bedingungen des Hörens im Zeitalter der Elektronischen Musik andere sein können, als sie im Zeitalter der klassischen Akustik (im Sinne von Hermann von Helmholtz) galten: In seriell konstruierten Obertonspektren stellt sich das Problem struktureller Klangfarbenkomposition in anderer Weise als in seriell konstruierten Tongemischen, deren Intervallstruktur den Veränderungen des tonstrukturellen Denkens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlicher Rechnung trägt. Denn je stärker sich überlagerte Sinustöne in ihrer Intervallstruktur an den Aufbau der Naturtonreihe anlehnen, also einfache Frequenzproportionen bevorzugen, desto stärker können sie (in adäquaten Lautstärkeverhältnissen) miteinander verschmelzen - in der Weise, daß eher ein durch die Obertöne „gefärbter“ Grundton gehört wird als die akkordartige Üeberlagerung gleichwertiger (Teil-)Töne. Je stärker andererseits kompliziertere Intervallproportionen einbezogen werden, desto deutlicher können (in adäquat kombinierten und dosierten Intervallen und Lautstärken) einzelne Töne und Intervallkonstellationen hervortreten. Bei Webern wird die letztere Möglichkeit (wie schon der junge Stockhausen erkannt und theoretisch reflektiert hat) vor allem dadurch gesichert, daß in seinen Intervallkombinationen chromatische Beziehungen zwischen deutlich voneinander unterscheidbaren Tönen, vor allem große Septimen und kleine Nonen zum Regelintervall geworden sind. So entstehen sich von traditionellen Abhängigkeiten weitgehend unabhängige harmonische Konstellationen, die über Webern hinaus später auch in Werken jüngerer Komponisten exemplarisch werden sollten, z. B. bei Pierre Boulez und beim jungen Stockhausen. Dies zeigt sich besonders deutlich in der Sechstonreihe der Studie I.

Weberns Tonkonstruktion zu seinem op. 24, die Stockhausen in seiner Studie I als historisches Modell heranzieht, knüpft ihrerseits an ältere historische Modelle an:
Die Dreitongruppe, von der Webern ausgeht, ist engstens verwandt mit der Dreitongruppe,
 die Arnold Schönberg, der Widmungsträger von Weberns 1934 entstandenem Konzert,
dem achten Stück („Nacht“) seines 1912 entstandenen Zyklus „Pierrot lunaire“ zu Grunde gelegt hat, und diese Dreitonkonstruktion wiederum knüpft an an ein Modell des späten Beethoven. Es läßt sich also ein kompositorischer Entwicklungsstrang annehmen, der von Beethoven über Schönberg zu Webern (und von diesem wiederum zu Stockhausen) führt.

Beethoven verwendet seine Dreitonzelle stets nur innerhalb eines einzigen Oktavraumes (meistens mit den ursprünglichen Intervallen: kleine Terz aufwärts - große Terz abwärts; verschiedentlich auch mit geringfügigen Stauchungen oder Spreizungen dieser Intervalle). Schönberg bevorzugt ebenfalls, vor allem am Anfang seines Stückes, die Konzentration seiner Intervallzelle auf die „enge Lage“ auf einen einzigen Oktavraum. Bei ihm gibt es aber auch erste Ansätze für eine Zelltransformation, die später für die gesamte zwölftönige Reihenmusik bedeutsam werden sollte: Die Verlagerung der Oktavlage von einzelnen Tönen. Schönberg führt sie ein, indem er (erstmals in Takt 17) den dritten Reihenton in eine höhere Oktavlage versetzt und so aus der ursprünglich chromatisch (um einen Halbton) absteigenden eine weiträumig (um eine große Septime) aufsteigende Tongruppe macht. Webern geht noch einen Schritt weiter: Bei ihm wird die „weite Lage“ zum Regelfall; das Intervall h-b, das im Reihenschema als Halbtonschritt ausnotiert wird, kommt im ersten Satz seines Konzertes nur in größeren Distanzen vor, was gleich an den ersten drei Tönen des Satzes erkennbar wird: Die Musik beginnt mit einer (absteigenden) kleinen None. (Später kommen an ihrer Stelle auch große Septimen vor. Überdies finden sich mehrfach Oktaverweiterungen dieser beiden Grundintervalle).

Bei Beethoven bleiben die Abfolgen der Intervalle (kleineres Intervall aufwärts -  größeres Intervall abwärts) in den Varianten der Dreitonzellen erhalten. Bei Schönberg ist dies anders: Man findet Veränderungen nicht nur der Intervallabfolge und der Intervallrichtungen, sondern auch der Abfolge der Töne:

- T. 14: Das ursprüngliche Schlußintervall, die große Terz abwärts, kommt an späterer im Stück auch als Anfangsintervall einer neuen Dreitonzelle vor. Diese wird ergänzt durch einen dritten Ton, der die gesamte neue Zelle zur Variante der alten macht: Die kleine Terz, das ursprüngliche Anfangsintervall, wird zum Schlußintervall. Die neue Dreitonzelle wird so zur Krebsumkehrung der alten.
- T. 17:  In einer anderen Variante bleibt das Schlußintervall (große Terz) in seiner Größe erhalten, ändert aber seine Richtung (aufwärts statt, wie zuvor, abwärts); vor dieses Schlußintervall wird ein Anfangston gesetzt, der die gesamte neue Dreitongruppe zur Permutation der ursprünglichen macht: Durch Umstellung der Töne (1-3-2 statt 1-2-3) und durch Umfunktionierung der Intervalle (kleine Sekund: Anfangsintervall, zwischen Anfangs- und Mittelton, statt, wie zuvor, Rahmenintervall zwischen Anfangs- und Schlußton; umgekehrt kleine Terz: Rahmenintervall statt, wie zuvor, Anfangsintervall).

Veränderungen der Grundabfolgen in ihren Abfolgen und Richtungen, wie sie bei Schönberg, beschränkt auf  besonders charakteristische Sonderfälle, im Verlaufe der Komposition erst nach und nach organisch ins Spiel gebracht werden, bestimmen bei Webern die Tonstruktur von Anfang an: Mit veränderten Intervallrichtungen (Umkehrungen), mit rückläufigen Intervallabfolgen (Krebsbildungen) und mit Veränderungen von Intervallrichtung und Intervallabfolge gleichzeitig (Krebsumkehrung): 

Beethoven und Schönberg arbeiten, besonders anfangs, häufig mit Oktav-Transpositionen ihrer Grundzelle. Weberns Transformationen sind komplexer, selbst an den 3 Schlüsselstellen des 1. Satzes: Die Intervalle werden variiert, und der erste Ton der Exposition wird zum zweiten (Reprise) bzw. dritten (Coda).


Auch die musikalische Fortsetzung der Zellen ist bei Beethoven und Schönberg  meist relativ einfach (z. B. chromatische Fortsetzung: bei Beethoven sequenzierend, bei Schönberg anfangs kontrapunktierend), während Webern stärker individuell verfährt: durch Umfunktionierung bestimmter Töne und Tonverbindungen, z. B. von alten Endtönen zu neuen Anfangstönen:

 

 

Wenn man die Dreitonstrukturen von Beethoven, Schönberg, Webern und Stockhausen in ihren größeren Formzusammenhängen hört, kann man herausfinden, dass sich die Funktionen der einzelnen Töne und Intervalle von Komposition zu Komposition verändern. Dabei nimmt die Komposition von Schönberg offensichtlich eine vermittelnde Position zwischen älterem und neuerem Musikdenken und -hören ein: Ihre ersten deutlich erkennbaren (T. 4-10; anschließend an die extrem tiefen und leisen, auch strukturell komplizierteren Anfangstakte) thematischen Einsätze auf oktavverwandten Tönen sind ähnlich disponiert wie die ersten klaren (der komplexen Einleitung folgenden) Themeneinsätze im Sonaten-Hauptsatz Beethovens. Im weiteren Verlauf aber treten Gestaltungsprinzipien in den Vordergrund, die vorausweisen auf  spätere Verfahrensweisen bei Webern und teilweise sogar bei Stockhausen: SChönberg findet Prinzipien der Formgestaltung, die sich von traditionellen, der durmolltonalen Musik verpflichteten Ablaufsmustern lösen und stärker den Besonderheiten seiner neuen Tonsprache verpflichtet sind: Es bilden sich Tonstrukturen, deren größere Zusammenhänge nicht aus der Komposition vorgeordneten Tonbeziehungen herauswachsen, sondern aus der Komposition selbst: Anfangs (T. 1 f.) wird jede Zelle weitergeführt, indem ihr 2. gleichzeitig als Ausgangston einer neuen Zelle fungiert. Später (T. 8 f.) ergibt sich der Übergang von einer Zelle zu den beiden nächsten aus dem Ausgangstönen: Die zweite Ton wird zum Ausgangston der zweiten Zelle, der dritte Ton wird zum Ausgangston der dritten Zelle. Später (T. 11 f.) kommen komplexere Veränderungen hinzu: Rhythmische Verkleinerungen und Vergrößerungen, akkordische Parallelführungen (T. 11 f.), Oktavlagenveränderungen (T. 16 ff.):

 

Schönberg intensiviert hier Ansätze, die im ersten Satz von Beethovens letzter Klaviersonate erst andeutungsweise entwickelt waren: Die Gestaltung eines Formprozesses, der, von drei Tönen in enger Lage ausgehend, sich organisch weiter entwickelt und im Tonraum ausbreitet:


 

Wenn man die (jeweils aus einer Dreitonzelle entwickelten)
Tonstrukturen von Beethoven (1822), Schönberg (1912), Webern (1934) und Stockhausen (1953) miteinander vergleicht,
kann man feststellen,
daß bei Stockhausen in wesentlichen Aspekten
die Töne anders behandelt sind als bei Beethoven, Schönberg und Webern.
Am deutlichsten zeigt sich dies beim Vergleich der Funktionen
einerseits der einzelnen Töne, andererseits der zwischen ihnen entstehenden Intervalle:


Für Schönberg und Webern sind nicht die einzelnen Töne vorrangig, sondern die Intervalle.
Deswegen können die ursprünglichen Dreiton-Konstellationen ohne weiteres transponiert werden,
wobei sich die einzelnen Töne, aber nicht die Intervalle ändern.
Von dieser Möglichkeit macht Schönberg  schon im Anfangstakt seines Stückes Gebrauch:
Die aufsteigende kleine Terz das erste Intervall seiner Grundreihe,
wird maßgeblich nicht nur als Intervall innerhalb der Reihe (zwischen Ton 1 und Ton 2),
sondern auch als Intervall der Reihenverknüpfung
(zwischen Anfangstönen aufeinander folgender Reihen):
Die ersten Töne des Stückes lassen sich ableiten aus mehrfachen
Transpositionen der Ausgangsreihe um eine kleine Terz aufwärts (T. 1-3).
Erst in den folgenden Takten (T. 4-10) ergeben sich einfachere Intervallbeziehungen
zwischen verschiedenen aufeinander folgenden Reihen:
Verschiedene Reiheneinsätze orientieren sich in ihren Anfangstönen
nicht am Ausgangsintervall, sondern am Ausgangston des Stückes:
Sie beginnen, in verschiedenen Oktavlagen, auf dem Ton E -
in Oktavlagen-Verwandtschaften, die noch entfernt an die traditionelle Tonalität erinnern,
in der ein Zentralton bzw. eine zentrale Ausgangstonart
im Anfangsteil des Stückes zunächst für längere Zeit beibehalten wird.

Erst später erscheinen dann wieder komplexere Reihen-Verknüpfungen (z. B. Umfunktionierungen der 3 Reihentöne zu Anfangstönen neuer Reihen) und schließlich auch Veränderungen der konkret hörbaren Intervallstruktur und der daraus gebildeten Tongestalten (z. B. in melodischer Abfolge Versetzung des 3. Reihentones in höhere Oktavlage oder in akkordischer Überlagerung der umgekehrten Dreitonzelle unter Versetzung ihres letzten Tones in tiefere Oktavlage).

So entsteht Musik aus 3 Tönen:
- Sich überlappende Dreitonzellen (T. 1-3)
- imitatorische Einsätze von Thema (= Dreitonzelle) und anschließendem chromatischem Kontrapunkt in verschiedenen Oktavlagen (T. 4 ff.; bereits in T. 4 wird dieser Kontrapunkt in der Sprechstimme vorweggenommen)
- aufeinander folgende Dreitonzellen:
chromatisch absteigend (T. 11: Abfolge folgt den absteigenden Tönen des Kontrapunkts T. 4 ff.) oder auf den Tonstufen der Ausgangszelle (ab T. 12 mehrmals nacheinander)
- mehrere Dreitonzellen gleichzeitig in akkordischer Parallelführung (T. 11 f.)
- mehrere Dreitonzellen sich überlappend (ab T. 14)
- aufsteigende Dreitonzellen durch Oktavverlegung des dritten Tones,
sich überlappend mit originaler Zelle (1-2-3) und gleichzeitig mit permutierter Zelle (1-3-2) (T. 17)
- Permutation der Originalzelle und Akkord aus umgekehrter Zelle (mit Oktavlagenwechsel)  (T. 18)
- Überlagerungen von originalen und umgekehrten Dreitonzellen (T. 19 ff.)






Auch Webern hält an den ursprünglichen Dreitongruppen zunächst fest,
wenn er sie anfangs in verschiedenen Melodieinstrumenten vorstellt
und dann anschließend variiert im Klavier wieder aufgreift;
wenn er überdies sie anschließend zunächst nur vorübergehend in den Melodieinstrumenten verläßt
und schon kurz danach wieder im Klavier,
mit Vertikalisierungen in Zweiklängen oder Dreitonakkorden, zu ihnen zurückkehrt;
andererseits finden sich bei Webern auch hier schon an Brahms anknüpfende Modulationsprinzipien,
bei denen neue Phrasen von vorausgegangenen Schlußtönen und -intervallen ausgehen
und sich auf diesem Wege langsam, aber stetig von zuvor exponierten Tonstrukturen entfernen).


Für die Reihenverknüpfungen sind maßgeblich:
- einerseits „Nahtstellen“ mit wiederkehrenden Tonhöhen, z. B.:
Reihe (1), Schlußtöne 11-12 = Reihe (3), Anfangstöne Ton 1-2;
Reihe (3) Ton 11-12 = Reihe (4) Ton 1-2);
- andererseits Beziehungen zwischen Dreitongruppen: Die 4 Dreitongruppen der 1. Reihe:
(1) a=1-2-3, b=4-5-6, c=7-8-9, d=10-11-12
kehren in der 2. Reihe in gleicher Abfolge, aber in intern rückläufiger Abfolge wieder:
(2) a=3-2-1, b=6-5-4, c=9-8-7, d=12-11-10.
Ähnlich sind auch die Dreitongruppen der 3. Reihe (e, f, g, h) und der 4. Reihe miteinander verknüpft, allerdings in rückläufiger Abfolge und in variierter (nur 2 der 3 Töne übernehmender, den 3. Ton in symmetrischen Varianten hinzufügender) Form der entsprechenden Dreitongruppen:
(3) e - f  - g - h
(4) h´- g´- f´- e´
Die fünfte Reihe bringt die Dreitongruppen der ersten Reihe in rückläufiger Abfolge:
(5) d - c -  b - a.
Die sechste Reihe bringt die beiden Sechstongruppen der dritten Reihe in rückläufiger Abfolge:
(6) f - e    h - g.
Die siebte Reihe bringt die Drei- und Sechstongruppen der vierten Reihe in rückläufiger Abfolge:
(7) g´- h´  e´-f´.


Schon am Anfang des Stückes (Exposition T. 1 ff.) zeigt sich, daß die ursprünglichen Oktavlagen der Intervalle nur kurz (in den ersten beiden Zwölftonreihen) beibehalten und dann anschließend verändert werden (3. Reihe: veränderte Schlußintervalle in erster und letzter Dreitongruppe; 4. Reihe: Intervallverengungen in allen 4 Dreitongruppen). Noch weiter gehende Lagenveränderungen finden sich in zwei wichtigen Parallelstellen, den Anfängen von Reprise (T. 45 ff.) und Coda (T. 63 ff.):

Für Stockhausen sind offensichtlich die einzelnen Töne wichtiger als die Intervalle.
Deswegen macht er, anders als Schönberg und Webern,
von intervallischen Transpositionen und Spiegelungen
nur sparsam und nach streng eingeschränkten Regeln Gebrauch:
Während Webern 4 Dreitongruppen in den 4 Spiegelformen
(Grundgestalt, Krebsumkehrung der Grundgestalt; Krebs, Krebsumkehrung des Krebes = Umkehrung)
verwendet, beschränkt Stockhausen sich auf 2 Dreitongruppen
(Grundgestalt und Umkehrung, also unter Verzicht auf die rückläufigen Spiegelungsformen) -
und überdies hält er, anders als Schönberg und Webern,
an den ursprünglich eingeführten Lagenverteilungen fest.
(Er verzichtet also darauf, die Oktavlage einzelner Reihentöne zu verändertn
z. B. durch Oktaverweiterungen oder -reduktionen
oder durch Übergänge zu Komplementärintervallen).

Bei den Transpositionen seiner Tonstruktur konzentriert Stockhausen,
anders als Schönberg und Webern,
sich nicht auf klar heraushörbare Verknüpfungen einer Reihe mit der folgenden,
sondern er konstruiert einen kompositionstechnischen Automatismus,
nach der sich aus  den 6 Tönen der Ausgangsreihe automatisch
6 Transpositionsstufen verschiedener Sechstonreihen (also Gruppen von insgesamt 36 Tönen)
und, auf noch höherer Ebene, noch umfangreichere Sechsergruppen (6x36 = 216 Töne) ergeben:
Er entfernt sich wesentlich weiter von Relikten tradierter Tonalität
als Schönberg und selbst Webern.
Seine Tonstrukturen präsentieren sich gleichsam schwerelos kreisend und in aufhörlicher Bewegung.
Der konstruktive Grundgedanke seiner sich selbst vervielfältigen Zellstrukturen
läßt sich ansatzweise allerdings auch schon bei Schönberg finden:
Bei diesem werden die Dreitongruppen häufig zur Keimzelle größerer Gruppen mit 3x3=9 Tönen:
Jeder Ton einer Dreitongruppe wird zum Anfangston einer neuen Dreitongruppe:

 

1    (e)

 

 

2   (g)

 

 

3   (es)

 

 

1.1 (e)

1.2 (g)

1.3 (es)

2.1 (g)

2.2 (b)

2.3 (ges)

3.1 (es)

3.2 (ges)

3.3 (d)

 

e

g

es

g

b

ges

es

ges

d

Eine Reihe wird zur Keimzelle einer Transpositionsstruktur:
Dieses bei Schönberg schon frühzeitig und in einer kleinsten Keimzelle zu findende Prinzip
hat bereits Schönbergs Schüler Cage frühzeitig verallgemeinert, indem er vergleichbare Keimzellenstrukturen für die zeitliche Struktur einer Komposition entwickelte,
etwa für die Mikro- und Makrostrukturen der Zeitabschnittsgliederungen
in seiner First Construction in Metal:

 

4   T. 1-4

3   T. 5-7

2   T. 8-9

3   T. 10-12

4   T. 13-16

4 T. 1-64

 

 

 

 

 

3 T. 65-112

 

 

 

 

 

2 T. 113-144

 

 

 

 

 

3 T. 145-192

 

 

 

 

 

4 T. 193-256

 

 

 

 

 

 

 

Cage entwickelt Zellenkonstruktionen für die Zeitstruktur in Analogie zu Schönbergs Zellenstrukturen für die Tonstruktur. Was bei Schönberg an hörbare Zusammenhänge gebunden bleibt, mutiert bei Cage zur Organisation für Ereignisse, über deren konkrete sinnliche Beschaffenheit nichts Genaueres ausgesagt wird: Die Zeitstrukturen lassen sich nicht nur auf Töne beziehen, sondern auch auf Geräusche; nicht nur auf Klang, sondern auch auf Stille; nicht nur auf Hörbares, sondern auch auf Ereignisse aus anderen Sinnesbereichen, z. B. auf Sichtbares (wovon John Cage vor allem in der Zusammenarbeit mit Merce Cunningham Gebrauch machen konnte, wenn etwa seine Zeitstrukturen nicht nur die Musik maßgeblich wurden, sondern auch für die Bewegungsvorgänge einer gleichzeitigen Ballett-Realisation).

Wenn der junge Stockhausen in seinen ersten elektronischen Studioarbeiten von einer Sechserreihe ausgeht, dann erscheint diese, anders als (etwa 14 Jahre zuvor) in der rhythmisch strukturierten Geräuschmusik des jungen Cage, keineswegs in völliger Abstraktion von real hörberen Tonstrukturen. Im Gegenteil: Tonstrukturen bilden hier, ähnlich wie zuvor bei Schönberg und Webern, immer noch den Ausgangspunkt der musikalischen Konstruktionsideen (obwohl dann bei Stockhausen  im Prozeß der späteren Ausarbeitung die Prinzipien der Tonhöhenstrukturierung durchaus auch auf andere Schalleigenschaften, insbesondere auf Lautstärke und Tonhöhe übertragen werden können). Insofern stehen Stockhausens konstruktive Ansätze auch hier den Vorbildern Schönbergs und Weberns näher als deren unorthodoxen Umfunktionierungen durch Cage. Während Cage das vom Detail auf größere Zusammenhänge sich ausweitende tonstrukturelle Denken seines Lehreres Schönberg allenfalls in der Abstraktion von bestimmten Tonhöhen und in der Übertragung auf die Zeitordnung akzeptieren mochte, ging Stockhausen noch in seinen ersten elektronischen Studioexperimenten und Realisationen ohne Scheu von eindeutig bestimmten Tonhöhen aus - von elementaren Tonstrukturen, die zugleich in sich den strukturellen Keim zu größeren Gruppierungen enthielten. Dies zeigt sich nicht nur in den anfangs realisierten Sechstonstrukturen aus einfachen Obertonintervallen, sondern auch in den späteren, von Webern inspirierten Sechstonstrukturen, die zur Keimzelle der Elektronischen Studie I geworden sind. Die spiegelsymmetrischen Dreitonstrukturen dieser Komposition lösen sich noch nicht vollständig von dreitönigen Modellen Schönbergs und Weberns. Allerdings präsentieren sie sich dem Hörer in einem radikal veränderten strukturell-formalen Kontext und stellen den Hörer vor durchaus neue, in älterer Zwölftonmusik in dieser Form nicht vorstellbare Probleme:  

Während Schönberg und Webern ihre Dreitonstrukturen mit größter Deutlichkeit exponieren,
werden sie bei Stockhausen durch modifizierende Weiterverarbeitung weitgehend wieder verwischt:
In seiner Musik hört man nicht die strukturell maßgeblichen Dreitongruppen,
sondern diese überdeckende serielle Gruppierungen
im fortwährenden Wechsel zwischen 1, 2, 3, 4, 5 und 6 Tönen.

Die Paradoxie, daß ein kompliziertes System der Tonhöhenstrukturierung durch ein anderes, womöglich noch komplizierteres aufgehoben wird (wobei offenbleiben mag, ob dabei eine Aufhebung im Hegelschen Sinne zustande kommt) - diese Paradoxie wird um so deutlich, wenn man die Details beider Strukturierungen genauer studiert: Schon die ursprüngliche Strukturierung, die aus einer Keimzelle aus 2.3=6 Tönen hervorgegangen ist, erweist sich als kompliziert genug in der mehrfach gestuften Ableiterung größerer Zusammenhänge aus den Details, in der Transposition der Ausgangsreihe auf ihre 6 Ausgangstöne (6 Töne als Basis für die Ableitung von 6.6=36 Tönen) und in der Versechsfachung der versechsfachten Sechstonreihe wiederum durch die Präsentation der 36 Töne auf allen 6 Stufen der Ausgangsreihe (36 Töne als Basis für die Ableitung von 6.6=36 Tönen):