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1.2.10 NACHT.DOC


Rudolf Frisius

Iannis Xenakis: Nuits (1967)

In den Klängen der Musik von Iannis Xenakis spiegeln sich nicht nur moderne Wissenschaft und Technik, sondern auch politische Erschütterungen, Krisen und Katastrophen seiner Zeit - nicht zuletzt auch seine eigenen Erfahrungen aus der Zeit des Volksaufruhrs, des Terrors und der zerstörerischen Repression im Athen des 2. Weltkrieges. Noch mehr als zwei Jahrzehnte später bekennt sich Xenakis zu seinem Engagement gegen Terror und Unterdrückung in dem Chorstück "Nuits" ("Nächte"), das die Erinnerung an politische Gefangene in aller Welt wachhalten soll.

Diese Komposition ist das erste Werk von Xenakis, in dem die Trennung zwischen "vokaler" und "instrumentaler" Schreibweise vollständig überwunden ist (während in mehreren früheren Werken aus den sechziger Jahren, in denen antike Texte vertont sind, der quasi-archaische Chorsatz sich meistens deutlich von avancierteren Tonstukturen abhebt, die im Instrumentalsatz vorherrschen). Die kompositionstechnische Geschlossenheit dieses Stückes beruht vor allem darauf, daß Xenakis hier den Chorsatz insofern "instrumentalisiert" hat, als er hier erstmals auf einen vorgegebenen Text verzichtet und ausschließlich sprachfreie Laute und Silben vorschreibt.

Das Stück geht aus von Glissandoknäueln, die mehr und mehr den Tonraum erfüllen, die sich in hin- und herflutender Bewegung auch dynamisch beleben und die schließlich in einen einzigen Dauerton münden.

Der zweite Teil des Chorstückes beginnt auf dem Ton, mit dem der erste endete. Jetzt stehen Tonrepetitionen im Vordergrund. Nachdem im ersten Teil die (kontinuierliche) melodische Bewegung dominiert hatte, kommt jetzt eine diskontinuierliche Musik auch rhythmisch in Bewegung: während sich die Repetitionstöne im Tonraum ausbreiten, gewinnen sie nicht nur verschiedene Tonhöhen, sondern auch verschiedene Geschwindigkeiten der Pulsation. Es entstehen vielschichtige rhythmische Überlagerungen - zusätzlich bereichert durch unterbrechende heftige Rufe; aus langsamen Tonrepetitionen entstehen allmählich sich ausbreitende Linien und Klangflächen - es entwickelt sich eine Steigerung bis zum Höhepunkt eines breit gefächerten Klanges.

An den markanten Höhepunkt des Stückes schließt sich eine Formentwicklung an, die weniger der eindeutigen Richtung eines innermusikalischen Prozesses folgt als auf Vieldimensionalität, Kontrastreichtum und vielfältige Ausdeutbarkeit zielt: Mit oszillierenden, vibrierenden Bewegungen - breit aufgefächert oder in Schwebungen einzelne Töne umkreisen - mit vielfältigen Geräuschen, die an Naturlaute erinnern.

Die Stimmlaute erweisen sich hier nicht nur als Strukturelemente, sondern auch als Ausdrucks- und Bedeutungsträger in einer Komposition, die der Komponist ausdrücklich als Memorial für politische Gefangene deklariert hat.
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